Die Welträthsel
Gemeinverständliche Studien über Monistische
Philosophie.
von
Ernst Haeckel
Professor an der Universität Jena.
Volks-Ausgabe
171.-180. Tausend
Mit einem Nachworte: Das Glaubensbekenntniß der Reinen
Vernunft.
Alfred Kröner Verlag in Stuttgart.
Pieter'sche Hofbuchdruckerei Stephan Seibel & Co. in Altenburg.
Vorwort zur ersten Auflage
(1899)
_______
Die vorliegenden Studien über monistische Philosophie sind
für die denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten
aller Stände bestimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des
neunzehnten Jahrhunderts, an dessen Ende wir stehen, gehört das
lebendige Wachstum des Strebens nach Erkenntniß der
Wahrheit in weitesten Kreisen. Dasselbe erklärt sich einerseits
durch die ungeheuren Fortschritte der wirklichen Natur-Erkenntniß in diesem merkwürdigsten Abschnitte der
menschlichen Geschichte, andererseits durch den offenkundigen
Widerspruch, in den dieselbe zur gelehrten Tradition der
"Offenbarung" gerathen ist, und endlich durch die entsprechende
Ausbreitung und Verstärkung des vernünftigen
Bedürfnisses nach Verständniß der unzähligen
neu entdeckten Thatsachen, nach klarer Erkenntniß ihrer
Ursachen.
Den gewaltigen Fortschritten der empirischen Kenntnisse in unseren
"Jahrhundert der Naturwissenschaft" entspricht keineswegs eine
gleiche Klärung ihres theoretischen Verständnisses und jene
höhere Erkenntniß des kausalen Zusammenhanges aller
einzelnen Erscheinungen, die wir mit einem Worte Philosophie
nennen. Vielmehr sehen wir, daß die abstrakte und
größtentheils metaphysische Wissenschaft, welche auf
unseren Universitäten seit Jahrhunderten als "Philosophie" gelehrt
wird, weit davon entfernt ist, jene neu erworbenen Schätze der
Erfahrungswissenschaft in sich aufzunehmen. Und mit gleichem
Bedauern müssen wir auf der anderen Seite zugestehen, daß
die meisten Vertreter der sogenannten"exakten Naturwissenschaft" sich
mit der speziellen Pflege ihres engeren Gebietes der Beobachtung und
des Versuchs begnügen und die tiefere Erkenntniß des
allgemeinen Zusammenhanges der beobachteten Erscheinungen - d. h.
eben Philosophie! - für überflüssig halten.
Während diese reinen Empiriker "den Wald vor Bäumen
nicht sehen", begnügen sich jene Metaphysiker mit dem
bloßen Begriffe des Waldes, ohne seine Bäume zu sehen. Der
Begriff der "Naturphilosophie", in welchem ganz
naturgemäß jene beiden Wege der Wahrheitsforschung, die
empirische und die spekulative Methode, zusammenlaufen, wird sogar
noch heute in weiten Kreisen beider Richtungen mit Abscheu
zurückgewiesen.
Dieser unnatürliche und verderbliche Gegensatz zwischen
Naturwissenschaft und Philosophie, zwischen den Ergebnissen der
Erfahrung und des Denkens, wird unstreitig in weiten gebildeten Kreisen
immer lebhafter und schmerzlicher empfunden. Das bezeugt schon der
wachsende Umfang der ungeheuren populären
"naturphilosophischen" Literatur, die im Laufe des letzten halben
Jahrhunderts entstanden ist. Das bezeugt auch die erfreuliche Thatsache,
daß trotz jener gegenseitigen Abneigung der beobachtenden
Naturforscher und der denkenden Philosophen dennoch hervorragende
Männer der Wissenschaft aus beiden Lagern sich gegenseitig die
Hand zum Bunde reichen und vereinigt nach der Lösung jener
höchsten Aufgabe der Forschung streben, die wir kurz mit einem
Worte als "die Welträthsel" bezeichnen.
Die Untersuchungen über diese "Welträthsel", welche in in
der vorliegenden Schrift gebe, können vernünftiger Weise
nicht den Anspruch erheben, eine vollständige
Lösung derselben zu bringen; vielmehr sollen sie nur eine
kritische Beleuchtung derselben für weitere gebildete
Kreise geben und die Frage zu beantworten suche, wie weit wir uns
gegenwärtig deren Lösung genähert haben. Welche
Stufe der Erkenntniß der Wahrheit haben wir am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche
Fortschritte nach diesem unendliche entfernten Ziele haben wir im
Laufe desselben wirklich gemacht?
Die Antwort auf diese großen Fragen, die ich hier gebe, kann
naturgemäß nur subjektiv und nur theilweise richtig
sein; denn meine Kenntnisse der wirklichen Natur und meine Vernunft
zur Beurtheilung ihres objektiven Wesens sind beschränkt, ebenso
wie diejenigen aller anderen Menschen. Das Einzige, was ich für
dieselben voll in Anspruch nehme, und was auch meine entschiedensten
Gegner anerkennen müssen, ist, daß meine monistische
Philosophie von Anfang bis zu Ende ehrlich ist, d. h. der
vollständige Ausdruck der Ueberzeugung, welche ich durch
vieljähriges eifriges Forschen in der Natur und durch
unablässiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer
Erscheinungen erworben habe. Diese naturphilosophische
Gedankenarbeite erstreckt sich jetzt über ein volles halbes
Jahrhundert, und ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl
annehmen, daß sie reif im menschlichen Sinne ist; ich bin
auch völlig gewiß, daß diese "reife Frucht" vom
Baume der Erkenntniß für die kurze Spanne des Daseins, die
mir noch beschieden ist, keine bedeutende Vervollkommnung und keine
prinzipiellen Veränderungen erfahren wird.
Alle wesentlichen und entscheidenden Anschauungen meiner
monistischen und genetischen Philosophie habe ich schon vor 33 Jahren
in meiner "Generellen Morphologie der Organismen" niedergelegt,
einem weitschweifigen und schwerfällig geschriebenen Werke,
welches nur sehr wenige Leser gefunden hat. Es war der erste Versuch,
die neubegründete Entwickelungslehre für das ganze Gebiet
der organischen Formen-Wissenschaft durchzuführen. Um
wenigstens einen Theil der neuen, darin enthaltenen Gedanken zur
Geltung zu bringen und um zugleich einen weiteren Kreis von Gebildeten
für die größten Erkenntnißfortschritte unseres
Jahrhunderts zu interessiren, veröffentlichte ich zwei Jahre
später (1868) meine "Natürliche
Schöpfungsgeschichte". Da dieses leichter geschürzte
Werk trotz seiner großen Mängel in neun starken Auflagen
und zwölf verschiedenen Uebersetzungen erschien, hat es nicht
wenig zur Verbreitung der monistischen Weltanschauung beigetragen.
Dasselbe gilt auch wohl von der weniger gelesenen
"Anthropogenie", in welcher ich (1874) die schwierige Aufgabe zu
lösen versuchte, die wichtigsten Thatsachen der menschlichen
Entwickelungsgeschichte einem größeren Kreise von
Gebildeten zugänglich und verständlich zu machen; die
vierte, umgearbeitete Auflage derselben erschien 1891. Einige
bedeutende und besonders werthvolle Fortschritte, welche neuerdings
dieser wichtigste Theil der Anthropogenie gemacht hat, habe ich in den
Vortrage beleuchtet, den ich 1898 "Über unsere
gegenwärtige Kenntniß vom Ursprung des Menschen"
auf dem vierten internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge
gehalten habe (siebente Auflage 1899). Mehrere einzelne Fragen
unserer modernen Naturphilosophie, die ein besonderes Interesse
bieten, habe ich behandelt in meinen "Gesammelten populären
Vorträgen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre"
(1878). Endlich habe ich die allgemeinsten Grundsätze meiner
monistischen Philosophie und ihre besondere Beziehung zu den
herrschenden Glaubenslehren kurz zusammengefaßt in dem
"Glaubensbekenntniß eines Naturforschers: "Der Monismus als
Band zwischen Religion und Wissenschaft" (1892, achte Auflage
1899).
Die vorliegende Schrift über die "Welträthsel" ist die
weitere Ausführung, Begründung und Ergänzung der
Ueberzeugungen, welche ich in den vorstehend angeführten
Schriftten bereits ein Menschenalter hindurch vertreten habe. Ich
gedenke damit meine Studien auf dem Gebiete der monistischen
Weltanschauung abzuschließen.
Der alte, viele Jahre hindurch gehegte Plan, ein ganzes "System der
monistischen Philosophie" auf Grund der Entwickelungslehre
auszubauen, wird nicht mehr zur Ausführung gelangen. Meine
Kräfte reichen dazu nicht mehr aus, und mancherlei Mahnungen
des herannahenden Alters drängen zum Abschluß. Auch ich
bin ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts und will mit dessen
Ende einen Strich unter meine Lebensarbeit machen.
Die unermeßliche Ausdehnung, welche das menschliche Wissen in
Folge fortgeschrittener Arbeitsteilung in unserem Jahrhundert erlangt
hat, läßt es schon heute unmöglich erscheinen, alle
Zweige desselben mit gleicher Gründlichkeit zu umfassen und
ihren inneren Zusammenhang einheitlich darzustellen. Selbst ein Genius
ersten Ranges, der alle Gebiete der Wissenschaft gleichmäßig
beherrschte, und der die künstlerische Gabe ihrer einheitlichen
Darstellung in vollem Maße besäße, würde doch
nicht im Stande sein, im Raume eines mäßigen Bandes ein
umfassendes allgemeines Bild des ganzen "Kosmos" auszuführen.
Mir selbst, dessen Kenntnisse in den verschiedenen Gebieten sehr
ungleich und lückenhaft sind, konnte hier nur die Aufgabe
zufallen, den allgemeinen Plan eines solchen Weltbildes zu entwerfen
und die durchgehende Einheit seiner Teile nachzuweisen, trotz
sehr ungleicher Ausführung derselben. Das vorliegende Buch
über die Welträthsel trägt daher auch nur den
Charakter eines "Skizzenbuches", in welchem Studien von sehr
ungleichen Werthe zu einem Ganzen zusammengefügt sind. Da die
Niederschrift derselben zum Theil schon in früheren Jahren, zum
anderen Theil aber erst in der letzten Zeit erfolgte, ist die Behandlung
leider oft ungleichmäßig; auch sind mehrfache
Wiederholungen nicht zu vermeiden gewesen; ich bitte dieselben zu
entschuldigen.
Indem ich hiermit von meinen Lesern mich verabschiede, spreche ich
die Hoffnung aus, daß ich durch meine ehrliche und gewissenhafte
Arbeit - trotz ihrer mir wohl bewußten Mängel - ein kleines
Scherflein zur Lösung der "Welträthsel" beigetragen habe,
und daß ich im Kampfe der Weltanschauungen manchem ehrlichen
und nach reiner Vernunft-Erkenntniß ringenden Leser denjenigen
Weg gezeigt habe, der nach meiner festen Ueberzeugung allein zur
Wahrheit führt, den Weg der empirischen Naturforschung
und der darauf gegründeten monistischen Philosophie.
Jena, am Ostersonntage, 2. April 1899.
Ernst Haeckel
Inhalt
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I. Anthropologischer Theil:
Der Mensche.
1. Stellung der Welträthsel
2. Unser Körperbau
3. Unser Leben
4. Unsere Keimesgeschichte
5. Unsere Stammesgeschichte
II. Psychologischer Theil:
Die Seele.
6. Das Wesen der Seele
7. Stufenleiter der Seele
8. Keimesgeschichte der Seele
9. Stammesgeschichte der Seele
10. Bewußtsein der Seele
11. Unsterblichkeit der Seele
III. Kosmologischer Theil:
Die Welt.
12. Das Substanz-Gesetz
13. Entwickelungsgeschichte der Welt
14. Einheit der Natur
15. Gott und Welt
IV. Theologischer Theil:
Der Gott.
16. Wissen und Glauben
17. Wissenschaft und Christentum
18. Unsere monistische Religion
19. Unsere monistische Sittenlehre
20. Lösung der Welträthsel
Anmerkungen und Erläuterungen
Nachwort: Das Glaubensbekenntniß der Reinen Vernunft
Erstes Kapitel.
Stellung der Welträthsel.
Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts. Der Kampf der
Weltanschauungen. Monismus und Dualismus.
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Inhalt: Stand der menschlichen Kultur und Weltanschauung am
Schlusse des 19. Jahrhunderts. Fortschritte der Natur-Erkenntniß,
der organischen und anorganischen Naturwissenschaft. Substanz-Gesetz
und Entwickelungs-Gesetz. Fortschritte der Technik und der
angewandten Chemie. Stillstand auf anderen Kultur-Gebieten:
Rechtspflege, Staatsordnung, Schule, Kirche. Konflikt zwischen Vernunft
und Dogma. Anthropismus. Kosmologische Perspektive. Kosmologische
Lehrsätze. Widerlegung des anthropistischen
Größenwahns. Zahl der Welträthsel. Kritik der sieben
'Welträthsel. Wege zu ihrer Lösung. Thätigkeit der
Sinne und des Gehirns. Induktion und Deduktion. Vernunft,
Gemüth und Offenbarung. Philosophie und Naturwissenschaft.
Empirie und Spekulation. Dualismus und Monismus.
Am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem wir heute stehen,
bietet sich dem denkenden Beobachter eines der merkwürdigsten
Schauspiele. Alle Gebildeten sind sich darüber einig, daß
dasselbe in vieler Beziehung alle seine Vorgänger unendlich
überflügelt und Aufgaben gelöst hat, welche in seinem
Anfange unlösbar schienen. Nicht die überraschenden
theoretischen Fortschritte in der wirklichen Natur-Erkenntniß,
sondern auch deren erstaunlich fruchtbare praktische Verwerthung in
Technik, Industrie, Verkehr u. s. w. haben unserem ganzen modernen
Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der
anderen Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geistigen
Lebens und der Gesellschafts-Beziehungen wenige oder gar keine
Fortschritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweisen, oft sogar
leider bedenkliche Rückschritte. Aus diesem offenkundigen
Konflikte entspringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer
Zerrissenheit und Unwahrheit, sondern auch die Gefahr schwerer
Katastrophen auf politischem und socialem Gebiete. Es erscheint daher
nicht nur als das gute Recht, sondern auch als die heilige Pflicht jedes
ehrlichen und von Menschenliebe beseelten Forschers, nach bestem
Gewissen zur Lösung jenes Konfliktes und zur Vermeidung der
daraus entspringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach
unserer Ueberzeugung nur durch muthiges Streben nach
Erkenntniß der Wahrheit geschehen und durch Gewinnung
einer klaren, fest darauf gegründeten,
naturgemäßen Weltanschauung.
Fortschritte der Natur-Erkenntniß. Wenn wir uns den
unvollkommenen Zustand der Natur-Erkenntniß im Anfang des 19.
Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden
Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muß jedem
Sachkundigen der Fortschritt innerhalb desselben erstaunlich groß
erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich
rühmen, daß er innerhalb unsers Jahrhunderts - und
besonders in dessen zweiter Hälfte - extensive und intensive
Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. In der
mikroskopischen Kenntniß des Kleinsten, wie in der teleskopischen
Erforschung des Größten haben wir jetzt unschätzbare
Einsichten gewonnen, die vor hundert Jahren undenkbar erschienen. Die
verbesserten Methoden der mikroskopischen und biologischen
Untersuchungen haben uns nicht nur überall im Reiche der
einzelligen Protisten eine "unsichtbare Lebenswelt" voll unendlichen
Formen-Reichthums offenbart, sondern auch in der winzigen kleinen
Zelle den gemeinsamen "Elementar-Organismus" kennen gelehrt, aus
dessen socialen Zellverbänden, den Geweben, der Körper
aller vielzelligen Pflanzen und Thiere ebenso wie der des Menschen
zusammengesetzt ist. Diese anatomischen Kenntnisse sind von
größter Tragweite; sie werden ergänzt durch den
embryologischen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige
Organismus sich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der
"befruchteten Eizelle". Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete
Zellentheorie hat uns erst das wahre Verständniß
für die physikalischen und chemischen, ebenso wie für die
psychologischen Processe des Lebens eröffnet, jene
geheimnisvollen Erscheinungen, für deren Erklärung man
früher eine übernatürliche "Lebenskraft" oder ein
"unsterbliches Seelenwesen" annahm. Auch das eigentliche Wesen der
Krankheit ist durch die damit verknüpfte Cellular-Pathologie dem
Arzte erst klar und verständlich geworden.
Nicht minder gewaltig sind aber die Entdeckungen des 19. Jahrhunderts
im Bereich der anorganischen Natur. Die Physik hat in allen Theilen
ihres Gebiets, in der Optik und Akustik, in der Lehre vom Magnetismus
und der Elektrizität, in der Mechanik und Wärmelehre die
erstaunlichsten Fortschritte gemacht; und, was wichtiger ist, sie hat die
Einheit der Naturkräfte im ganzen Universum
nachgewiesen. Die mechanische Wärme-Theorie hat gezeigt, wie
eng dieselben zusamenhängen, und wie jede unter bestimmten
Bedingungen sich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektral-Analyse hat uns gelehrt, daß dieselben Stoffe, welche unseren
Erdkörper und seine lebendigen Bewohner zusammensetzen, auch
die Masse der übrigen Planeten, der Sonne und der entferntesten
Fixsterne zusammensetzen. Die Astrophysik hat unsere Weltanschauung
im großartigsten Maßstabe erweitert, indem sie uns im
unendlichen Weltraum Millionen von kreisenden Weltkörpern
nachgewisen hat, größer als unsere Erde, und gleich dieser in
beständiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechsel von
"Werden und Vergehen". Die Chemie hat uns mit einer Masse von neuen
früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus
Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr
siebzig) bestehen, und die zum Theil die größte praktische
Bedeutung in allen Lebensgebieten gewonnen haben. Sie hat uns gezeigt,
daß eines von diesen Elementen, der Kohlenstoff, der wunderbare
Körper ist, welcher die Bildung der unendlich mannigfaltigen
organischen Verbindungen bewirkt und somit die "chemische Basis des
Lebens" darstellt. Alle einzelnen Fortschritte der Physik und Chemie
stehen aber in theoretischer Bedeutung der Erkenntniß des
gewaltigen Gesetzes nach, welches alle in einem gemeinsamen
Brennpunkt vereinigt, des Substanz-Gesetzes. Indem dieses
"kosmologische Grundgesetz" die ewige Erhaltung der Kraft und
des Stoffes, die allgemeine Konstanz der Energie und der Materie im
ganzen Weltall nachweist, ist es der sichere Leitstern geworden, der
unsere monistische Philosophie durch das gewaltige Labyrinth der
Welträthsel zu deren Lösung führt.
Da es unsere Aufgabe sein wird, in den folgenden Kapiteln eine
allgemeine Uebersicht über den jetzigen Stand unserer Natur-Erkenntniß und über ihre Fortschritte in unserem
Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine
Musterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen
größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, welcher
dem Substanz-Gesetz ebenbürtig ist und welcher dasselbe
ergänzt, die Begründung der Entwickelungslehre.
Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von
"Entwickelung" der Dinge gesprochen; daß aber dieser
Begriff das Universun beherrscht, und daß die Welt selbst
weiter nichts ist, als eine ewige "Entwickelung der Substanz", dieser
gewaltige Gedanke ist ein Kind unseres 19. Jahrhunderts. Erst in der
zweiten Hälfte desselben gelangte er zu voller Klarheit und zu
allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen
höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und
zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem
großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er lieferte
uns 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche
der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck
schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren
Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker,
Wolfgang Goethe, schon 1799 prophetisch erfaßt hatte.
Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur "Frage aller Fragen"
geschenkt, zu den großen Welträthsel von der "Stellung des
Menschen in der Natur" und von seiner natürlichen Entstehung.
Wenn wir heute, 1899, im Stande sind, die Herrschaft des
Entwickelungs-Gesetzes - und zwar der "monistischen
Genesis!" - im Gesammtgebiete der Natur klar zu erkennen und sie
in Verbindung mit dem Substanz-Gesetze zur einheitlichen
Erklärung aller Naturerscheinungen zu benutzen, so verdanken
wir dies in erster Linie jenen drei genialen Naturphilosophen; sie
leuchten uns deshalb als drei Sterne erster Größe unter allen
anderen großen Männern unseres Jahrhunderts.
Diesen erstaunlichen Fortschritten unserer theoretischen Natur-Erkenntniß entspricht deren mannigfaltige praktische
Anwendung auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens. Wenn
wir heute im "Zeitalter des Verkehrs" stehen, wenn der internationale
Handel und das Reisen eine früher nicht geahnte Bedeutung
erlangt haben, wenn wir mittelst Telegraph und Telephon die Schranken
von Raum und Zeit überwunden haben, so verdanken wir das in
erster Linie den technischen Fortschritten der Physik, besonders in der
Anwendung der Dampfkraft und Elektricität. Wenn wir durch die
Photographie mit größter Leichtigkeit das Sonnenlicht
zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem
beliebigen Gegenstande zu verschaffen, wenn wir in der Landwirtschaft
und in den verschiedensten Gewerben erstaunliche praktische
Fortschritte gemacht haben, wenn wir in der Medicin durch Chloroform
und Morphium, durch antiseptische und Serum-Therapie die Leider der
Menschheit unendlich gemildert haben, so verdanken wir dies der
angewandten Chemie. Wie sehr wir durch diese und andere Erfindungen
der Technik alle früheren Jahrhunderte weit
überflügelt haben, ist so allbekannt, dajß wir es hier
nicht weiter auszuführen brauchen.
Fortschritte der socialen Einrichtungen. Während wir so
heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortschritte des 19.
Jahrhunderts in der Natur-Erkenntniß und deren praktische
Verwerthung zurückblicken, so bietet sich uns leider ein ganz
anders und wenig erfreuliches Bild, wenn, wir nun andere, nicht minder
wichtige Gebiete dieses modernen Kultur-Lebens in's Auge fassen. Zu
unserem Bedauern müssen wir dan den Satz von Alfred
Wallace unterschreiben: "Verglichen mit unseren erstaunlichen
Fortschritten in den physikalischen Wissenschaften und ihrer
praktischen Anwendung, bleibt unser System der Regierung, der
administrativen Justiz, der National-Erziehung und unsere ganze sociale
und moralische Organisation in einem Zustande der Barbarei."
Um uns von der Wahrheit dieser schweren Vorwürfe zu
überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick mitten in
unser offentliches Leben hinein zu werfen oder in den Spiegel zu
blicken, den uns täglich unsere Zeitung, als das Organ der
öffentlichen Meinung vorhält.
Unsere Rechtspflege. Beginnen wir unsere Rundschau mit der
Justiz, dem "Fundamentum regnorum". Niemand wird behaupten
können, daß deren heutiger Zustand mit unserer
fortgeschrittenen Erkenntniß des Menschen und der Welt in
Einklang sei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richterlichen
Urtheilen lesen, über welche der "gesunde Menschenverstand"
bedanklich das Haupt schüttelt; viele Entscheidungen erscheinen
geradezu unbegreiflich. Wir sehen bei Behandlung dieses
"Welträthsels" ganz davon a b, daß in vielen modernen
Staaten - trotz der auf Papier gedruckten Verfassung - noch
thatsächlich der Absolutismus herrscht, und daß viele
"Männer des Rechts" nicht nach ehrlicher Ueberzeugung urtheilen,
sondern entsprechend dem "höheren Wunsche von
maßgebender Stelle". Wir nehmen vielmehr an, daß die
meisten Richter und Staatsanwälte nach bestem Gewissen
urtheilen und nur menschlich irren. Dann erklären sich wohl die
meisten Irrthümer durch mangelhafte Vorbildung. Freilich
herrscht vielfach die Ansicht, daß gerade die Juristen die
höchste Bildung besitzen: werden sie ja doch gerade deshalb der
Besetzung der verschiedensten Aemter vorgezogen. Allein diese
vielgerühmte "juristische Bildung" ist größtentheils
eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Haupt-Objekt ihrer
Thätigkeit, den menschlichen Organismus, und seine wichtigste
Funktion, die Seele, lernen unsere Juristen nur oberflächlich
kennen; das beweisen z. B. die wunderlichen Ansichen von
"Willensfreiheit, Verantwortung" u. s. w., denen wir täglich
begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juristen versicherte,
daß die winzige kugelige Eizelle, aus der sich jeder Mensch
entwickelt, lebendig sei, ebenso mit Leben begabt, wie der Embryo von
zwei oder sieben oder neun Monaten, fand ich nur ungläubiges
Lächeln. Den meisten Studirenden der Jurisprudenz fällt es
gar nicht ein, sich um Anthropologie, Psychologie und
Entwickelungsgeschichte zu bekümmern, die ersten
Vorbedingungen für richtige Beurtheilung des Menschen-Wesens.
Freilich bleibt dazu auch "keine Zeit"; diese wird leider nur zu sehr
durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anspruch
genommen, sowie das "veredelnde" Mensuren-Wesen; der Rest der
kostbaren Studien-Zeit aber ist nothwendig, um die Hunderte von
Paragraphen der Gesetzbücher zu erlernen, deren Kenntniß
den Juristen zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kultur-Staate befähigt.
Unsere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik wollen wir
hier nur ganz flüchtig streifen, da die unerfreulichen
Zustände des modernen Staatslebens allbekannt und Jedermann
täglich fühlbar sind. Zum großen Theile erklären
sich deren Mängel daraus, daß die meisten Staatsbeamten
eben Juristen sind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung,
aber ohne jene gründliche Kenntniß der Menschen-Natur, die
nur durch vergleichende Anthropologie und monistische Psychologie
erworben werden kann, - ohne jene Kenntniß der socialen
Verhältnisse, deren organische Vorbilder uns die vergleichende
Zoologie und Entwickelungsgeschichte, die Zellen-Theorie und die
Protistenkunde liefert. "Bau und Leben des socialen Körpers,", d. h.
des Staates, lernen wir nur dann richtig verstehen, wenn wir
naturwissenschaftliche Kenntniß von "Bau und Leben" der
Personenfunda besitzen, welche den Staat zusammensetzen, und der
Zellen, welche jene Personen zusammensetzen. Wenn diese
unschätzbaren biologischen und anthropologischen
Vorkenntnisse unsere "Staatslenker" besäßen, und
unsere "Volksvertreter", die mit ihnen zusammenwirken, so
würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene
entsetzliche Fülle von sociologischen Irrthümern und von
politischer Kannengießerei zu lesen sein, welche unsere
Parlaments-Berichte und auch viele Regierungs-Erlasse nicht gerade
erfreulich auszeichnen. Das Schlimmste freilich ist, wenn der moderne
Kulturstaat sich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme
wirft, und wenn der bornirte Egoismus der Parteien, die Verblendung
der kurzsichtigen Parteiführer die Hierarchie unterstützt.
Dann entstehen so traurige Bilder, wie sie uns leider jetzt am Schlusse
des 19. Jahrhunderts der deutsche Reichstag vor Augen führt: die
Geschicke des gebildeten deutschen Volkes in der Hand des
ultramontanen Centrums, unter des Leitung des römischen
Papismus, der sein ärgster und gefährlichster Feind ist. Statt
Recht und Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unsere
Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von der
Fesseln der Kirche befreit, und wenn sie durch allgemeine
naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschen-Kenntniß der Staatsbürger auf eine bessere Stufe hebt. Dabei
kommt es gar nicht auf die besondere Staatsform an. Ob
Monarchie oder Republik, ob aristokratische oder demokratische
Verfassung, das sind untergeordnete Fragen gegenüber der
großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturstaat geistlich oder
weltlich sein? soll er theokratisch durch unvernünftige
Glaubensätze und klerikale Willkür, oder soll der
nomokratisch durch vernünftige Gesetze und
bürgerliches Recht geleitet werden? Die Hauptaufgabe ist, unsere
Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben befreiten
Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch eine
zeitgemäße Schul-Reform geschehen.
Unsere Schule. Ebenso wie unsere Rechtspflege und
Staatsordnung, entspricht auch unsere Jugenderziehung durchaus nicht
den Anforderungen, welche die wissenschaftlichen Fortschritte des 19.
Jahrhunderts an die moderne Bildung stellen. Die
Naturwissenschaft, die alle andern Wissenschaften so weit
überflügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle
sogenannten Geisteswissenschaften in sich aufgenommen hat, wird in
unseren Schulen immer noch als Nebensache behandelt oder als
Aschenbrödel in die Ecke gestellt. Dagegen erscheint unsren
meisten Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene todte
Gelehrsamkeit, die aus den Klosterschulen des Mittelalters
übernommen ist; im Vordergrunde steht der grammatikalische
Sport und die zeitraubende "gründliche Kenntniß" der
klassischen Sprachen, sowie der äußerlichen
Völkergeschichte. Die Sittenlehre, der wichtigste Gegenstand der
praktischen Philosophie, wird vernachlässigt und an ihre Stelle die
kirchliche Konfession gesetzt. Der Glaube soll dem Wissen vorangehen;
nicht jener wissenschaftliche Glaube, welcher uns zu einer monistischen
Religion führt, sondern jener unvernünftige Aberglaube, der
die Grundlage eines verunstalteten Christentums bildet. Während
die großartigen Erkenntnisse der modernen Kosmologie und
Anthropologie, der heutigen Biologie und Entwickelungslehre auf
unseren höheren Schulen gar keine oder nur ganz
ungenügende Verwerthung finden, wird das
Gedächtniß mit einer Unmasse von philosophischen und
historischen Thatsachen überladen, die weder für die
theoretische Bildung noch für das praktische Leben von Nutzen
sind. Aber auch die veralteten Einrichtungen und Fakultäts-Verhältnisse der Universitäten entsprechen der heutigen
Entwickelungstufe der monistischen Weltanschauung ebenso wenig, als
die Unterrichts-Leitung in den Gymnasien und in den niederen
Schulen.
Unsere Kirche. Den Gipfel des Gegensatzes gegen die moderne
Bildung und gegen deren Grundlagen, die vorgeschrittene Natur-Erkenntniß, erreicht unstreitig die Kirche. Wir wollen hier gar nicht
vom ultramontanen Papismus sprechen, oder von den orthodoxen
evangelischen Richtungen, welche diesem in Bezug auf Unkenntniß
der Wirklichkeit und Lehre des krassesten Aberglaubens nichts
nachgeben. Vielmehr versetzen wir uns in die Predigt eines liberalen
protestantischen Pfarrers, der gute Durchschnittsbildung besitzt und der
Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Rechts einräumt. Da
hören wir neben vortrefflichen Sittenlehren, die mit unserer
monistischen Ethik (im 19. Kapitel) vollkommen harmoniren, und neben
humanistischen Erörterungen, die wir durchaus billigen,
Vorstellungen über das Wesen von Gott und Welt, von Mensch
und Leben, welche allen Erfahrungen der Naturforschung direkt
widersprechen. Es ist kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker,
Aerzte und Philosophen, die gründlich über die Natur
beobachtet und nachgedacht haben, solchen Predigten kein Gehör
schenken wollen. Es fehlt eben unseren Theologen ebenso wie unseren
Philologen, unseren Politikern ebenso wie unseren Juristen an jener
unentbehrlichen Naturkenntniß, welche sich auf die
monistische Entwickelungslehre gründet, und welche bereits in
den festen Besitzstand unserer modernen Wissenschaft
übergegangen ist.
