Komm! Ins Offene, Freund!
Gedanken zum Thema „Offener Unterricht und WEB 2.0“
anlässlich des ZUM-Mitgliedertreffens in Mainz am 12. November 20111: Piratenpartei und Zum-Treffen:
Der Erfolg der Piratenpartei wird damit erklärt, dass in den etablierten Kreisen das WEB 2.0 zwar vorwiegend von seiner problematischen, gefährlichen Seite thematisiert wird. Größere Teile der jungen Öffentlichkeit sehen das WEB 2.0 aber anders, nämlich von seinen positiven Potenzialen her, von dem her, was es ihnen möglich macht!
Wir ZUM-ler sehen das auch so, wir machen uns diese Perspektive schon lange zu eigen, und die Leute und Initiativen, die heute und hier zusammengekommen sind, haben gemeinsam, dass sie für die positiven Aspekte des Internets Ideen, Materialien und Technik beisteuern.
2: Nicht Geräte und nicht Plattformen, sondern Schüler-Persönlichkeiten
Wenn man nun in unserem Zusammenhang über Schule und Unterricht nachdenkt, läuft man schnell Gefahr, beides von den Geräten her zu denken, die uns neuerdings immer einfacher zur Verfügung stehen. Ebenso auch von den Plattformen her, auf denen wir und vor allem die Jugendlichen sich bewegen. Das ist wichtig und höchste Zeit, aber auch eine riskante Verengung. Um dieser Horizont-Verengung zu entgehen, hilft es, sich darüber klar zu werden,
- welche Persönlichkeiten und Persönlichkeitsmerkmale, welche Tugenden und welche Haltungen wir für wünschenswert halten?
- Welchen Beitrag wir Blogger, ZUM-ler, Twitterer, Googler und Sozialnetzwerker dazu leisten wollen/können?
- In welchem Umfang neue Technologien, Internetangebote und Geräte uns dabei helfen - oder auch stören?
Als Lehrer an einem Gymnasium, das den Namen Friedrich Hölderlins trägt, möchte ich auch mit Hölderlin einsteigen! Es gibt von ihm ein Gedicht (Hymne oder Ode, egal, Hauptsache Hexameter) mit dem Titel: Der Gang aufs Land, das beginnt so:
- Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter [...] und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer
Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.
Denn nicht wenig erfreut, was wir vom Himmel gewonnen ... (1801)
Ohne Zweifel hat der geniale Friedrich H. in seiner Seher-Qualität („Was bleibet, stiften die Dichter“) nicht nur die „bleierne Zeit“ und unser heutiges Novemberwetter vorausgeahnt, sondern auch die „Cloud“. Und vor allem hat er uns ein großartiges Motto vermacht. Begeben wir uns also mutig „ins Offene“!
4: Die Ausgestaltung des Offenen
Ich möchte den Begriff des Offenen Unterrichts aus der Perspektive der digitalen Medien betrachten und um einige Aspekte erweitern. Die nachfolgenden Überlegungen könnten dann unter der Fragestellung stehen, welchen Beitrag unsere Aktivitäten und Initiativen zu dieser „Offenheit“ und „Öffnung“ leisten sollen.
Die Vorstellungen vom Offenen oder Offeneren Unterricht (Bovet/Huwendiek: Leitfaden Schulpraxis, Cornelsen 2000 S. 74) beschränken sich immer noch sehr auf den Klassenraum und den vorgegebenen schulischen Zeitrahmen, z.B. die Unterrichtsstunde. Zeitliche und räumliche Erweiterungen sind zwar in Projekt- und Freiarbeit enthalten, insgesamt verbleiben aber die Vorstellungen im Denken der vor-digitalen Welt, also der 80er Jahre. Bezogen auf die Unterrichtsmethodik der 60er und 70er-Jahre waren Forderungen nach Gruppenarbeit, Projektarbeit, Stationenlernen und ähnlichem natürlich ein Fortschritt. Daraus hat sich heute ein standardisierter Stundenablauf entwickelt, der mindestens 10 Minuten Gruppen- oder Partnerarbeit enthält, im aktuellen Doppelstundenmodell darf es dann auch ein bisschen länger oder mehr sein.
Richtet man den Blick auf die Potenziale, die dem Lernen und Lehren durch die digitalen Medien und insbesondere WEB 2.0 zur Verfügung stehen, dann eröffnen sich aber ganz andere Perspektiven für offenen Unterricht:
1. Da ist zuerst einmal die räumliche Öffnung
- aus dem Klassenzimmer, sogar aus dem Schulgebäude hinaus und
- hinein ins Internet, in die digitale Welt, mit ihren etwas anderen Verkehrsregeln und Kommunikationsformen.
