1633 - 1642. Galileo Galilei lebt in einem Landhaus in der Nähe von
Florenz. Bis zu seinem Tod ein Gefangener der Inquisition. Die "Discorsi".
In einem Landhaus nahe Florenz wird der halbblinde Galilei von der jetzt
40jährigen Virginia versorgt und von einem Mönch bewacht. Ganz auf sich
gestellt experimentiert er mit Holzkugeln über die Bewegung von Körpern.
Zwei Gänse von ungenannten Gönnern werden ihm überbracht. Er scheint Mühe
zu haben die ihm hingehaltenen Gänse zu sehen, dann aber gibt er seiner
Tochter genaue Anweisungen für deren sofortige schmackhafte Zubereitung;
sein Hunger ist immer noch groß.
Er diktiert seiner Tochter einen jener wöchentlichen Briefe an den
Erzbischof, in denen er durch Stellungnahmen zu Fragen der Zeit seine
uneingeschränkte Kirchentreue bekundet. Virginia, ganz in ihrer Rolle als
treusorgende Tochter und fromme Hüterin ihres Vaters aufgehend, hält das
demonstrative Einverständnis Galileis mit den Positionen der Kirche für
Beweise seiner Loyalität.
Da erscheint Andrea Sarti, jetzt ein Mann in den mittleren Jahren, im Haus
und wird von Virginia nur ungern zu Galilei gelassen. Im nun folgenden
Gespräch dem Virginia gegen den Willen des Vaters beiwohnt, drückt
Galilei mehrfach seine Zufriedenheit darüber aus, sich nunmehr in
kirchlicher Obhut zu befinden und stellt sich so dem Gast als ein mit der
Obrigkeit ganz und gar versöhnter Mensch dar. Dies drückt sich auch in der
Art und Weise aus, wie er über seine eigenen früheren Ansichten spricht:
"verurteilte Lehren", "die Bahn des Irrtums", "meine seelische
Wiedergenesung", wodurch er auch in der Wortwahl sich die Position seiner
ehemaligen Gegner zu eigen macht. Andrea Sarti, der als Physiker über
Hydraulik arbeitet, reagiert von Anfang äußerst an vorsichtig und kühl:
Seinen Besuch stellt er als Auftragerfüllung dar, nicht als persönlichen
Wunsch. Das Gespräch gleicht einem Sich-Belauern und ist von eisiger Kälte
und Vorsicht geprägt; bis Galilei seine Tochter in die Küche zu den
Gänsen schickt.
Nun, unter vier Augen, eröffnet Galilei seinem ehemaligen Schüler, dass er
heimlich und nächtens eine Abschrift seiner Studien über die Bewegung, die
"Discorsi", hergestellt habe, eine Schrift, auf die, nach Andreas Worten,
die Fachwelt Europas schon lange warte. Andrea holt das Manuskript aus dem
Globus, liest ein paar Zeilen und bricht in Begeisterung aus: "Dies ändert
alles. Alles." Andrea sieht plötzlich alle bisherigen Ungereimtheiten und
Fragwürdigkeiten in Galileis Verhalten im Lichte eines neuen strategischen
Ziels: Der Rettung der Wahrheit vor dem Feind. Dieses Ziel rechtfertigt
alle Mittel, vom ersten Fernrohr-Schwindel bis zum Widerruf vor der
Inquisition: Eine neue Ethik ist geboren! Um das "eigentliche Geschäft der
Wissenschaft" betreiben zu können ist jedes Mittel recht, die Frage ist
nur, was das Geschäft der Wissenschaft im eigentlichen Sinne sei.
Der folgende Dialog hat genau diese Frage zum Inhalt:
Sartis Antwort ist kurz und bündig: Sinn und Zweck der Wissenschaft ist die
Vermehrung von Wissen, das Wissen um des Wissens selbst, auf die
zugespitzteste Formel gebracht: "Die Wissenschaft kennt nur ein Gebot: den
wissenschaftlichen Beitrag." Andrea vertraut auf das Wissen als
Selbstzweck, auf die umstürzende Wirkung der Erkenntnis von
Naturzusammenhängen, die die Erde bewohnbar macht und den Himmel abträgt.
Andrea wiederholt damit Positionen, die Galilei selbst mehrfach vertreten
hat, als er z.B. den Wissenschaftler von der Verantwortung für die
Ergebnisse seiner Forschungen pauschal freisprach (Bild 4, Bild 11).