Konflikt zwischen Vernunft und Dogma. Aus diesen
bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegensätzen ergeben
sich für unser modernes Kultur-Leben schwere Konflikte, deren
Gefahr dringend zur Beseitigung auffordert. Unsere heutige Bildung, als
Ergebniß der mächtig vorgeschrittenen Wissenschaft,
verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und
privaten Lebens; sie wünscht die Menschheit mittelst der
Vernunft auf eine jene höhere Stufe der Erkenntniß
und damit zugleich auf jenen besseren Weg zum Glück erhoben zu
sehen, welche wir unserer hoch entwickelten Naturwissenschaft
verdanken. Dagegen sträuben sich aber mit aller Macht diejenigen
einflußreichen Kreise, welche unsere Geistesbildung in Betreff der
wichtigsten Probleme in den überwundenen Anschauungen des
Mittelalters zurückhalten wollen; sie verharren im Banne der
traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft sich
unter diese "höhere Offenbarung" beugen solle. Das ist der Fall in
weiten Kreisen der Theologie und Philologie, der Sociologie und
Jurisprudenz. Die Beweggründe dieser letzteren beruhen zum
größten Theile gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf
eigennützigem Streben, sondern theils auf Unkenntniß der
realen Thatsachen, theils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition.
Von den drei großen Feindinnen der Vernunft und Wissenschaft ist
die gefährlichste nicht die Bosheit, sondern die Unwissenheit und
vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen diese beiden letzteren
Mächte kämpfen selbst Götter dann noch vergebens,
wenn sie die erstere glücklich überwunden haben.
Anthropismus. Eine der mächtigsten Stützen
gewährt jener rückständigen Weltanschauung der
Anthropismus oder die "Vermenschlichung". Unter diesem
Begriffe verstehe ich jenen mächtigen und weit verbreiteten
Komplex von irrthümlichen Vorstellungen, welcher den
menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übrigen
Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel der organischen
Schöpfung und als ein principiell von dieser verschiedenes,
gottähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses
einflußreichen Vorstellungs-Kreises ergiebt sich, daß derselbe
eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den
anthropocentrischen, anthropomorphischen und
anthropolatrischen Irrthum unterscheiden" I Das
anthropocentrische Dogma gipfelt in der Vorstellung, daß der
Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens -
oder in weiterer Fassung der ganzen Welt - sei. Da dieser Irrthum dem
menschlichen Eigennutz äußerst erwünscht, und da er
mit den Schöpfungs-Mythen der drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der mosaischen,
christlichen und mohammedanischen Lehre innig
verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten
Theil der Kulturwelt. - II Das anthropomorphische Dogma
knüpft ebenfalls an die Schöpfungs-Mythen der drei
genannten, sowie vieler anderer Religionen an. Es vergleicht die
Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den
Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers oder "Maschinen-Ingenieurs" und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. "Gott
der Herr" als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei
in seinem Denken und Handeln durchaus menschenähnlich
vorgestellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Mensch
gottähnlich ist. "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde." Die
ältere naive Mythologie ist reiner Homotheismus und
verleiht ihren Göttern Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger
vorstellbar ist die neuere mystische Theosophie, welche den
persönlichen Gott als "unsichtbares" - eigentlich gasförmiges!
- Wesen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach Menschenart denken,
sprechen und handeln läßt; sie gelangt dadurch zu dem
paradoxen Begriff eines "gasförmigen Wirbelthieres". - III. Das
anthropolatrische Dogma ergiebt sich aus dieser Vergleichung der
menschlichen und göttlichen Seelenthätigkeit von selbst; es
führt zu der göttlichen Verehrung des menschlichen
Organismus, zum "anthropistischen Größenwahn". Daraus
folgt wieder der hochgeschätzte "Glaube an die persönliche
Unsterblichkeit der Seele", sowie das dualistische Dogma von der
Doppelnatur des Menschen, dessen "unsterbliche Seele" den sterblichen
Körper nur zeitweise bewohnt. Indem nun diese drei
anthropistischen Dogmen mannigfach ausgebildet und der wechselnden
Glaubensform der verschiedenen Religionen angepaßt wurden,
erlangten sie im Laufe der Zeit eine außerordentliche Bedeutung
und wurden zur Quelle der gefährlichsten Irrthümer. Die
anthropistische Weltanschauung, die daraus entsprang, steht in
unversöhnlichem Gegensatz zu unserer monistischen Natur-Erkenntniß; sie wird zunächst schon durch deren
kosmologische Perspektive widerlegt.
Kosmologische Perspektive. Nicht allein die drei
anthropistischen Dogmen, sondern auch viele andere Anschauungen der
dualistischen Philosophie und der orthodoxen Religion offenbaren ihre
Unhaltbarkeit, sobald wir sie aus der kosmologischen Perspektive
unsers Monismus kritisch betrachten. Wir verstehen darunter jene
umfasende Anschauung des Weltganzen, welche wir vom
höchsten erklommenen Standpunkt der monistischen
Naturerkenntniß gewonnen haben. Da überzeugen wir uns
von folgenden wichtigen, nach unserer Ansicht jetzt
größtenteils bewiesenen "kosmologischen
Lehrsätzen".
1. Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und
unbegrenzt. 2. Die Substanz desselben mit ihren beiden Attributen
(Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet
sich in ewiger Bewegung. 3. Diese Bewegung verläuft in der
unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwickelung, mit periodischem
Wechsel von Werden und Vergehen, von Fortbildung und
Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche im
raumerfüllenden Aether vertheilt sind, unterliegen
sämmtlich dem Substanz-Gesetz; während in einem Theile
des Universum die rotirenden Weltkörper langsam ihrer
Rückbildung und ihrem Untergang entgegen gehen, erfolgt in
einem andern Theile des Weltraums Neubildung und Fortentwickelung.
5. Unsere Sonne ist einer von diesen unzähligen
vergänglichen Weltkörpern, und unsere Erde ist einer von
den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche diese umkreisen.
6. Unsere Erde hat einen langen Abkühlungs-Prozeß
durchgemacht, ehe auf derselben tropfbar flüssiges Wasser und
damit die erste Vorbedingung organischen Lebens entstehen konnte. 7.
Der dann folgende biogenetische Prozeß, die langsame
Entwickelung und Umbildung zahlloser organischer Formen, hat viele
Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anspruch genommen. 8.
Unter den verschiedenen Thier-Stämmen, welche sich im
späteren Verlaufe des biogenetischen Processes auf unserer Erde
entwickelten, hat der Stamm der Wirbelthiere im Wettlaufe der
Entwickelung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9.
Als der bedeutendste Zweig des Wirbelthier-Stammes hat sich erst
spät (während der Trias-Periode) aus niederen Reptilien
und Amphibien die Klasse der Säugethiere entwickelt. 10. Der
vollkommenste und höchst entwickelte Zweig dieser Klasse ist die
Ordnung der Herrenthiere oder Primaten, die erst im Beginne der
Tertiär-Zeit (von mindestens drei Millionen Jahren) durch
Umbildung aus niedersten Zottenthieren (Prochoriaten) entstanden ist.
11. Das jüngste und vollkommenste Aestchen des Primaten-Zweiges ist der Mensch, der erst gegen Ende der Tertiär-Zeit aus
einer Reihe von Menschen-Affen hervorgegangen ist. 12. Demnach ist
die sogenannte "Weltgeschichte" - d. h. der kurze Zeitraum von wenigen
Jahrtausenden, innerhalb dessen sich die Kulturgeschichte des Menschen
abgespielt hat, eine verschwindend kurze Episode in dem langen
Verlaufe der organischen Erdgeschichte, ebenso wie diese selbst ein
kleines Stück von der Geschichte unseres Planeten-Systems; und
wie unsere Mutter Erde ein vergängliches Sonnenstäubchen
im unendlichen Weltall, so ist der einzelne Mensch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen organischen Natur.
Nichts scheint mit geeigneter als diese großartige kosmologische
Perspektive, um von vornherein den richtigen Maßstab und
den weitsichtigen Standpunkt festzusetzen, welchen wir zur
Lösung der großen, uns umgebenden Welträthsel
einhalten müssen. Denn dadurch wird nicht nur die
maßgebende "Stellung des Menschen in der Natur" klar bewiesen,
sondern auch der herrschende anthropistische
Größenwahn" widerlegt, die Anmaßung, mit der der
Mensch sich dem unendlichen Universum gegenüberstellt und als
wichtigsten Theil des Weltalls verherrlicht. Diese grenzenlose
Selbstüberhebung des eitlen Menschen hat ihn dazu
verführt, sich als "Ebenbild Gottes" zu betrachten, für seine
vergängliche Person ein "ewiges Leben" in Anspruch zu nehmen
und sich einzubilden, daß er unbeschränkte "Freiheit des
Willens" besitzt. Der lächerliche Cäsaren-Wahn des Caligula
ist eine spezielle Form dieser hochmüthigen
Selbstvergötterung des Menschen. Erst wenn wir diesen
unhaltbaren Größenwahn aufgeben und die
naturgemäße kosmologische Perspektive einnehmen,
können wir zur Lösung der "Welträthsel" gelangen).
(Vergl. Anm. 1, S. 156).
Zahl der Welträthsel. Der ungebildete Kulturmensch ist
noch ebenso wie der rohe Naturmensch auf Schritt und Tritt von
unzähligen Welträthseln umgeben. Je weiter die Kultur
fortschreitet und die Wissenschaft sich entwickelt, desto mehr wird ihre
Zahl beschränkt. die monistische Philosophie wird
schließlich nur ein einziges, allumfassendes Welträthsel
anerkennen, das "Substanz-Problem". Immerhin kann es aber
zweckmäßig erscheinen, auch eine gewisse Zahl von
schwierigsten Problemen mit jenem Namen zu bezeichnen. In der
berühmten Rede, welche Emil du Bois-Reymond 1880 in
der Leibnitz-Sitzung der Berliner Akadamie der Wissenschaft hielt,
unterscheidet er "Sieben Welträthsel" und führt
dieselben in nachstehender Reihenfolge auf: I. das Wesen von Materie
und Kraft, II. der Ursprung der Bewegung, III. die erste Entstehung des
Lebens, IV die (anscheinend absichtsvoll) zweckmäßige
Einrichtung der Natur, V. das Entstehen der einfachen
Sinnenempfindungen und des Bewußtseins, VI. das
vernünftige Denken und der Ursprung der damit eng
verbundenen Sprache, VII. die Frage nach der Willensfreiheit. Von
diesen sieben Welträthseln erklärt der Rhetor der Berliner
Akademie drei für ganz transscendent und unlösbar
(das erste, zweite und fünfte); drei andere hält er
zwar für schwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte
und sechste); bezüglich des siebenten und letzten
"Welträthsels", welches praktisch das wichtigste ist, nämlich
der Willensfreiheit, verhält er sich unentschieden.
Da mein Monismus sich von demjenigen des Berliner Rhetors
wesentlich unterscheidet, da aber andererseits seine Auffassung der
"sieben Welträthsel" großen Beifall in weiten Kreisen
gefunden hat, halte ich es für zweckmäßig, gleich hier
von vornheren zu denselben klare Stellung zu nehmen. Nach meiner
Ansicht werden die drei "transscendenten" Räthsel (I, II, V) durch
unsere Auffassung der Substanz erledigt (Kapitel 12); die drei
anderen, schwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV, VI) sind
durch unsere moderne Entwickelungslehre endgültig
gelöst; das siebente und letzte Welträthsel, die
Willensfreiheit, ist gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher
Erklärung, da sie als reines Dogma nur auf Täuschung
beruht und in Wirklichkeit gar nicht existiert.
Lösung der Welträthsel. Die Mittel und Wege,
welche wir zur Lösung der großen Welträthsel
einzuschlagen haben, sind keine anderen als diejenigen der reinen
wissenschafltichen Erkenntniß überhaupt, also erstens
Erfahrung und zweitens Schlußfolgerung. Die
wissenschaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und
Experiment, wobei in erster Linie unsere Sinnes-Organe, in zweiter die
"inneren Sinnesherde" unserer Großhirnrinde thätig sind. Die
mikroskopischen Elementar-Organe der ersteren sind die Sinneszellen,
die der letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche
wir von der Außenwelt durch diese unschätzbaren Organe
unsers Geisteslebens erhalten haben, wedern dann durch andere
Gehirnteile in Vorstellungen umgesetzt und diese wiederum durch
Assoziation zu Schlüssen verknüpft. Die Bildung dieser
Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verschiedenen Wegen, die nach
meiner Überzeugung gleich wertvoll und unentbehrlich sind:
Induktion und Deduktion. Die weiteren verwickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zusammenhängenden
Kettenschlüssen, die Abstraktion und Begriffsbildung, die
Ergänzung des erkennenden Verstandes durch die plastische
Thätigkeit der Phantasie, schließlich das Bewußtsein,
das Denken und Philosophieren, sind ebenso Funktionen der Ganglien-Zellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren
Seelenthätigkeiten. Alle zusammen vereinigen wir in dem
höchsten Begriffe der Vernunft.
Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Durch die Vernunft
allein können wir zur wahren Natur-Erkenniß und zur
Lösung der Welträthsel gelangen. Die Vernunft ist das
höchste Gut des Menschen und derjenige Vorzug, der ihn allein
von den Thieren wesentlich unterscheidet. Allerdings hat sie aber
diesen hohen Werth erst durch die fortschreitende Kultur und
Geistesbildung, durch die Entwickelung der Wissenschaft
erhalten. Der ungebildete Mensch und der rohe Naturmensch sind
ebenso wenig (oder ebenso viel) "vernünftig" als die
nächstverwandten Säugethiere (Affen, Hunde, Elephanten u.
s. w.). Nun ist aber in weiten Kreisen noch heute die Ansicht verbreitet,
daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere
(ja sogar wichtigere!) Erkenntniß-Wege gebe: Gemüth und
Offenbarung. Diesem gefährlichen Irrthum müssen wir von
vornherein entschieden entgegentreten. Das Gemüth hat mir
der Erkenntniß der Wahrheit gar nichts zu thun. Was wir
"Gemüth" nennen und hochschätzen, ist eine verwickelte
Thätigkeit des Gehirns, welche sich aus Gefühlen der Lust
und Unlust, aus Vorstellungen der Zuneigung und Abneigung, aus
Strebungen des Begehrens und Fliehens zusammensetzt. Dabei
können die verschiedensten anderen Thätigkeiten des
Organismus mitspielen, Bedürfnisse der Sinne und der Muskeln,
des Magens und der Geschlechtsorgane u. s. w. Die Erkenntniß der
Wahrheit fördern allen diese Gemüths-Zustände und
Gemüths-Bewegungen in keiner Weise; im Gegentheil stören
sie oft die allen dazu befähigte Vernunft und schädigen sie
häufig in empfindlichem Grade. Noch kein "Welträthsel" ist
durch die Gehirn-Funktion des Gemüths gelöst oder auch
nur gefördert worden. Dasselbe gilt aber auch von der
sogenannten "Offenbarung" und den angeblichen, dadurch
erreichen "Glaubenswahrheiten"; diese beruhen sämmtlich
auf bewußter oder unbewußter Täuschung, wie wir im
16. Kapitel sehen werden.
Philosophie und Naturwissenschaft. Als einen der
erfreulichsten Fortschritte zur Lösung der Welträthsel
müssen wir es begrüßen, daß in neuerer Zeit
immer mehr die beiden einzigen, dazu führenden Wege:
Erfahrung und Denken - oder Empirie und Spekulation -
als gleichberechtigte und sich gegenseitig ergänzende
Erkenntniß-Methoden anerkannt worden sind. Die Philosophen
haben allmählich eingesehen, daß die reine Spekulation, wie
sie z. B. Plato und Hegel zur ideaeln Welt-Konstruktion benutzten, zur wahren Erkenntniß nicht ausreicht.