2. Dann ist da die zeitliche Öffnung, über den Stundenplan-regulierten Rhythmus hinaus
- in die Nachmittags-, Abend- und Nachtstunden, in das Wochenende und die so genannte unterrichtsfreie Zeit hinein.
- Alles ist Lernzeit, der ganze Tag, jeder Tag kann für die Kommunikation von Lehrenden und Lernenden genutzt werden.
3. Offener Unterricht wird auch öffentlicher Unterricht bedeuten:
- In Blogs und Micro-Blogs, in Wikis, Foren und Communities kann Unterricht geplant, reflektiert und aufgearbeitet werden.
- Die Zahl der Mitleser kann größer sein als die der Mitarbeiter, die Mitleser befinden sich in anderen Kontexten, das kann voller Überraschungen sein, Missverständnisse sind nicht ausgeschlossen.
- Es können sich dadurch aber auch andere Formen der Zusammenarbeit, andere Zusammensetzungen von Lerngruppen bilden.
4. Dem öffentlichen Unterricht entspricht der veröffentlichte Unterricht, in dem Arbeitsergebnisse als Publikationen verstanden und Arbeitsprozesse für Außenstehende nachvollziehbar gemacht werden:
- Hausaufgaben, Protokolle, Referate, Handouts und Projektergebnisse werden im Internet zur Verfügung gestellt;
- daraus könnte für alle Beteiligten eine größere Ernsthaftigkeit und ein höherer Verpflichtungscharakter zum inhaltlich sauberen und rechtlich verantwortungsbewussten Arbeiten erwachsen.
- Dafür sind Wikis besonders geeignet. Gute Beispiele findet man in den Schulwikis der ZUM-Wiki-Family.
- Und ganz ins Offene gedacht: So wie sich z.B. Christian Spannagel sich als „öffentlicher Wissenschaftler“ versteht (http://de.wikiversity.org/wiki/Benutzer:Cspannagel) , so könnte sich die Lehrkraft als öffentlich Lehrender“ definieren, der sich in der Schülerschaft Mitautoren für seinen Unterricht sucht.
5. Die Lehrer-Schüler-Beziehung öffnet sich in Richtung Gegenseitigkeit und Gleichwertigkeit.
- Ich mache mich offen, indem ich mir in die Karten sehen lasse, meine Arbeitsweise und Ziele offenlege, Kontrolle zurücknehme, meine Absichten begreifbar und mich angreifbar mache.
- Lehrende und Lernende sitzen im selben Boot (wenn auch nicht mehr im selben Klassenzimmer!), das bringt sie einander näher, ändert aber wenig an der Rollenverteilung von Kapitän und Mannschaft. Gelegentlicher Rollentausch muss angestrebt werden.
- Hier ein kleiner Exkurs zu einem lesenswerten Blogeintrag von Herrn Larbig zum Thema: „Kompetenzorientiert unterrichten“ (19. November 2010). Kompetenzorientierung wird darin am Beispiel von Aufgabenstellungen (Stichwort: „echte Aufgaben“) diskutiert. Das ist spannend, aber im Hinblick auf offenen Unterricht noch nicht alles. Kompetenzen werden durch Feedback erworben! Ein Schüler erhält hilfreiche Rückmeldung über seine Arbeitsschritte und wird dadurch zur Selbstreflexion angeregt. Das muss auch nicht allein der Lehrer machen. Qualifizierte (d.h. kriterienbasierte) Feedbacks können von Mitschülern kommen, und diese müssen nicht einmal in der gleichen Klasse oder Schule sein. Dafür sind nun genau WEB 2.0-Plattformen geeignet, sie haben die Interaktion, das Rückmelden und Kommentieren als wesentliche Bestandteile ihrer Funktionsweise und ihres Selbstverständnisses. Das bedeutet auch: Lehrende und Lernende können gleichermaßen kompetente „Andere“ sein.