Galilei, der den enthusiastischen Auslassungen seines ehemaligen
Musterschülers mit Skepsis zugehört hat, nimmt nun seinerseits noch einmal
die alte Rolle des Lehrers ein, um Sarti mit autoritativem Gestus "ein
paar Hinweise darüber zu geben, was die Wissenschaft alles angeht." Es
folgt die "große Belehrungsrede" (Brecht), in welcher Galilei dem
Wissenschaftsverständnis Sartis mit erbarmungsloser Schärfe entgegentritt
und damit sich selbst, seine bisherigen Anschauungen und schließlich sein
Verhalten vor der Obrigkeit kritisiert. Der Wissenschaftler könne kein
anderes Ziel haben, als "die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu
erleichtern". Dies tun neue Maschinen, neue Entdeckungen an sich noch
keineswegs, im Gegenteil, sie können sich zum Schrecken der Menschheit
entwickeln.
Galileis Schlussfolgerungen sind nun folgende:
- Dass er vor der Inquisition widerrufen hat, ist nach den Maßstäben
seines neuen Wissenschaftsverständnisses moralisch verwerflich, ein Verrat
an der Wissenschaft und der Menschheit.
- Er hätte widerstehen müssen, allerdings nicht um der Wahrheit einiger
wissenschaftlichen Behauptungen über die Bewegung von Gestirnen willen,
sondern um das neue Wissen nicht allein den Machthabern auszuliefern.
- Diese werden es verheimlichen, gebrauchen oder missbrauchen, immer
werden sie es aber zu allererst zur Aufrechterhaltung ihrer Macht
einsetzen und nicht zur Erleichterung der menschlichen Existenz.
- Er, Galilei befand sich zum Zeitpunkt des Widerrufes am Beginn einer
neuen Zeit, in welcher die Wissenschaft am Scheideweg stand: Entweder
verhält sie sich helfend und heilend den Mühseligen und Beladenen
gegenüber ("Hippokratischer Eid"), oder sie entmachtet sich zum
willfährigen Instrument der Herrschenden ("Geschlecht erfinderischer
Zwerge").
- Mit seinem Widerruf hätte er es in der Hand gehabt, zum Beginn eines
"neuen Zeitalters" der Idee einer verantwortungsbewussten Wissenschaft zum
Durchbruch zu verhelfen, denn die "neue Kunst des Zweifelns" hatte beim
Volk Sympathien und Hoffnung auf Änderung hervorgerufen. Sein Widerruf
aber habe die Wissenschaft von den Marktplätzen verschwinden lassen und
das Wissen in die Hände der Herrschenden gelegt.
- Eine Wissenschaft ohne Verantwortungsbereitschaft für das Wohl aller Menschen wird eines Tages vom Volk mit Furcht und Entsetzen betrachtet werden.
Soweit Galileis Argumentation, die Bezüge zum 20. Jahrhundert werden
deutlich, überdeutlich gar, wenn Galilei dem nach Holland aufbrechenden
Andrea zum Geleit den Rat gibt, in Deutschland besonders vorsichtig zu
sein, wenn er es, "die Wahrheit unter dem Rock", durchreise.
Thematik:- Die Wissenschaft, das Wissen und die Verantwortung für die
Folgen
- Die Ambivalenz der neuen Zeit: Hoffnung und (Ent-)Täuschung
Motive: Verstellung und Wahrheit
Arbeitsaufträge:
- Bearbeiten Sie mit Lineal und Bleistift den Wortwechsel zwischen Andrea und Galilei, nachdem Virginia den Raum verlassen hat. Arbeiten Sie die beiden Anschauungen vom Sinn und Zweck der Wissenschaft heraus.
Tafelanschrieb
ÜBER DIE VERANTWORTUNG DES WISSENSCHAFTLERS
/ \
/ \
Andreas Position \
Der Wissenschaftler ist allein dem \
Sieg der wissenschaftlichen Vernunft \
verantwortlich, die Produktion und \
Durchsetzung von neuem Wissen ist
das Hauptziel Demgegenüber Galileis neue Einsicht:
| Der verantwortungsbewusste
| Wissenschaftler ist der
Wertfreiheit und WAHRHEIT und der MENSCHLICHEN EXISTENZ
Unabhängigkeit von verpflichtet
herrschenden Weltbildern d.h.
und Mächten - keine Wertfreiheit in Bezug die Verwertung
von wiss. Erkenntnissen
- eine verbindliche Wissenschaftsethik
(Eid des Hippokrates)
- die moralische Vorbildfunktion des Forschers
(Standhaftigkeit und Tapferkeit)
|| ||
\/ ||
GEFAHREN: \/
Betriebsblindheit und moralische
Gleichgültigkeit: GALILEIS VERMÄCHTNIS:
Der Wissenschaftler auf dem Weg Keine Forschung ohne soziale Verantwortung!
zum Technokraten und Fachidioten
|
- Rekonstruieren Sie Galileis Argumentation und arbeiten Sie heraus,
warum er seinen Widerruf als Verrat betrachtet.