Und ebenso haben sich anderseits die Naturforscher überzeugt,
daß die bloße Erfahrung, wie sie z.B.Baco und
Will zur Grundlage der realen Weltanschauung erhoben,
für deren Vollendung allein ungenügend ist. Denn die zwei
großen Erkenntniß-Wege, die sinnliche Erfahrung und das
vernünftige Denken, sind zwei verschiedene Gehirn-Funktionen; die erstere wird durch die Sinnesorgane und die
centralen Sinnesherde, die großen "Associations-Centren der
Großhirnrinde" vermittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10). Erst durch die
vereinigte Thätigkeit beider entsteht wahre Erkenntniß.
Allerdings giebt es auch heute noch manche Philosophen, welche die
Welt bloß aus ihrem Kopfe konstruiren wollen, und welche die
empirische Naturerkenntniß schon deshalb verschmähen,
weil sie die wirkliche Welt nicht kennen. Anderseits behaupten auch
heute noch manche Naturforscher, daß die einzige Aufgabe der
Wissenschaft das "thatsächliche Wissen, die objektive Erforschung
der einzelnen Natur-Erscheinungen sei"; das "Zeitalter der Philosophie"
sei vorüber, und an ihre Stelle sei die Naturwissenschaft getreten
(Virchow 1893). Diese einseitige Ueberschätzung der
Empirie ist ein ebenso gefährlicher Irrthum wie jene
entgegengesetzte der Spekulation. Beide Erkenntniß-Wege sind sich
gegenseitig unentbehrlich. Die größten Triumphe der
modernen Naturforschung, die Zellentheorie und die
Wärmetheorie, die Entwickelungstheorie und das Substanz-Gesetz,
sind philosophische Thaten, aber nicht Ergebnisse der einen
Spekulation, sondern der vorausgegangenen, ausgedehntesten
und gründlichsten Empirie.
Am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts rief unser
größter idealistischer Dichter, Schiller, den beiden
streitenden Heeren, den Philosophen und Naturforschern zu:
"Feindschaft sei zwischen Euch!
"Noch kommt das Bündniß zu frühe!
"Wenn Ihr im Suchen Euch trennt,
"Wird erst die Wahrheit erkannt!"
Seitdem hat sich das Verhältniß zum Glück
gründlich geändert; indem beide Heere auf verschiedenen
Wegen nach demselben höchsten Ziele strebten, haben sie sich in
demselben zusammengefunden und nähern sich im gemeinsamen
Bunde immer mehr der Erkenntniß der Wahrheit. Wir sind jetzt am
Ende des Jahrhunderts zu jener monistischen Erkenntniß-Methode zurückgekehrt, welche schon an dessen Anfang von
unserm größten realistischen Dichter, Goethe, als die
einzig naturgemäße anerkannt war.
Dualismus und Monismus. Alle verschiedenen Richtungen der
Philosophie lassen sich, vom heutigen Standpunkte der
Naturwissenschaft beurtheilt, in zwei entgegengesetzte Reihen bringen,
einerseits die dualistische oder zwiespältige, anderseits die
monistische oder einheitliche Weltanschauung. Gewöhnlich
ist die erstere mit teleologischen und idealistischen Dogmen
verknüpft, die letztere mit mechanistischen und realistischen
Grundbegriffen. Der Dualismus (im weitesten Sinne!) zerlegt das
Universum in zwei ganz verschiedene Substanzen, die materielle Welt
und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer, Erhalter und
Regierer gegenübersteht. Der Monismus hingegen (ebenfalls
im weitesten Sinne begriffen!) erkennt im Universum nur eine einzige
Substanz, die "Gott und Natur" zugleich ist; Körper und Geist (oder
Materie und Energie) sind für sie untrennbar verbunden. Der
extramundane "persönliche" Gott des Dualismus führt
nothwendig zum Theismus; hingegen der intramundane
Gott des Monismus zum Pantheismus.
Materialismus und Spiritualismus. Sehr häufig werden
auch heute noch die verschiedenen Begriffe Monismus und
Materialismus und ebenso die wesentlich verschiedenen
Richtungen des theoretischen und des praktischen Materialismus
verwechselt. Da diese und andere ähnliche Begriffs-Verwirrungen
höchst nachtheilig wirken und zahlreiche Irrthümer
veranlassen, wollen wir zur Vermeidung allen
Mißverständnisse nur kurz noch Folgendes bemerken: I.
Unser reiner Monismus ist weder mit dem theoretischen
Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt
in eine Summe von toten Atomen auflöst, noch mit dem
theoretischen Spiritualismus (neuerdings von Ostwald als
Energetik bezeichnet), welcher die Materie leugnet und die Welt
nur als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder
immatierellen Naturkräften betrachtet. II. Vielmehr sind wir mit
Goethe der festen Ueberzeugung, daß "die Materie nie ohne
Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann". Wir
halten fest an dem reinen und unzweideutigen Monismus von
Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte
Substanz, und der Geist (oder die Energie), als die empfindende
oder denkende Substanz, sind die beiden fundamentalen
Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden
göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz. (Vergl.
Kapitel 12.)
----
Zweites Kapitel.
Unser Körperbau.
Monistische Studien über menschliche und vergleichende
Anatomie. Uebereinstimmung in der gröberen und feineren
Organisation des Menschen und der Säugethiere.
----
Inhalt: Grundlegende Bedeutung der Anatomie. Menschliche
Anatomie. Hippokrates. Aristoteles. Galenus. Vesalius. Vergleichende
Anatomie. Schleiden und Schwann. Kölliker. Virchow. Wirbelthier-Natur des Menschen. Tetrapoden-Natur des Menschen. Säugethier-Natur des Menschen. Placentalien-Natur des Menschen. Primaten-Natur
des Menschen. Halbaffen und Affen. Katarrhinen. Papiomorphen und
Anthropomorphen. Wesentliche Gleichheit im Körperbau des
Menschen und der Menschenaffen.
Alle biologischen Untersuchungen, alle Forschungen über die
Gestaltung und Lebensthätigkeit der Organismen haben
zunächst den sichtbaren Körper ins Auge zu fassen, an
welchem uns die betreffenden morphologischen und physiologischen
Erscheinungen entgegentreten. Dieser Grundsatz gild ebenso für
den Menschen wie für alle anderen belebten
Naturkörper. Dabei darf sich die Untersuchung nicht mit der
Betrachtung der äußeren Gestalt begnügen, sondern sie
muß in das Innere derselben eindringen und ihre feineren
Bestandtheilen erforschen. Die Wissenschaft, welche diese grundlegende
Untersuchung im weitesten Umfange auszuführen hat, ist die
Anatomie.
Menschliche Anatomie. Die erste Anregung zur
Erkenntniß des menschlichen Körperbaues ging
naturgemäß von der Heilkunde aus. Da diese bei den
ältesten Kulturvölkern gewöhnlich von den Priestern
ausgeübt wurde, dürfen wir annehmen, daß diese
höchsten Vertreter der damalien Bildung schon im zweiten
Jahrtausend vor Christo und früher über ein gewisses
Maaß von anatomischen Kenntnissen verfügten. Aber
genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von
Säugethieren und von diesem übertragen auf den Menschen
finden wir erst bei den griechischen Natur-Philosophen des sechsten
und fünften Jahrhunderts v. Chr., bei Empedokles (von
Agrigent) und Demokritos (von Abdera), von Allen aber den dem
berühmtesten Arzte des klassischen Altertums, bei
Hippokrates (von Kos). aus ihren und anderen Schriften
schöpfte auch (im vierten Jahr. v. Chr.) der große Aristoteles,
der hochberühmte "Vater der Naturgeschichte", gleich umfassend
als Naturforscher wie als Philosoph. Nach ihm erscheint nur noch ein
bedeutender Anatom im Altertum, der griechische Arzt Claudius
Galenus (von Pergamus); er entfaltete im zweiten Jahrhundert n.
Chr. in Rom unter Kaiser Marcus Aurelius eine reiche Praxis. Alle diese
älteren Anatomen erwarben ihre Kenntnisse zum
größten Theil nicht durch die Untersuchung des
menschlichen Körpers selbst - die damals noch streng verboten
war! -, sondern durch diejenige der menschenähnlichen
Säugthiere, besonders der Affen; sie waren also eigentlich
schon "vergleichende Anatomen".
Das Emporblühen des Christentums und der damit
verknüpften mystischen Weltanschauung bereitete der Anatomie,
wie allen anderen Naturwissenschaften, den Niedergang. Die
römischen Päpste, die größten Gaukler der
Weltgeschichte, waren vor Allem bestrebt, die Menschheit in
Unwissenheit zu erhalten, und hielten die Kenntniß des
menschlichen Organismus mit Recht für ein gefährliches
Mittel der Aufklärung über unser wahres Wesen.
Während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten
blieben die Schriften des Galenus fast die einzige Quelle für
die menschliche Anatomie, ebenso wie diejenigen des Aristoteles
für die gesammte Naturgeschichte. Erst als im sechzehnten
Jahrhundert n. Chr. durch die Reformation die geistige
Weltherrschaft des Papismus gebrochen und durch das neue
Weltsystem des Kopernikus die eng damit verknüpfte
geocentrischen Weltanschauung zerstört wurde, begann auch
für die Erkenntniß des menschlichen Körpers eine neue
Periode des Aufschwungs. Die großen Anatomen Vesalius
(aus Brüssel), Eustachius und Fallopius (aus Modena)
förderten durch eigene gründliche Untersuchungen die
genaue Kenntniß unseres Körperbaues so sehr, daß
ihren zahlreichen Nachfolgern bezüglich der gröberen
Verhältnisse hauptsächlich nur Einzelheiten festzustellen
übrig blieben. Der ebenso kühne als geistreiche und
unermüdliche Andreas Vesalius (dessen Familie, wie der
Name sagt, aus Wesel stammte) ging bahnbrechend Allen voran; er
vollendete schon in seinem 28. Lebensjahre das große, einheitlich
durchgeführte Werk "De humani corporis fabrica", 1543; er
gab der ganzen menschlichen Anatomie eine neue, selbstständige
Richtung und sichere Grundlage. Dafür wurde Vesalius
später in Madrid - wo er Leibarzt Karls V. und Philipps II. war -
von der Inquisition als Zauberer zum Tode verurtheilt. Er rettete sich
nur dadurch, daß er eine Reise nach Jerusalem antrat; auf der
Rückreise erlitt er bei der Insel Zante Schiffbruch und starb hier
im Elend, krank und aller Mittel beraubt.
Vergleichende Anatomie. Die Verdienste, welche unser
neunzehntes Jahrhundert sich um die Erkenntniß des menschlichen
Körperbaues erworben hat, bestehen vor Allem in dem Ausbau
von zwei neuen, überaus wichtigen Forschungsrichtungen, der
"vergleichenden Anatomie" und der "Gewebelehre" oder
der "mikroskopischen Anatomie". Was zunächst die erstere
betrifft, so war sie allerdings schon von Anfang an mit der menschlichen
Anatomie eng verknüpft gewesen; ja die letztere wurde sogar
solange durch die erstere ersetzt, als die Sektion menschlicher Leichen
für ein todeswürdiges Verbrechen galt - und das war sogar
noch im 15. Jahrhundert der Fall! Aber die zahlreichen Anatomen der
folgenden drei Jahrhunderte beschränkten sich
größtenteils auf die genaue Untersuchung des menschlichen
Organismus. Diejenige hochentwickelte Disciplin, die wir heute
vergleichende Anatomie nennen, wurde erst im Jahre 1803 geboren, als
der große französische Zoologe George Cuvier (aus
Mömpelgard im Elsaß stammend) seine grundlegenden
"Lecons sur lAnatomie comparée" herausgab und darin zum ersten Male
bestimmte Gesetze über den Körperbau des Menschen und
der Thiere festzustellen suchte. Während seine Vorläufer -
unter ihnen auch Goethe 1790 - hauptsächlich nur
das Knochengerüst des Menschen mit demjenigen der
übrigen Säugethiere eingehend vergleichen hatten,
umfaßte Cuviers weiter Blick die Gesammtheit der
thierischen Organisation; er unterschied in derselben vier große,
von einander unabhängige Hauptformen oder Typen:
Wirbelthiere (Vertebrata), Gliederthiere (Articulata),
Weichthiere (Mollusca) und Strahlthiere (Radiata). Für
die "Frage der Fragen" war dieser Fortschritt insofern epochemachend,
als damit klar die Zugehörigkeit des Menschen zum Typus der
Wirbelthiere - sowie seine Grundverschiedenheit von allen
anderen Typen - ausgesprochen war. Allerdings hatte schon der
scharfblickende Linné in seinem ersten "Systema naturae" (1735)
einen bedeutungsvollen Fortschritt gethan, daß er dem Menschen
definitiv seinen Platz in der Klasse der Säugethiere
(Mammalia) anwies; ja er vereinigte sogar in der Ordnung der
Herrenthiere (Primates) die drei Gruppen der Halbaffen,
Affen und Menschen (Lemur, Simia, Homo). Aber es
fehlte diesem kühnen, systematischen Griffe noch jene tiefere
empirische Begründung durch die vergleichende Anatomie, die
erst Cuvier herbeiführte. Diese fand ihre weitere
Ausführung durch die großen vergleichenden Anatomen
unsers Jahrhunderts, durch Friedrich Meckel (in Halle),
Johannes Müller (in Berlin), Richard Owen und
Thomas Huxley (in England), Carl Gegenbaur (in Jena,
später in Heidelberg). Indem dieser Letztere in seinen
Grundzügen der vergleichenden Anatomie (1870) zum ersten Male
die durch Darwin neu begründete Abstammungslehre auf
jene Wissenschaft anwendete, erhob er sie zum ersten Range unter den
biologischen Disciplinen. Die zahlreichen vergleichend-anatomischen
Arbeiten von Gegenbaur sind, ebenso wie sein allgemein
verbreitetes "Lehrbuch der Anatomie des Menschen", gleich
ausgezeichnet durch die gründliche empirische Kenntniß
eines ungeheueren Thatsachen-Materials, wie durch die umfassende
Verwerthung im Sinne der Entwickelungslehre. Seine kürzlich
erschienene "Vergleichende Anatomie der Wirbelthiere" (1898) legt den
unerschütterlichen Grund fest, auf welchem sich unsere
Ueberzeugung von der Wirbelthier-Natur des Menschen nach allen
Richtungen hin klar beweisen läßt.
Gewebelehre (Histologie) und Zellenlehre (Cytologie).