6. Die Öffnung in Richtung Unterrichts-Material: Alles kann zum Unterrichtsmaterial werden. Hier sind wir im Zentrum einer heißlaufenden Diskussion angelangt, hat doch jüngst die UNESCO eine Empfehlung für freie Lehrmaterialien ausgesprochen. Die Argumentation ist zwar noch auf den akademischen Bereich bezogen, nichtsdestotrotz aber von Belang:
„Das über 20 Seiten starke Papier Guidelines for Open Educational Resources (OER) in Higher Education (PDF-Datei) argumentiert, dass die Zahl der Studierenden von derzeit 165 Millionen bis 2025 auf über 260 Millionen Menschen anwachsen wird, ohne dass mit einer angemessenen Erhöhung der Ausgaben für Bildung zu rechnen sei.Hier spielt uns die augenblicklich aufgeflammte Diskussion um die Open Educational Resources (OER) in die Hände bzw. Tastatur; tatsächlich ist es sehr gut, hier Überlegungen anzustellen und zwar in Richtung Kooperation und Koordination der Internet-Individualisten und WEB2.0-Aktivisten. Eine digitale Bibliothek von Unterrichtsideen und -materialien ist eine quasi utopische Angelegenheit, vergleichbar der Wikipedia, nur schwieriger, und benötigt vor allem Kommunikationsstrukturen. Die technische Seite ist wahrscheinlich die einfachste.
Ein Ausweg aus der drohenden Misere sei die verstärkte Verwendung freier Lehrmaterialien (Open Educational Resources, OER), die entweder Public Domain oder unter einer Lizenz im Creative-Commons-Stil stehen, die eine Weiterverwendung erlauben. Derartige offene Lizenzen seien eine Lösung, um die Rechte von Autoren in einer Zeit zu schützen, in der Inhalte sehr leicht digitalisiert und kopiert werden könne – an die Stelle des "alle Rechte vorbehalten" beim klassischen Copyright trete hier ein rechtlicher Rahmen, der mehr Flexibilität erlaube. In Verbindung mit der modernen Kommunikations- und Computertechnik und sozialen Netzen böten offene Lizenzen die Möglichkeit, Lehrmaterial kollaborativ zu entwickeln und vorhandene Materialien an lokale Bedürfnisse anzupassen, ohne aufwendige Lizenzverhandlungen führen oder Arbeit doppelt tun zu müssen.“ (Unesco empfiehlt freie Lernmaterialien)
Zwei Schritte scheinen mir sofort machbar, um ein Terrain zu besetzen oder einen Anspruch zu markieren, und da hat Torsten Larbig schon starke Impulse gegeben. (http://herrlarbig.de/2011/11/08/oer-offene-bildungsmedien-ich-will-taten-sehen-update-zu-schultrojaner/). Es gilt
- Linksammlungen bereitzustellen, die auf schon vorhandenes Unterrichtsmaterial verweisen, dies ordnen und maßvoll kommentieren,
- eine Kennzeichnung, ein Logo, für das Material und die Linksammlungen zu entwerfen: Offener Bildungsinhalt (OER) als Markenzeichen!
7. Öffnung in Richtung OpenSource
- Zum offenen Lernen gehört also die OpenSource-Idee, die Philosophie des freien Zuganges und der kontinuierlichen Veränderbarkeit von Arbeitsmitteln, auf die man sich einstellen muss, an der man auch teilhaben kann.
- Ebenso ein Lizenzrecht, das geistiges Eigentum und Kreativität schützt und gleichzeitig deren Ergebnisse nicht exklusiv macht. Die Creative Commons Vereinbarungen sind hier hilfreich.
8. Zum Verständnis von offenem Unterricht und offener Schule gehören dann auch die Offenen Internet-Plattformen.
- Die Alternative zwischen Moodle und lo-net und Ilias einerseits und Blogs und Wikis andererseits wäre dann gar keine mehr: Moodle ist ein Programm-Paket, das zwar nominell alles Mögliche erlaubt und in sich aufzunehmen vermag, im End-Effekt aber sehr schnell lehrerzentrierten Unterricht und hierarchisch strukturiertes Lerner-Lehrer-Verhältnis reproduzieren kann.
- Als Grundregel würde ich formulieren: ein interessierter User sollte ohne Passwort mindestens lesen können, für das Schreiben mag dann ein Registrier- und Authentifizierzwang angemessen sein.
9. Überwinden wir den Allzweck-Computerraum, der alle Bedürfnisse und Aufgaben eines entwickelten Schulbetriebes meistern muss, der hochkomplizierte Konfigurationen und Sicherheitsvorrichtungen benötigt und daran oft scheitert.
- Lassen wir für genau definierte Lernszenarien die Medien zu, über die die Lerner schon verfügen: Laptops, Netbooks, Tablet-PCs, Smartphones ...