(Hinweise: Siehe obige Szenen-Analyse)
- Galileis Verhalten in dieser Szene ist gekennzeichnet durch Vorsicht
und Verstellung.
Gliedern Sie die Szene und arbeiten Sie heraus,
a) wem gegenüber Galilei sich auf welche Weise verstellt und
b) wie sich das in Sprache und Gestus auswirkt.
c) In den Notaten zu dieser Szene schreibt Brecht, der Zuschauer solle
erkennen, dass Galilei "jetzt in einer Hölle" sitzt. Worin besteht diese
Hölle und was hat dies mit dem Thema Verstellung zu tun?
Lösungshorizont:
Die Szene kann in fünf Abschnitte eingeteilt werden:
- Galilei verstellt sich vor seiner Tochter Virginia und dem Mönch,
indem er fast völlige Blindheit vortäuscht:
Virginia: "Kannst du es nicht sehen?"
Galilei: "Nein!".
- Galilei verstellt sich vor dem Erzbischof, indem er die Haltung der
Obrigkeit gegenüber streikenden Arbeitern mit Bibelzitaten rechtfertigt.
Galilei: "Du meinst nicht, dass eine Ironie hineingelesen werden könnte?"
Virginia: "Nein, der Erzbischof wird selig sein."
- Galilei verstellt sich vor Andrea, indem er sich demonstrativ zu
seinem Widerruf bekennt.
Galilei: "Durch die Tiefe meiner Reue habe ich mir die Gunst meiner Oberen
so weit erhalten können, dass É."
- In einem unbewachten Augenblick übergibt er Andrea die "Discorsi", dies
allerdings nicht in eigenen Worten, sondern in der Sprache der Gegenseite,
der Obrigkeit: "meine Rückfälle", "die Krätze", "eingewurzelte Laster",
"Sklave meiner Gewohnheit". Selbst hier kann Galilei aus der Gewohnheit
des indirekten, verstellten Sprechens nicht ausbrechen, diese scheint ihm
schon zur eigenen Sprache geworden zu sein.
Andrea veranlasst dieser Vorgang jedoch, seine bisherige kalte
Reserviertheit aufzugeben und Galileis moralisch immer schon fragwürdige
Verhaltensweisen im Lichte einer neuen "Ethik", einer solchen der
zweckgerichteten Verstellung, zu preisen.
- Dies provoziert Galilei zu seiner "großen Belehrungsrede" (Brecht, Hecht
S.108), in welcher er sein Verhalten als Verrat an der volksnahen Wissenschaft bezeichnet. Er hat eine historische Chance verpasst und der Wissenschaftsgemeinde ein schlechte Vorbild gegeben. Dafür muss er büßen, was ist seine Strafe? Die andauernde Verstellung gegenüber allen Menschen, die ihn umgeben, auch seiner eigenen Tochter, und dies bis zum Lebensende, ohne Hoffnung auf Änderung. Eine letzte große Umkehrung liegt hier vor dem Zuschauer ausgebreitet:
Galilei, der fanatische Wahrheitssucher und -finder, muss sein Leben in für ihn erniedrigender Falschheit zu Ende bringen, dies bei vollem Bewusstsein, ohne "die Gabe des Intellekts verspielt zu haben".
Schreibanlass:
Versetzen Sie sich in Sartis Lage: Vier Jahre nach dem Widerruf besucht er
seinen ehemaligen Ziehvater und Lehrmeister. Er wird - wenn auch ungern -
zu Galilei hereingelassen und sein Blick fällt auf den fast blinden alten
Mann. Was mag ihm bei diesem Anblick durch den Kopf gegangen sein?
- Schildern Sie diese Gedanken und Gefühle in einem inneren Monolog.
Beachten Sie dabei,
a) was Galilei für Andrea Sarti bedeutet hat,
b) was dieser Begegnung vorausgegangen ist
c) mit welchen Worten sie voneinander gegangen sind.
d) was Sarti bewogen haben mag, Galilei trotz alledem zu besuchen.
Fangen Sie z.B. so an: "Er ist alt geworden und noch dicker. Und wie er mit seinen schwachen
Augen ins Leere stiert. Das geschieht ihm recht, jetzt ist es aus mit der
Lust am Denken und Forschen ..."
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