In ganz anderer Richtung als die vergleichende, entwickelte sich im
Laufe unseres Jahrhunderts die mikroskopische Anatomie. Schon
im Anfange desselben (1802) unternahm ein französicher Arzt,
Bichat, den Versuch, mittels des Mikroskopes die Organe des
menschlichen Körpers in ihre einzelnen feineren Bestandtheile zu
zerlegen und die Beziehungen dieser verschiedenen Gewebe
(Hista oder Tela) festzustellen. Aber dieser erste Versuch
führte nicht weit, da ihm das gemeinsame Element für die
zahlreichen, verschiedenen Gewebe unbekannt blieb. Dies wurde erst
1838 für die Pflanzen in der Zelle von Matthias
Schleiden (in Jena) entdeckt und gleich darauf auch für die
Thiere von Theodor Schwann nachgewiesen, dem Schüler
und Assistenten von Johannes Müller in Berlin. Zwei andere
berühmte Schüler dieses großen und bahnbrechenden
Meisters, Albert Kölliker und Rudolf Virchow,
führten dann im sechsten Decennium des 19. Jahrhunderts (in
Würzburg) die Zellentheorie und die darauf
gegründete Gewebelehre für den gesunden und kranken
Organismus des Menschen im Einzelnen durch; sie wiesen nach, daß
auch im Menschen, wie in allen anderen Thieren, alle Gewebe sich aus
den gleichen mikroskopischen Formbestandtheilen, den Zellen,
zusammensetzen, und daß diese "Elementar-Organismen" die
wahren, selbstthätigen Staatsbürger sind, die zu Milliarden
vereinigt, unsern Körper, den "Zellenstaat", aufbauen. Alle diese
Zellen entstehen durch oft wiederholte Theilung aus einer einzigen,
einfachen Zelle, aus der "Stammzelle" oder "befruchteten Eizelle"
(Cytula). Die allgemeine Struktur und Zusammensetzung der
Gewebe ist beim Menschen dieselbe wie bei den übrigen
Wirbelthieren. Unter diesen zeichnen sich die Säugethiere, die
jüngste und höchst entwickelte Klasse, durch gewisse
besondere, spät erworbene Eigenthümlichkeiten aus. So ist z.
B. die mikroskopische Bildung der Haare, der Hautdrüsen, der
Milchdrüsen, der Blutzellen bei den Mammalien ganz
eigenthümlich und verschieden von derjenigen der übrigen
Vertebraten; der Mensch ist auch in allen diesen feinsten
histologischen Beziehungen ein echtes Säugethier.
Die mikroskopischen Forschungen von Albert Kölliker und
Franz Leydig (ebenfalls in Würzburg) erweiterten nicht nur
unsere Kenntniß vom feineren Körperbau des Menschen und
der Thiere nach allen Richtungen, sondern sie wurden auch besonders
wichtig durch die Verbindung mit der Entwickelungsgeschichte der
Zelle und der Gewebe; sie bestätigen namentlich die wichtige
Theorie von Carl Theodor Siebold (1845), daß die
niedrigsten Thiere, die Infusorien und Rhizopoden, einzellige
Organismen sind.
Wirbelthier-Natur des Menschen. Unser gesammter
Körperbau zeigt sowohl in der gröberen als in der feineren
Zusammensetzung den charakteristischen Typus der Wirbelthiere
(Vertebrata). Diese wichtigste und höchst entwickelte
Hauptgruppe des Thierreichs wurde in ihrer natürlichen Einheit
zuerst 1801 von dem großen Lamarck erkannt; er
faßte unter diesem Begriffe die vier höheren Thierklassen
von Linné zusammen: Säugethiere, Vögel, Amphibien
und Fische. Die beiden niederen Klassen: Insekten und Würmer,
stellte jenen als "Wirbellose" (Invertebrata)
gegenüber. Cuvier bestatigte (1812) die Einheit des
Vertebraten-Typus und begründete sie fester durch seine
vergleichende Anatomie. In der That stimmen alle Wirbelthiere, von
den Fischen aufwärts bis zum Menschen, in allen wesentlichen
Hauptmerkmalen überein; sie besitzen alle ein festes inneres
Skelett, Knorpel- und Knochengerüst, und dieses besteht
überall aus einer Wirbelsäule und einem Schädel; die
verwickelte Zusammensetzung des letzteren ist zwar im Einzelnen sehr
mannigfaltig, aber im Allgemeinen stets auf dieselbe Urform
zurückzuführen. Ferner liegt bei allen Vertebraten auf der
Rückenseite dieses Axenskeletts das "Seelenorgan", das centrale
Nervensystem, in Gestalt eines Rückenmarks und eines Gehirns;
und auch von diesem wichtigen Gehirn - dem Werkzeuge des
Bewußtsein und aller höheren Seelenthätigkeiten! - gilt
dasselbe wie von der es umschließenden Knochenkapsel, den
Schädel; im Einzelnen ist seine Ausbildung und
Größe höchst mannigfaltig abgestuft, im Großen
und Ganzen bleibt die charakteristische Zusammensetzung dieselbe.
Die gleiche Erscheinung zeigt sich nun auch, wenn wir die übrigen
Organe unseres Körpers mit denen der anderen Wirbelthiere
vergleichen: überall bleibt in Folge der Vererbung die
ursprüngliche Anlage und die relative Lagerung der Organe
dieselbe, obgleich die Größe und Ausbildung der einzelnen
Theile höchst mannigfaltig sich sondert, entsprechend der
Anpassung an sehr verschiedene Lebensbedingungen. So sehen
wir, daß überall das Blut in zwei Hauptröhren kreist,
von denen die eine (Aorta) über dem Darm, die andere
(Principalvene) unter dem Darm verläuft, und daß durch
Erweiterung der letzteren an einer ganz bestimmten Stelle das
Herz entsteht; dieses "Ventral-Herz" ist für alle
Wirbelthiere ebenso charakteristisch wie umgekehrt das
Rückengefäß oder "Dorsal-Herz" für die
Gliederthiere und Weichthiere. Nicht minder eigenthümlich ist bei
allen Vertebraten die frühzeitige Scheidung des Darmrohres in
einen zur Atmung dienenden Kopfdarm (oder "Kiemendarm") und
einen die Verdauung bewirkenden Rumpfdarm mit der Leber
(daher "Leberdarm"); ferner die Gliederung des Muskelsystems, die
besondere Bildung der Harn- und Geschlechtsorgane u. s. w. In allen
diesen anatomischen Beziehungen ist der Mensch ein echtes
Wirbelthier.
Tetrapoden-Natur des Menschen. Mit der Bezeichnung
Vierfüßer (Tetrapoda) hatte schon
Aristoteles alle jene höheren, blutführenden Thiere
belegt, welche sich durch den Besitz von zwei Beinpaaren auszeichnen.
Später wurde dieser Begriff erweitert und mit der lateinischen
Bezeichnung Quadrupeda vertauscht, nachdem Cuvier
gezeigt hatte, daß auch die "zweibeinigen" Vögel und
Menschen eigentlich Vierfüßer sind; er wies nach, daß
das innere Knochengerüst der vier Beine bei allen höheren
landbewohnenden Vertebraten, von den Amphibien aufwärts bis
zum Menschen, ursprünglich in gleicher Weise aus einer
bestimmten Zahl von Gliedern zusammengesetzt ist. Auch die "Arme"
des Menschen, die "Flügel" der Fledermäuse und Vögel
zeigen denselben typischen Skelettbau wie die "Vorderbeine" der
laufenden, eigentlich vierfüßigen Thiere.
Diese anatomische Einheit des verwickelten
Knochengerüstes in den vier Gliedmaßen allen Tetrapoden ist
sehr wichtig. Um sich wirklich davon zu überzeugen,
braucht man bloß das Skelett eines Salamanders oder Frosches mit
demjenigen eines Affen oder Menschen aufmerksam zu vergleichen. Da
sieht man sofort, daß vorn der Schultergürtel und hinten der
Beckengürtel aus denselben Hauptstücken zusammengesetzt
ist wie bei den übrigen "Vierfüßern". Ueberall sehen
wir, daß das erste Glied des eigentlichen Beines nur einen einzigen
starken Röhrenknochen enthält (vorn den Oberarm,
Humerus; hinten den Obeschenkel, Femur); dagegen wird
das zweite Glied ursprünglich stets durch zwei Knochen
gestützt (vorn Ellbogen, Ulna, und Speiche, Radius;
hinten Wadenbein, Fibula, und Schienbein, Tibia).
Vergleichen wir dann weiter den verwickelten Bau des eigentlichen
Fußes, so überrascht uns die Wahrnehmung, daß die
zahlreichen, denselben zusammensetzenden, kleinen Knochen ebenfalls
überall ähnlich angeordnet und gesondert sind; vorn
entsprechen sich in allen Klassen der Tetrapoden die drei
Knochengruppen des Vorderfußes (oder der "Hand"): I. Handwurzel
(Carpus), II. Mittelhand (Metacarpus) und III. fünf
Finger (Digiti anteriores); ebenso hinten die drei Knochengruppen
des Hinterfußes: I. Fußwurzel (Tarsus), II.
Mittelfuß (Metatarsus) und III. fünf Zehen (Digiti
posteriores). Sehr schwierig war die Aufgabe, alle diese zahlreichen
kleinen Knochen, die im Einzelnen höchst mannigfaltig gestaltet
und umgebildet, theilweise oft verschmolzen oder verschwunden sind,
auf eine und dieselbe Urform zurückzuführen, sowie die
Gleichwerthigkeit (oder Homologie) der einzelnen Theile überall
festzustellen. Diese wichtige Aufgabe wurde erst vollständig von
dem bedeutendsten vergleichenden Anatomen der Gegenwart
gelöst, von Carl Gegenbaur. Er zeigte in seinen
"Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere"
(1864), wie diese charakteristische "fünfzehige Beinform" der
landbewohnenden Tetrapoden ursprünglich (erst in der
Steinkohlenperiode) aus der vielstrahligen "Flosse" (Brustflosse oder
Bauchflosse) der älteren, wasserbewohnenden Fische entstanden
ist. In gleicher Weise hatte Derselbe in seinen berühmten
"Untersuchungen über das Kopfskelett der Wirbelthiere" (1872)
den jüngeren Schädel der Tetrapoden aus der älteren
Schädelform der Fische abgeleitet, derjenigen der Haifische
(Selachier).
Besonders bemerkenswert ist noch, daß die ursprüngliche,
zuerst bei den alten Amphibien der Steinkohlenzeit entstandene
Fünfzahl der Zehen an allen vier Füßen - die
Pentadactylie - sich in Folge strenger Vererbung noch beim
Menschen bis auf den heutigen Tag conservirt hat.
Selbstverständlich ist dem entsprechend auch die typische Bildung
der Gelenke und Bänder, der Muskeln und Nerven der zwei
Beinpaare, in der Hauptsache dieselbe geblieben wie bei den
übrigen "Vierfüßern"; auch in diesen wichtigen
Beziehungen ist der Mensch ein echter Tetrapode.
Säugethier-Natur des Menschen. Die Säugethiere
(Mammalia) bilden die jüngste und höchst entwickelte
Klasse der Wirbelthiere. Sie sind zwar ebenso wie die Vögel und
Reptilien aus der älteren Klasse der Amphibien abzuleiten;
sie unterscheiden sich aber von allen diesen anderen Tetrapoden durch
eine Anzahl von sehr auffallenden anatomischen Merkmalen.
Aeußerlich tritt vor Allem die Haarbedeckung der Haut
hervor, sowie der Besitz von zweierlei Hautdrüsen:
Schweißdrüsen und Talgdrüsen. Aus einer lokalen
Umbildung dieser Drüsen an der Bauchhaut entstand
(während der Trias-Periode?) dasjenige Organ, welches für
die Klasse besonders charakteristisch ist und ihr den Namen gegeben
hat, das "Gesäuge" (Mammarium). Dieses wichtige
Werkzeug der Brutpflege ist zusammengesetzt aus den
Milchdrüsen (Mammae) und den Mammar-Taschen
(Falten der Bauchhaut); durch ihre Fortbildung entstanden die Zitzen
oder "Milchwarzen" (Masta), aus denen das junge Mammale
die Milch seiner Mitter saugt. Im inneren Körperbau ist besonders
bemerkenswerth der Besitz eines vollständigen Zwerchfells
(Diaphragma), einer muskulösen Scheidewand, welche bei
allen Säugethieren - und nur bei diesen! - die
Brusthöhle von der Bauchhöhle gänglich
abschließt; bei allen übrigen Wirbelthieren fehlt diese
Trennung. Durch eine Anzahl von merkwürdigen Umbildungen
zeichnet sich der Schädel der Mammalien aus, besonders
der Bau des Kieder-Apparates (Oberkiefer, Unterkieter und
Gehörknochen). Aber auch das Gehirn, das Geruchsorgan, das Herz,
die Lungen, die inneren und äußeren Geschlechtsorgane, die
Nieren und anderen Körpertheile zeigen bei den
Säugethieren besondere Eigenthümlichkeit im
gröberen und feineren Bau; diese alle vereinigt weisen
unzweideutig auf eine frühzeitige Trennung derselben von den
älteren Stammgruppen der Reptilien und Amphibien hin, welche
spätestens in der Trias-Periode - vor mindestens
zwölf Millionen Jahren! - stattgefunden hat. In allen diesen
wichtigen Beziehungen ist der Mensch ein echtes
Säugethier.
Placentalien-Natur des Menschen. Die zahlreichen Ordnungen
(12-33), welche die moderne systematische Zoologie in der Klasse der
Säugethiere unterscheidet, werden schon seit 1816 (nach
Blainville) in drei natürliche Hauptgruppen geordnet,
welchen man den Werth von Unterklassen zuspricht: I
Gabelthiere (Monotrema), II. Beutelthere
(Marsupialia) und III. Zottenthiere (Placentalia).
Diese drei Subklassen unterscheiden sich nicht nur in wichtigen
Verhältnissen des Körperbaues und der Entwickelung,
sondern entsprechen auch drei verschiedenen historischen
Bildungsstufen der Klasse, wie wir später sehen werden. Auf
die älteste Gruppe, die Monotremen der Trias-Periode, sind
in der Jura-Zeit die Marsupialien gefolgt, und auf diese erst in der
Kreide-Periode die Placentalien. Zu dieser jüngsten
Subklasse gehört auch der Mensch; denn er zeigt in seiner
Organisation Eigenthümlichkeiten, durch welche sich
sämmtliche Zottenthiere von Beutelthieren und den noch
älteren Gabelthieren unterscheiden. In erster Linie gehört
dahin das eigenthümliche Organ, welches der Placentaliengruppe
ihren Namen gegeben hat, der Mutterkuchen (Placenta).
Dasselbe dient dem jungen, im Mutterleibe noch eingeschlossenen
Mammalien-Embryo längere Zeit zur Ernährung; es besteht
in blutführenden Zotten, welche von der Zottenhaut
(Chorion) der Keimhülle auswachsen und in entsprechende
Grübchen der Schleimhaut des des mütterlichen
Fruchtbehälters (Uterus) eindringen; hier wird die zarte
Haut zwischen beiden Gebilden so sehr verdünnt, daß
unmittelbar die ernährenden Stoffe aus dem mütterlichen
Blute durch dieselbe hindurch in das kindliche Blut übertreten
können. Diese vortreffliche, erst spät entstandene
Ernährungsart des Keimes ermöglicht demselben einen
längeren Aufenthalt und eine weitere Ausbildung in der
schützenden Gebärmutter; sie fehlt noch den
Implacentalien, den beiden älteren Subklassen der
Beutelthiere und Gabelthiere. Aber auch durch andere anatomische
Merkmale, insbesondere die höhere Ausbildung des Gehirns und
den Verlust des Beutelknochen, erheben sich die Zottenthiere über
ihre Implacentalien-Ahnen. In allen diesen wichtigen Beziehungen ist
der Mensch ein echtes Zottenthier.