- Vergessen wir die Computerräume mit ihren pädagogischen Netzen und Kontroll-Mechanismen und machen wir den Unterricht offen für die Lernmittel in der Schülerhand.
10. Den Google-verengten Horizont verhindern und darüber hinaus und dahinter schauen lernen - sich nicht begnügen mit dem, was das Netz uns auf den ersten Blick liefert. Hier möchte ich aus einem Zeitungsartikel von Peter Glaser aus dem Jahre 2006 zitieren:
„Bildung heißt heute, zu wissen, was sich hinter dem Google-Suchschlitz befinden könnte, zu wissen, was es zu wissen gibt. und auch zu wissen oder zumindest abschätzen zu können, welche Informationen und Quellen vertrauenswürdig sind. Das zu lernen sollte heutzutage zur Allgemeinbildung gehören. (...) Nun ist der Witz von dem Mann, der nur ein Buch hat, Wirklichkeit geworden. Das Buch heißt Google, und es wird immer dicker. Seine Dienste bieten genug Komfort, dass ein Großteil der Netznutzer gar nicht erst nach Alternativen sucht - die durchaus vorhanden sind. Es gibt eine Menge Informationen, die einem keine Suchmaschine liefern wird.“ (Das Orakel unseres Universums - Google verändert die Welt", Stuttgarter Zeitung 10.6.2006)Das bedeutet, dass wir uns über die Grenzen des Google-Kosmos verstärkt Gedanken machen, dass wir überlegen,
- wie wir uns weitere Horizonte bewahren und den „digital natives“ weitere Horizonte vermitteln können als die medial naheliegenden,
- wie wir an das Wissen kommen, das nicht gleich auf dem Bildschirm erscheint und von undurchsichtigen Algorithmen vorstrukturiert wurde.
Jede dieser zehn Öffnungen verlangt nach Differenzierungen, Beispielen und Rechtfertigungen. Manches ist Zukunftsmusik oder wird sich als undurchführbar, vielleicht auch unwichtig erweisen.
Nicht wenige Elemente sind aber auch schon Realität: Klassen legen E-Mail-Listen an, bilden digitale Arbeitsgruppen, LehrerInnen lassen sich Protokolle, Handouts, Hausaufgaben zumailen, kommunizieren auch mit Eltern, Kollegen, Schulleitung über E-Mails oder in (noch geschlossenen) virtuellen Räumen. Es wird experimentiert, kommuniziert und es werden Erfahrungen gesammelt.
Überall öffnen sich auch Perspektiven in Richtung selbst verantwortetes Lernen, individuelle Betreuung und Förderung, Umgang mit Heterogenität,
- wenn z.B. per E-Mail-Korrespondenz eine gezielte Rückmeldung auf eine individuelle Frage gegeben wird,
- wenn in einem Wiki Schüler die Schreibprodukte ihrer Mitschüler im Diskussions-Feld gewissenhaft kommentieren,
- wenn Schüler im Team einen Arbeitsauftrag erfüllen und dabei ihre eigenen Lösungswege und Darstellungsformen finden
- wenn Schüler Themen-Portfolios und Doku-Mappen entsprechend ihrer individuellen Stärken gestalten können
- und so weiter.
- Wie steht es um die didaktisch-methodische Aufarbeitung dieser „Öffnungen“ durch WEB 2.0? Wer leistet diese: Die Blogger, die Universitäten, die Schulen, die Ausbildungsseminare, der LehrerInnen-Schwarm?
- Wie müssen die Plattformen, Communities, Institutionen aussehen, um die neuen Anforderungen, die da heißen: differenzierter Unterricht in heterogenen Klassen in neuen Schulformen (Einheits-, Gemeinschafts-, Stadtteilschulen), gerecht zu werden?
- Droht endgültig die Grenzverwischung zwischen Arbeitszeit und Freizeit? Sitzt die Lehrkraft ab jetzt auch noch nachts am Computer und kommuniziert, publiziert, redigiert und gibt Feedback per E-Mail, Wiki, Blog und Twitter?
- Und zu guter Letzt: Nehmen wir uns nicht zu viel vor? Sind wir Burn-Out-Kandidatinnen und Kandidaten?
Klaus Dautel, ZUM.DE
12. November 2011
Auch als Blogbeitrag veröffentlicht bei CSpannagel, Dunkelmunkel & Friends
Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz Themen-gerecht sein sollte.