Primaten-Natur des Menschen. Die formenreiche Subklasse
der Placental-Thiere wird neuerdings in eine große Zahl von
Ordnungen getheilt; gewöhnlich werden deren 10-16
angenommen; wenn man aber die wichtigsten, in neuester Zeit
entdeckten, ausgestorbenen Formen gehörig berücksichtigt,
steigt ihre Zahl auf mindestens 20-26. Zur besseren Uebersucht dieser
zahlreichen Ordnungen und zur tieferen Einsicht in ihren
verwandtschaftlichen Zusammenhang ist es sehr wichtig, sie in
natürliche größere Gruppen zusammenzustellen, denen
ich den Werth von Legionen gegeben habe. In meinem neuesten
Versucht, das verwickelte Placentalien-System phylogenetisch zu
ordnen, habe ich zur Aufnahme der 26 Ordnungen 8 solche Legionen
aufgestellt und gezeigt, daß diese sich auf 4 Stammgruppen
zurückführen lassen. Diese letzteren sind wiederum auf eine
gemeinsame älteste Stammgruppe aller Placentalien
zurückführbar, auf die fossilen Urzottenthiere, die
Prochoriaten der Kreideperiode. Diese schließen sich
unmittelbar an die Marsupialien-Ahnen der Juraperiode an. Als
wichtigste Vertreter führen wir hier nur die Nagethiere, Hufthiere,
Raubthiere und Herrenthiere an. Zur Legion der Herrenthiere
(Primates) gehören die drei Ordnungen der Halbaffen
(Prosimiae), der echten Affen (Simiae) und der Menschen
(Anthropi). Alle Angehörigen dieser drei Ordnungen
stimmen in vielen wichtigen Eigenthümlichkeiten überein
und unterscheiden sich dadurch von den 23 übrigen Ordnungen
der Zottenthiere. Besonders zeichnen sie sich durch lange Beine aus,
welche ursprünglich der kletternden Lebensweise auf
Bäumen angepaßt sind. Hände und Füße
sind fünfzehig und die langen Finger vortrefflich zum Greifen und
zum Umfassen der Baumzweite geeignet; sie tragen entweder theilweise
oder sämmtlich Nägel (keine Krallen). Das Gebiiß ist
vollständig, aus allen vier Zahlreihen zusammengesetzt
(Schneidezähne, Eckzähne, Lückenzähne,
Backenzähne). Auch durch wichtige Eigenthümlichkeiten im
besonderen Bau des Schädels und des Gehirns unterscheiden sich
die Herrenthiere von den übrigen Zottenthieren, und zwar umso
auffälliger, je höher sie ausgebildet, je später sie in der
Erdgeschichte aufgetreten sind. In allen diesen wichtigen anatomischen
Beziehungen stimmt unser menschlicher Organismus mit demjenigen
der übrigen Primaten überein: der Mensch ist ein
echtes Herrenthier.
Affen-Natur des Menschen. Eine unbefangene gründliche
Vergleichung des Körperbaues der Primaten läßt
zunächst in dieser höchst entwickelten Mammalien-Legion
zwei Ordnungen unterscheiden: Halbaffen (Prosimiae oder
Hemipitheci) und Affen (Simiae oder Pitheci).
Die ersteren erscheinen in jeder Beziehung als die niedere und
ältere, die letzteren als die höhere und jüngere
Ordnung. Die Gebärmutter der Halbaffen ist noch doppel- oder
zweihörnig, wie bei allen übrigen Säugethieren; bei
den Affen dagegen sind rechter und linker Fruchtbehälter
völlig verschmolzen; sie bilden einen birnförmigen
Uterus, wie ihn außerdem nur der Mensch besitzt. Wie bei
diesem, so ist auch bei den Affen am Schädel die
Augenhöhle von Schläfengrube durch eine knöcherne
Scheidewand vollständig getrennt; bei den Halbaffen ist diese noch
gar nicht oder nur unvollständig ausgebildet. Endlich ist bei den
Halbaffen das große Gehirn noch glatt oder nur schwach gefurcht,
verhältnißmäßig klein; bei den Affen ist es viel
größer, und besonders der graue Hirnmantel, das Organ der
höheren Seelenthätigkeiten, ist viel besser entwickelt; an
seiner Oberfläche sind die charakteristischen Windungen und
Furchen um so mehr ausgeprägt, je mehr er sich dem Menschen
nähert. In diesen und anderen wichtigen Beziehungen, besonders
in der Bildung des Gesichts und der Hände, zeigt der Mensch
alle anatomischen Merkmale der echten Affen.
Katarrhinen-Natur des Menschen. Die formenreiche Ordnung
der Affen wurde schon 1812 von Geoffroy in zwei
natürliche Unterordnungen getheilt, die noch heute allgemein in
der systematischen Zoologie angenommen sind: Westaffen
(Platyrrhinae) und Ostaffen (Catarrhinae); erstere
bewohnen ausschließlich die westliche, letztere die östliche
Erdhälfte. Die amerikanischen Westaffen heißen
"Plattnasen" (Platyrrhinae), weil ihre Nase
plattgedrückt, die Nasenlöcher seitlich gerichtet und deren
Scheidewand breit ist. Dagegen sind die Ostaffen, welche die Alte
Welt bewohnen, sämmtlich "Schmalnasen"
(Catarrhinae); ihre Nasenlöcher sind wie beim Menschen
nach unten gerichtet, da ihre Scheidewand schmal ist. Ein weiterer
Unterschied beider Gruppen besteht darin, daß das Trommelfell bei
den Westaffen oberflächlich, dagegen bei den Ostaffen tiefer, im
Innern des Felsenbeins liegt; hier hat sich ein langer und enger
knöcherner Gehörgang entwickelt, während dieser bei
den Westaffen noch kurz und weit ist oder selbst ganz fehlt. Endlich
zeigt sich ein sehr wichtiger und durchgreifender Gegensatz beider
Gruppen darin, daß alle Katarrhinen die Gebiß-Bildung des
Menschen besitzen, nämlich 20 Milchzähne und 32
bleibende Zähne (in jeder Kieferhälfte 2
Schneidezähne, 1 Eckzahn, 2 Lückenzähne und 2
Mahlzähne). Die Platyrrhinen dagegen zeigen in jeder
Kieferhälfte einen Lückenzahn mehr, also in Ganzen 36
Zähne. Da diese anatomischen Unterschiede beider Affengruppen
ganz allgemein und durchgreifend sind, und da sie mit der
geographischen Verbreitung in den beiden getrennten
Hemisphären der Erde zusammenstimmen, ergiebt sich daraus die
Berechtigung ihrer scharfen systematischen Trennung, und weiterhin
der daran geknüpften phylogenetischen Folgerung, daß sei
sehr langer Zeit (seit mehr als einer Million Jahre) sich beide
Unterordnungen in der westlichen und östlichen Hemisphäre
getrennt voneinander entwickelt haben. Das ist für die
Stammesgeschichte unseres Geschlechts überaus wichtig; denn der
Mensch theilt alle Merkmale der echten Katarrhinen; er hat sich
aus älteren ausgestorbenen Affen dieser Unterordnung in der
Alten Welt entwickelt.
Anthropomorphen-Gruppe. Die zahlreichen Formen der
Katarrhinen, welche noch heute in Asien und Afrika leben, werden
schon seit langer Zeit in zwei natürliche Sectionen getheilt: die
geschwänten Hundsaffen (Cynopitheca) und
schwanzlosen Menschenaffen (Anthropomorpha). Diese
letzteren stehen dem Menschen viel näher als die ersteren, nicht
nur in dem Mangel des Schwanzes und in der allgemeinen Gestaltung
des Körpers (besonders des Kopfes), sondern auch durch
besondere Merkmale, die an sich unbedeutend, aber wegen ihrer
Beständigkeit wichtig sind. Das Kreuzbein ist bei den
Menschenaffen, wie beim Menschen, aus fünf verschmolzenen
Wirbeln zusammengesetzt, dagegen bei den Hundsaffen nur aus drei
(seltener vier) Kreuzwirbeln. Im Gebiß der Cynopitheken
sind die Lückenzähne (Praemolares) länger als
breit, in demjenigen der Anthropomorphen breiter als lang; und
der erste Mahlzahl (Molaris) zeigt bei den ersteren vier, bei den
letzteren dagegen fünf Höcker. Ferner ist im Unterkiefer
jederseits bei den Menschenaffen, wie beim Menschen, der
äußere Schneidezahn breiter als der innere, bei den
Hundsaffen umgekehrt schmäler. Endlich ist von besonderer
Bedeutung die wichtigste, erst 1890 durch Selenka festgestellte
Thatsache, daß die Menschenaffen mit dem Menschen auch die
eigenthümlichen feineren Bildungsverhältnisse seiner
scheibenförmigen Placenta, der Decidua reflexa und
des Bauchstiels theilen (vergl. Kap. 4).
Uebrigens ergiebt schon die oberflächliche Vergleichung der
Körperform der heute noch lebenden Anthropomorphen, daß
sowohl die asiatischen Vertreter dieser Gruppe (Orang und Gibbon), als
die afrikanischen Vertreter (Gorilla und Schimpanse) dem Menschen im
gesammten Körperbau näher stehen als sämmtliche
Cynopitheken. Unter diesen letzteren stehen namentlich die
hundsköpfigen Papstaffen (Papiomorpha), die
Paviane und Meerkatzen, auf einer sehr tiefen Bildungsstufe. Der
anatomische Unterschied zwischen diesen rohen Papstaffen und den
höchst entwickelten Menschenaffen ist in jeder Beziehung -
welches Organ man auch vergleichen mag! - größer als
derjenige zwischen den letzteren und dem Menschen. Diese lehrreiche
Thatsache wurde besonders eingehend (1883) von dem Anatomen
Robert Hartmann begründet in seiner Schrift über
"Die menschenähnlichen Affen und ihre Organisation im
Vergleiche zur menschlichen;" er schlug daher vor, die Affen-Ordnung in
anderer Weise einzutheilen, in die beiden Hauptgruppen der
Primarier (Menschen und Menschenaffen) und der eigentlichen
Simien oder Pitheken (die übrigen Katarrhinen und alle
Platyrrhinen). Jedenfalls ergiebt sich daraus die engste
Verwandtschaft des Menschen mit den Menschenaffen.
Die vergleichende Anatomie ergiebt somit für den unbefangenen
und kritischen Forscher die bedeutungsvolle Thatsache, daß der
Körperbau des Menschen und der Menschenaffen nicht nur im
höchsten Grade ähnlich, sondern in allen wesentlichen
Beziehungen derselbe ist. Dieselben 200 Knochen, in der gleichen
Anordnung und Zusammensetzung, bilden unser inneres
Knochengerüst; dieselben 300 Muskeln bewirken unsere
Bewegungen; dieselben Haare bedecken unsere Haut; dieselben Gruppen
von Ganglienzellen setzen den kunstvollen Wunderbau unseres Gehirns
zusammen; dasselbe vierkammerige Herz ist das centrale Pumpwerk
unseres Blutkreislaufs; dieselben 32 Zähne setzen in der gleichen
Anordnung unser Gebiß zusammen; dieselben
Speicheldrüsen, Leber- und Darmdrüsen vermitteln unsere
Verdauung; dieselben Organe der Fortpflanzung ermöglichen die
Erhaltung unseres Geschlechts.
Allerdings finden wir bei genauer Vergleichung gewisse geringe
Unterschiede in der Größe und Gestalt der
meisten Organe zwischen dem Menschen und Menschenaffen; allein
dieselben oder ähnliche Unterschiede entdecken wir auch bei der
sorgfältigen Vergleichung der höheren und niederen
Menschenrassen, ja sogar bei der exakten Vergleichung aller einzelnen
Individuen unserer eigenen Rasse. Wir finden nicht zwei Personen in
derselben, welche ganz genau dieselbe Größe und Form der
Nase, der Ohren, der Augen u. s. w. haben. Man braucht bloß
aufmerksam in einer größeren Gesellschaft diese einzelnen
Theile der menschlichen Gesichtsbildung bei zahlreichen
Personen zu vergleichen, um sich von der erstaunlichen Mannigfaltigkeit
in deren specieller Gestaltung, von der weitgehenden Variabilität
der Species-Form zu überzeugen. Oft sind ja bekanntlich selbst
Geschwister von so verschiedener Körperbildung, daß ihre
Abstammung von einem und demselben Elternpaare kaum glaublich
erscheint. Alle diese individuellen Unterschiede
beeinträchtigen aber nicht das Gewicht der fundamentalen
Gleichheit im Körperbau; denn sie sind nur bedingt
durch geringe Verschiedenheiten in Wachsthum der einzelnen
Theile.
Drittes Kapitel.
Unser Leben.
Monistische Studien über menschliche und vergleichende
Physiologie. Uebereinstimmung in allen Lebensfunktionen des Menschen
und der Säugethiere.
------
Inhalt: Entwickelung der Physiologie im Alterthum und
Mittelalter. Galenus. Experiment und Vivisektion. Entdeckung des
Blutkreislaufs durch Harvey. Lebenskraft (Vitalismus): Haller.
Teleologische und vitalistische Auffassung des Lebens. Mechanistische
und monistische Beurtheilung der physiologischen Prozesse.
Vergleichende Physiologie des 19. Jahrhunderts: Johannes Müller.
Cellular-Physiologie: Max Verworn. Cellular-Pathologie: Virchow.
Säugethier-Physiologie. Uebereinstimmung aller
Lebensthätigkeiten beim Menschen und Affen.
Unsere Kenntniß vom menschlichen Leben hat sich erst innerhalb
des 19. Jahrhunderts zum Range einer selbstständigen, wirklichen
Wissenschaft erhoben; sie hat sich erst innerhalb desselben zu
einem der vornehmsten, interessantesten und wichtigsten Wissenzweige
entwickelt. Diese "Lehre von den Lebensthätigkeiten", die
Physiologie, hat sich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine
wünschenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung für
erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in
engem Zusammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom
Körperbau. Aber sie konnte erst viel später und langsamer
als diese letztere gründlich erforscht werden, da sie auf viel
größere Schwierigkeiten stieß.
Der Begriff des Lebens, als Gegensatz zum Tode, ist
natürlich schon sehr frühzeitig Gegenstand des Nachdenkens
gewesen. Man beobachtete am lebenden Menschen wie an den
lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen
Veränderungen, vorzugsweise Bewegungen, welche den
"todten" Naturkörpern fehlten: selbstständige Ortsbewegung,
Herzklopfen, Athemzüge, Sprache u. s. w. Allein die
Unterscheidung solcher "organischen Bewegungen" von ähnlichen
Erscheinungen bei anorganischen Naturkörpern war nicht leicht
und oft verfehlt; das fließende Wasser, die flackernde Flamme, der
wehende Wind, der stürzende Fels zeigten dem Menschen ganz
ähnliche Veränderungen, und es war sehr natürlich,
daß der naive Naturmensch auch diesen "todten Körpern" ein
selbstständiges Leben zuschrieb. Von den bewirkenden Ursachen
konnte man sich ja bei den letzteren ebenso wenig befriedigende
Rechenschaft geben als bei den ersteren.
Menschliche Physiologie. Die ältesten wissenschaftlichen
Betrachtungen über das Wesen der menschlichen
Lebensthätigkeiten treffen wir (ebenso wie diejenigen über
den Körperbau des Menschen) bei den griechischen
Naturphilosophen an Aerzten im sechsten und fünften
Jahrhundert vor Chr. Die reichste Sammlung von bezüglichen,
damals bekannten Thatsachen finden wir in der Naturgeschichte des
Aristoteles; ein großer Theil seiner Angaben rührt
wahrscheinlich schon von Demokritos und Hippokrates
her. Die Schule des Letzteren stellte auch bereits Erklärungs-Versuche an; sie nahm als Grundursache des Lebens bei Menschen und
Thieren einen flüchtigen "Lebensgeist" an (Pneuma);
und Erasistratus (280 vor Chr.) unterschied bereits einen
niederen und einen höheren Lebensgeist, das Pneuma
zoticon im Herzen und das Pneuma psychicon im
Gehirn.
Der Ruhm, alle diese zerstreuten Kenntnisse zusammengefaßt und
den ersten Versuch zu einem System der Physiologie gemacht zu haben,
gebührt dem großen griechischen Arzte Galenus,
demselben, den wir auch als den ersten großen Anatomen des
Alterthums kennen gelernt haben (vergl. S. 15). Bei seinen
Untersuchungen über die Organe des menschlichen
Körpers stellte er sich beständig auch die Frage nach ihren
Lebensthätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei
verfuhr ervergleichend und untersuchte vor Allem die
menschenähnlichen Thiere, die Affen. Die Erfahrungen, die
er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menschen. Er
erkannte auch bereits den hohen Werth des physiologischen
Experimentes: bei Vivisektion von Affen, Hunden und Schweinen
stellte er verschiedene interessante Versuche an. Die
Vivisektionen sind neuerdings nicht nur von unwissenden und
beschränkten Leuten, sondern auch von wissensfeindlichen
Theologen und von gefühlsseligen Gemüthsmenschen
vielfach auf das Heftigste angegriffen worden; sie gehören aber zu
den unentbehrlichen Methoden der Lebens-Forschung und haben
uns unschätzbare Aufschlüsse über die wichtigsten
Fragen gegeben; diese Thatsache wurde schon vor 1700 Jahren von
Galenus erkannt.
Alle verschiedenen Funktionen des Körpers führt
Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entsprechend den
drei Formen des Pneuma, des Lebensgeistes oder "Spiritus".
Das Pneuma psychicon - die "Seele" - hat ihren Sitz in
Gehirn und den Nerven, sie vermittelt das Denken, Empfinden
und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma
zoticon - das "Herz" - bewirkt die "sphygmischen Funktionen", den
Herzschlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma
physicon endlich, in der Leber befindlich, ist die Ursache der
sogenannten vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung
und des Stoffwechsels, des Wachstums und der Fortpflanzung. Dabei
legte er besonderes Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den
Lungen und sprach die Hoffnung aus, daß es dereinst gelingen
werde, aus der atmosphärischen Luft den Bestandtheil
auszuscheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut
aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verflossen,
ehe dieses Respirations-Pneuma - der Sauerstoff - durch
Lavoisier entdeckt wurde.
Ebenso wie für die Anatomie des Menschen, so blieb auch
für seine Physiologie das großartige System des
Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn
Jahrhunderten der Codex aureus, die unantastbare Quelle aller
Kenntnisse. Der kulturfeindliche Einfluß des Christenthums
bereitete auch auf diesem, wie auf allen anderen Gebieten der
Naturerkenntniß die unüberwindlichsten Hindernisse. Vom
dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forscher auf,
der gewagt hätte, selbstständig wieder die
Lebensthätigkeiten des Menschen zu untersuchen und über
den Bezirk des Systems von Galenus hinauszugehen. Erst im 16.
Jahrhundert wurden dazu mehrere bescheidene Versuche von
angesehenen Aerzten und Anatomen gemacht (Paracelsus,
Servetus, Vesalius u. A.). Aber erst im Jahre 1628
veröffentliche der englische Arzt Harvey seine große
Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz
ein Pumpwerk ist, welches durch regelmäßige,
unbewußte Zusammenziehung seiner Muskeln die Blutwelle
unablässig durch das kommunicirende Röhrensystem der
Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren
Harvey's Untersuchungen über die Zeugung der Thiere, in
Folge deren er den berühmten Satz aufstellte: "Alles Lebendige
entwickelt sich aus einem Ei" (omne vivum ex ovo).
Die mächtige Anregung zu physiologischen Beobachtungen und
Versuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16.
und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen.
Diese faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des
18. Jahrhunderts zum ersten Male zusammen; in seinem großen
Werke "Elementa physiologiae" begründete er den
selbstständigen Werth dieser Wisserschaft und nicht nur in ihrer
Beziehung zur praktischen Medicin. Indem aber Haller für
die Nerven-Thätigkeit eine besondere "Empfindungskraft oder
Sensibilität" und ebenso für die Muskelbewegung eine
besondere "Reizbarkeit oder Irritabilität" als Ursache annahm,
lieferte er mächtige Stützen für die irrthümliche
Lehre von einer eigenthümlichen "Lebenskraft" (Vis
vitalis). (Vergl. Anm. 2, S. 157.)
Lebenskraft (Vitalismus). Ueber ein volles Jahrhundert
hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, blieb
in der Medicin, und speciell in der Physiologie, die alte Anschauung
herrschend, daß zwar ein Theil der Lebens-Erscheinungen auf
physikalische und chemische Vorgänge
zurückzuführen sei, daß aber ein anderer Theil
derselben durch eine besondere, davon unabhängige
Lebenskraft (Vis vitalis) bewirkt werde. So
verschiedenartig auch die besonderen Vorstellungen vom Wesen
derselben und besonders von ihrem Zusammenhang mit der "Seele" sich
ausbildeten, so stimmten doch alle darin überein, daß die
Lebenskraft von den physikalisch-chemischen Kräften der
gewöhnlichen "Materie" unabhängig und wesentliche
verschieden sei; als eine selbstständige, der anorganischen Natur
fehlende "Urkraft" (Archaeus) sollte sie die ersten in ihren
Dienst nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit selbst, die
Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln,
sondern auch Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der
Fortpflanzung und Entwicklung erschienen allgemein so wunderbar und
in ihren Ursachen so räthselhaft, daß es unmöglich sei,
sie auf einfache physikalische und chemische Naturprozesse
zurückzuführen. Da die freie Thätigkeit der
Lebenskraft zweckmäßig und bewußt wirkte,
führte sie in der Philosophie zu einer vollkommenen
Teleologie; besonders erschien diese unbestreitbar, seitdem selbst
der "kritische" Philosoph Kant in seiner berühmten Kritik
der teleologischen Urtheilskraft zugestanden hatte, daß zwar die
Befugniß der menschlichen Vernunft zur mechanischen
Erklärung aller Erscheinungen ungeschränkt sie, daß
aber die Fähigkeit dazu bei den Erscheinungen des organischen
Lebens aufhöre; hier müsse man nothgedrungen zu einem
"zweckmäßig thätigen", also
übernatürlichen Prinzip seine Zuflucht nehmen.
Natürlich wurde der Gegensatz dieser vitalen
Phänomene zu den mechanischen Lebensthätigkeiten
um so auffälliger, je weiter man in der chemischen und
physikalischen Erklärung der letzteren gelangte. Der Blutkreislauf
und ein Theil der anderen Bewegungs-Erscheinungen leißen sich
auf mechanische Vorgänge, die Athmung und Verdauung auf
chemische Processe gleich denjenigen in der anorganischen Natur
zurückführen; dagegen bei den wunderbaren Leistungen der
Nerven und Muskeln wie im eigentlichen "Seelenleben" schien das
unmöglich; und auch das einheitliche Zusammenwirken aller
dieser verschiedenen Kräfte im Leben des Individuums erschien
damit unerklärbar. So entwickelte sich ein vollständiger
physiologischer Dualismus - ein principieller Gegensatz zwischen
anorganischer und organischer Natur, zwischen materieller Kraft und
Lebenskraft, zwischen Leib und Seele. Im Beginne des 19. Jahrhunderts
wurde dieser Vitalismus besonders eingehend durch Louis Dumas
in Frankreich begründet, durch Reil in Deutschland. Eine
schöne poetische Darstellung desselben hatte schon 1795
Alexander Humbold in seiner Erzählung vom Rhodischen
Genius gegeben (- wiederholt mit kritischen Anmerkungen in den
"Ansichten der Natur" -).
Der Mechanismus des Lebens (monistische Physiologie). Schon
in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der
berühmte Philosoph Descartes, fußend auf
Harvey's Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken
ausgesprochen, daß der Körper des Menschen ebenso wie der
Thiere eine komplizirte Maschine sei, und daß ihre
Bewegungen nach denselben mechanischen Gesetzen erfolgen wie bei
den künstlichen, vom Menschen für einen bestimmten
Zweck gebauten Maschinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem
für den Menschen allein eine vollkommene Selbstständigkeit
der immateriellen Seele an und erklärte sogar deren subjektive
Empfindung, das Denken für das Einzige in der Welt, von dem wir
unmittelbar ganz sichere Kenntniß besitzen ("Cogito, ergo
sum!"). Allein dieser Dualismus hinderte ihn nicht, im Einzelnen die
Erkenntniß der mechanischen Lebensthätigkeiten vielseitig
zu fördern. Im Anschluß daran führte Borelli
(1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein physikalische
Gesetze zurück, und gleichzeitig versuchte Sylvius, die
Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemische
Processe zu erklären; Ersterer begründete in Medicin eine
iatromechanische, Letzterer eine iatrochemische Schule.
Allein diese vernünftigen Ansätze zu einer
naturgemäßen, mechanischen Erklärung der Lebens-Erscheinungen vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung
zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten sie ganz
zurück, je mehr sich der teleologische Vitalismus entwickelte. Eine
endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur
ersteren wurde erst vorbereitet, als im vierten Decennium des 19.
Jahrhunderts die neue vergleichende Physiologie sich zu
fruchtbarer Geltung erhob.
Vergleichende Physiologie. Wie unsere Kenntnisse vom
Körperbau des Menschen, so wurden auch diejenigen von seiner
Lebensthätigkeit ursprünglich größtentheils nicht
durch direkte Beobachtung am menschlichen Organismus selbst
gewonnen, sondern an den nächstverwandten Wirbelthieren, vor
allem den Säugethieren. Insofern waren schon die
ältesten Anfänge der menschlichen Anatomie und
Physiologie "vergleichend". Aber die eigentliche "vergleichende
Physiologie", welche das ganze Gebiet der Lebens-Erscheinungen von
den niedersten Thieren bis zum Menschen hinauf im Zusammenhang
erfaßt, ist erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts; ihr
großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin
(geb. 1801 in Coblenz als Sohn eines Schuhmachers). Von 1833 bis 1858,
volle 25 Jahre hindurch, entfaltete dieser vielseitigste und umfassendste
Biologe unserer Zeit an der Berliner Universität als Lehrer und
Forscher eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirksamkeit
von Haller und Cuvier zu vergleichen ist. Fast alle
großen Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutschland
lehrten und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von
Johannes Müller. Ursprünglich ausgehend von der
Anatomie und Physiologie des Menschen, zog derselbe bald alle
Hauptgruppen der höheren und niederen Thiere in den Kreis
seiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgestorbenen
Thiere mit den lebenden, den gesunden Organismus des Menschen mit
dem kranken verglich, indem er wahrhaft philosophisch alle
Erscheinungen des organischen Lebens zusammenzufassen strebte,
erhob er sich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der
biologischen Erkenntniß.
Die werthvollste Frucht dieser umfassenden Studien von Johannes
Müller war sein "Handbuch von der Physiologie des
Menschen" (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte
Auflage 1844). Dieses klassiche Werk gab viel mehr, als der Titel besagt;
es ist der Entwurf zu einer umfassenden "Vergleichenden
Biologie". Noch heute steht dasselbe in Bezug auf Inhalt und Umfang
des Forschungsgebietes unübertroffen da. Insbesondere sind darin
die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenso
mustergültig angewendet wie die philosophischen Methoden der
Induktion und Deduktion. Allerdings war Müller
ursprünglich, gleich allen Physiologen seiner Zeit, Vitalist. Allein
die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue
Form an und verwandelte sich allmählich in ihr principielles
Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war
Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu
erklären; seine reformirte Lebenskraft steht nicht
über den physikalischen und chemischen Gesetzen der
übrigen Natur, sondern sie ist streng an dieselben
gebunden; sie ist schließlich weiter nichts als das
"Leben" selbst, d. h. die Summe aller Bewegungs-Erscheinungen,
die wir am lebendigen Organismus wahrnehmen. Ueberall war er
bestrebt, dieselben mechanisch zu erklären, in dem Sinnes- und
Seelen-Leben wie in der Thätigkeit der Muskeln, in den
Vorgängen des Blutkreislaufs, der Athmung und Verdauung wie in
den Erscheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die
größten Fortschritte führte hier Müller
dadurch herbei, daß er überall von den einfachsten Lebens-Erscheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt für Schritt
ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum
höchsten, zum Menschen, hinauf verfolgte. Hier bewährte
sich seine Methode der kritischen Vergleichung ebenso wie in der
Physiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller ist
zugleich der einzige große Naturforscher geblieben, der diese
verschiedenen Seiten der Forschung gleichmäßig ausbildete
und gleich glänzend in sich vereinigte. Gleich nach seinem Tode
zerfiel sein gewaltiges Lehrgebiet in vier verschiedene Provinzen, die
jetzt fast allgemein durch vier oder mehr ordentliche Lehrstühle
vertreten werden: Menschliche und vergleichende Anatomie,
pathologische Anatomie, Physiologie und Entwickelungsgeschichte. Man
hat die Arbeitstheilung dieses ungeheuren Wissensgebietes, die jetzt
(1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches
verglichen, welches einst Alexander der Große vereinigt beherrscht
hatte.
Cellular-Physiologie. Unter den zahlreichen Schülern von
Johannes Müller, welche theils schon bei seinen Lebzeiten,
theils nach seinem Tode die verschiedenen Zweige der Biologie
mächtig förderten, war einer der glücklichsten (wenn
auch nicht der bedeutendste!) Theodor Schwann. Als 1838 der
geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das
gemeinsame Elementar-Organ der Pflanzenerkannt und alle
verschiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zusammengesetzt
aus Zellen nachgewiesen hatte, erkannte Johannes Müller
sofort die außerordentliche Tragweite dieser Entdeckung: er
versuchte selbst, in verschiedenen Geweben des Thierkörpers, so
z. B. in der Chorda dorsalis der Wirbelthiere, die gleiche
Zusammensetzung nachzuweisen, und veranlaßte sodann seinen
Schüler Schwann, diesen Nachweis auf alle thierischen
Gewebe auszudehnen. Diese schwierige Aufgabe löste der Letztere
glücklich in seinen "Mikroskopischen Untersuchungen über
die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere
und Pflanzen" (1839). Damit war der Grundstein für die Zellen-Theorie gelegt, deren fundamentale Bedeutung ebenso für die
Physiologie wie für die Anatomie seitdem von Jahr zu Jahr
zugenommen und sich immer allgemeiner bewährt hat. Daß
auch die Lebensthätigkeit aller Organismen auf diejenige ihrer
Gewebetheile, der mikroskopischen Zellen, zurückgeführt
werden müsse, führten namentlich zwei andere
Schüler von Johannes Müller aus, der scharfsinnige
Phyisologe Ernst Brücke in Wien und der berühmte
Histologe Albert Kölliker in Würzburg. Der Erstere
bezeichnete die Zellen richtig als "Elementar-Organismen" und zeigte,
daß sie ebenso im Körper des Menschen wie aller anderen
Thiere die einzigen aktuellen, sebstständig thätigen Faktoren
des Lebens sind. Kölliker erwarb sich besondere Verdienste
nicht nur um die Ausbildung der gesammten Gewebelehre, sondern
auch namentlich durch den Nachweis, daß das Ei der Thiere, sowie
die daraus entstehenden "Furchungskugeln" einfache Zellen sind.
So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellentheorie für
alle biologischen Aufgaben erkannt wurde, so wurde doch die darauf
gegründete Cellular-Physiologie erst in neuester Zeit
selbstständig ausgebaut. Hier hat namentlich Max Verworn
(in Jena) sich ein doppeltes Verdienst erworben. In seinen "Phyche-physiologischen Protisten-Studien" (1889) hat derselbe auf Grund
sinnreicher experimenteller Untersuchungen gezeigt, daß die von
mir (1866) aufgestellte "Theorie der Zellseele" durch das genaue
Studium der einzelligen Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und
daß "die psychischen Vorgänge im Protistenreiche die
Brücke bilden, welche die chemischen Processe in der
unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Thiere
verbindet". Weiter ausgeführt und gestützt auf die moderne
Entwickelungslehre hat Verworn diese Ansichten in seiner
"Allgemeinen Physiologie" (zweite Auflage1897). Dieses ausgezeichnete
Werk geht zum ersten Male wieder auf den umfassenden Standpunkt
von Johannes Müller zurück im Gegensatze zu den
einseitigen und beschränkten Methoden jener modernen
Physiologen, welche glauben, ausschließlich durch physikalische
und chemische Experimente das Wesen der Lebens-Erscheinungen
ergründen zu können. Verworn zeigte, daß nur
durch die vergleichende Methode Müller's und
durch das Vertiefen in die Physiologie der Zelle jener
höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns einen
einheitlichen Ueberblick über das wundervolle Gesammt-Gebiet
der Lebens-Erscheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir zu
der Ueberzeugung, daß auch die sämmtlichen
Lebensthätigkeiten des Menschen denselben Gesetzen der Physik
und Chemie unterliegen, wie diejenigen aller anderen Thiere.
Cellular-Pathologie. Die fundamentale Bedeutung der Zellen-Theorie für alle Zweige der Biologie bewährte sich in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein in den
großartigen Fortschritten der gesammten Morphologie und
Physiologie, sondern auch besonders in der totalen Reform derjenigen
biologischen Wissenschaft, welche vermöge ihrer Beziehungen zur
praktischen Heilkunst von jeher die größte Bedeutung in
Anspruch nahm, der Pathologie oder Krankheitslehre. Daß
die Krankheiten des Menschen wie aller übrigen Lebewesen
Natur-Erscheinungen sind und also gleich den übrigen
Lebens-Funktionen nur naturwissenschaftlich erforscht werden
können, war ja schon vielen älteren Aerzten zur festen
Ueberzeugung geworden. Auch hatten schon im 17. Jahrhundert
einzelne medicinische Schulen, die Jatrophysiker und
Jatrochemiker, den Versuch gemacht, die Ursachen der
Krankheiten auf bestimmte physikalische oder chemische
Veränderungen zurückzuführen. Allein der damalige
niedere Zustand der Naturwissenschaften verhinderte einen bleibenden
Erfolg dieser berechtigten Bestrebungen. Daher blieben mehrere
ältere Theorien, welche das Wesen der Krankheit in
übernatürlichen oder mystischen Ursachen suchten, bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts in fast allgemeiner Geltung.
Erst um diese Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls ein
Schüler von Johannes Müller, den glücklichen
Gedanken, die Zellen-Theorie vom gesunden auch auf den kranken
Organismus zu übertragen; er suchte in den feinen
Veränderungen der kranken Zellen und der aus ihnen
zusammengesetzten Gewebe die wahre Ursache jener gröberen
Veränderungen, welche als bestimmte "Krankheitsbilder" den
lebenden Organismus mit Gefahr und Tod bedrohen. Besonders
während der sieben Jahre seiner Lehrthätigkeit in
Würzburg (1849-1856) führte Virchow diese
große Aufgabe mit so glänzendem Erfolge durch, daß
seine (1858 veräffentlichte) Cellular-Pathologie mit einem
Schlage die ganze Pathologie und die von ihr gestützte praktische
Medicin in neue, höchst fruchtbare Bahnen lenkte. Für
unsere Aufgabe ist diese Reform der Medicin deshalb so bedeutungsvoll,
weil sie uns zu einer monistischen, rein wissenschaftlichen Beurtheilung
der Krankheit führt. Auch der kranke Mensch, ebenso wie der
gesunde, unterliegt denselben "ewigen ehernen Gesetzen" der Physik
und Chemie, wie die ganze übrige organische Welt.
Mammalien-Physiologie. Unter den zahlreichen (50-80)
Thierklassen, welche die neuere Zoologie unterscheidet, nehmen die
Säugethiere (Mammalia) nicht allein in
morphologischer, sondern auch in physiologischer Beziehung eine ganz
besondere Stellung ein. Da nun auch der Mensch seinem ganzen
Körperbau nach zur Klasse der Säugethiere gehört (S.
18), müssen wir von vornherein erwarten, daß er auch den
besonderen Charakter seiner Lebensthätigkeiten mit den
übrigen Mammalien theilen wird. Und das ist in der That der Fall.
Der Blutkreislauf und die Athmung vollziehen sich beim Menschen
genau nach denselben Gesetzen und in derselben eigenthümlichen
Form, welche auch allen anderen Säugethiere - und nur diesen! -
zukommt; sie ist bedingt durch den besonderen, feineren Bau ihres
Herzens und ihrer Lungen. Nur bei den Mammalien wird alles Arterien-Blut aus der linken Herzkammer durch einen - und zwar den linken -
Aorten-Bogen in den Körper geführt, während dies bei
den Vögeln durch den rechten und bei den Reptilien durch beide
Aorten-Bögen bewirkt wird. Das Blut der Säugethiere
zeichnet sich vor demjenigen aller anderen Wirbelthiere dadurch aus,
daß aus ihren roten Blutzellen der Kern verschwunden ist durch
Rückbildung). Die Athem-Bewegungen werden nur in dieser
Thierklasse vorzugsweise durch das Zwergfell vermittelt, weil
dasselbe nur hier eine vollständige Scheidewand zwischen
Brusthöhle und Bauchhöhle bildet. Ganz besonders wichtig
aber ist für diese höchst entwickelte Thierklasse die
Produktion der Milch in den Brustdrüsen (Mammae)
und die besondere Form der Brutpflege, welche die Ernährung des
Jungen durch die Milch der Mutter mit sich bringt. Da dieses
Säuge-Geschäft auch andere Lebensthätigkeiten in der
eingreifendsten Weise beeinflußt, da die Mutterliebe der
Säugethiere aus dieser innigen Form der Brutpflege ihren
Ursprung genommen hat, erinnert uns der Name der Klasse mit Recht an
ihre hohe Bedeutung. In Millionen von Bildern, zum großen Theil
von Künstlern ersten Ranges, wird "die Madonna mit dem
Christurkinde" verherrlicht, als das reinste und erhabendste Urbild der
Mutterliebe; desselben Instinktes, dessen extremste Form die
übertriebene Zärtlichkeit der Affenmutter darstellt.
Physiologie der Affen. Da unter allen Säugethieren die
Affen im gesammten Körperbau dem Menschen am nächsten
stehen, läßt sich von vornherein erwarten, daß dasselbe
auch von ihren Lebensthätigkeiten gilt; und das ist in Wahrheit
der Fall. Wie sehr die Lebensgewohnheiten, die Bewegungen, die
Sinnesfunktionen, das Seelenleben, die Brutpflege der Affen sich
demjenigen des Menschen nähern, weiß Jedermann. Aber die
wissenschaftliche Physiologie weist dieselbe bedeutungsvolle
Uebereinstimmung auch für andere weniger bekannte
Erscheinungen nach, besonders die Herzthätigkeit, die
Drüsen-Absonderung und das Geschlechtsleben. In letzterer
Beziehung ist besonders merkwürdig, daß die
geschlechtsreifen Weibchen bei vielen Affen-Arten einen
regelmäßigen Blutabgang aus dem Fruchtbehälter
erleiden, entsprechend der Menstruation (oder "Monats-Regel") das
menschlichen Weibes. Auch die Milch-Absonderung aus der
Brustdrüse und das Säugegeschäft geschieht bei den
weiblichen Affen genau ebenso wie bei den Frauen.
Besonders interessant ist endlich die Thatsache, daß die
Lautsprache der Affen, physiologisch verglichen, als Vorstufe zu
der artikulirten menschlichen Sprache erscheint. Unter den heute noch
lebenden Menschenaffen giebt es eine indische Art, welche musikalisch
ist: derHylobates syndactylus auf Sumatro singt in vollkommen
reinen und klangvollen, halben Thönen eine ganze Oktave.
Für den unbefangenen Sprachforscher kann es heute keinen
Zweifel mehr unterliegen, daß unsere hochentwickelte Begriffs-Sprache sich langsam und stufenweise aus der unvollkommenen
Lautsprache unserer pliocänen Affen-Ahnen entwickelt hat.
(Vergl. den 18. Vortrag meiner "Anthropogenie".)
Viertes Kapitel
Unsere Keimesgeschichte.
Monistische Studien über menschliche und vergleichende
Ontogenie. Uebereinstimmung der Keimbildung und Entwicklung des
Menschen und der Wirbelthiere.
------
Inhalt: Aeltere Keimesgeschichte. Präformationslehre.
Einschachtelungs-Lehre. Haller und Leibniz. Epigenesis-Lehre. C. F.
Wolff. Keimblätter-Lehre. Carl Ernst Baer. Entdeckung des
menschlichen Eies. Remak. Kölliker. Eizelle und Keimzelle.
Gasträa-Theorie. Protozoen und Metazoen. Eizelle und Samenzelle
des Menschen. Oscar Hertwig. Empfängniß oder Befruchtung.
Keimanlage des Menschen. Aehnlichkeit der Wirbelthier-Keime. Die
Keimhüllen des Menschen. Amnion, Serolemma und Allantois.
Placenta-Bildung und Nachgeburt. Siebhaut udn Nabelstrang. Die
scheibenförmige Placenta der Affen und des Menschen.
In noch höherem Maaße als die vergleichende Anatomie und
Physiologie ist die vergleichende Ontogenie, die
Entwicklungsgeschichte des Einzelthieres oder Individuums, ein
Kind unseres neunzehnten Jahrhunderts. Wie entsteht der Mensch im
Mutterleibe? Und wie entstehen die Thiere aus den Eiern? Wie entsteht
die Pflanze aus dem Samenkorn? Diese inhaltsschwere Frage hat zwar
auch schon seit Jahrtausenden den denkenden Menschengeist
beschäftigt, aber erst sehr spät, erst vor 70 Jahren, zeigte
uns der Embryologie Baer die rechten Mittel und Wege, um tiefer
in die Kenntniß der geheimnißvollen Thatsachen der
Keimesgeschichte einzudringen; und noch viel später, vor 40
Jahren, lieferte uns Darwin durch seine Reform der Descendenz-Theorie den Schlüssel, mit dessen Hülfe wir die
verschlossene Pforte ihres Verständnisses öffnen und zur
Erkenntniß ihrer Ursachen gelangen können. Da ich diese
hochinteressanten, aber auch schwierig zu vertstehenden
Verhältnisse in meiner Keimesgeschichte des Menschen (-
im ersten Theile der Anthropogenie, fünfte Auflage 1903 -) einer
ausführlichen, populärwissenschaftlichen Darstellung
unterzogen habe, beschränke ich mich hier auf eine kurze
Zusammenfassung und Deutung nur der wichtigsten Erscheinungen. Wir
wollen dabei zunächst einen historischen Rückblick auf die
ältere Ontogenie und die damit verknüpfte
Präformations-Theorie werfen.
Präformations-Lehre. Aeltere Keimesgeschichte.
(Vergl. den 2. Vortrag meiner "Anthropogenie".) Wie für die
vergleichende Anatomie, so sind auch für die
Entwickelungsgeschichte die klassischen Werke des Aristoteles,
des vielseitigen "Vaters der Naturgeschichte", die älteste uns
bekannte wissenschaftliche Quelle (im 4. Jahrhundert v. Chr.). Nicht
allein in seiner großen Thiergeschichte, sondern auch in einer
besonderen kleinen Schrift: "Fünf Bücher von der Zeugung
und Entwicklung der Thiere", erzählt uns der große Philosoph
eine Menge von interessanten Thatsachen und stellt Betrachtungen
über deren Bedeutung an; viele davon sind erst in unserer Zeit
wieder zur Geltung gekommen und eigentlich erst wieder neu entdeckt
worden. Natürlich sind aber daneben auch viele Fabeln und
Irrthümer zu finden, und von der verborgenen Entstehung des
Menschenkeimes war noch nichts Näheres bekannt. Aber auch in
dem langen, folgenden Zeitraume von zwei Jahrtausenden machte die
schlummernde Wissenschaft keine weiteren Fortschritte. Erst im
Anfange des 17. Jahrhunderts fing man wieder an, sich damit zu
beschäftigen; die italienische Anatom Fabricius ab
Aquapendente (in Padua) veröffentlichte 1600 die
ältesten Abbildungen und Beschreibungen von Embryonen des
Menschen und einiger höherer Thiere; und der berühmte
Marcello Malpighi in Bologna, gleich bahnbrechend in der Zoologie
wie in der Botanik, gab 1687 die erste zusammenhängende
Darstellung von der Entstehung des Hühnchens im
bebrüteten Ei.
Alle diese älteren Beobachter waren von der Vorstellung
beherrscht, daß im Ei der Thiere, ähnlich wie im Samen der
höheren Pflanzen, der ganze Körper mit allen seinen Theilen
bereits fertig vorhanden sei, nur in einem so feinen und so
durchsichtigen Zustande, daß man sie nicht erkennen könne;
die ganze Entwicklung sei demnach nichts weiter, als Wachstum oder
"Auswickelung" (Evolutio) der eingewickelten Theile
(Partes involutae). Diese falsche Lehre, die bis zum Anfang des 19.
Jahrhunderts fast allgemein in Geltung blieb, nennen wir am besten die
Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie; oft wird sie
auch "Evolutions-Theorie" genannt; allein unter diesem Begriffe
verstehen viele neuere Autoren auch die ganz verschiedene
Transformations-Theorie.
Einschachtelungs-Lehre (Scatulations-Theorie). In engem
Zusammenhange mit der Präformations-Lehre und in berechtiger
Schlußfolge aus derselben entstand im 17. Jahrhundert eine
weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft
beschäftigte, die sonderbare "Einschachtelungslehre". Da man
annahm, dajß im Ei bereits die Anlage des ganzen Organismus mit
allen seinen Theilen vorhanden sei, mußte auch der Eierstock des
jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Generation darin vorgebildet
sein, und in diesen wiederum die Eier der nächtsfolgenden u. s w.,
in infinitum! Darauf hin berechnete der berühmte Physiologe
Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren - am sechsten
Tage seines Schöpfungswerkes - die Keime von 200000 Millionen
Menschen gleichzeitig erschaffen und sie im Eierstock der
ehrwürdigen Urmutter Eva kunstgerecht eingeschachtelt habe.
Kein Geringerer, als der hochangesehene Philosoph Leibniz,
schloß sich diesen Ausführungen an und verwerthete sie
für seine Monadenlehre; und da dieser zufolge sich Seele und Leib
in ewig unzertrennlicher Gemeinschaft befinden, übertrug er sich
auch auf die Seele; - "die Seelen der Menschen haben in deren Voreltern
bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge (!!), immer in der Form
organischer Körper existiert".
Epigenesis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in Halle in
junger 26jähriger Mediciner, Caspar Friedrich Wolff ( - der
Sohn eines Berliner Schneiders -), seine Doktor-Dissertation unter dem
Titel "Theoria generationis". Gestützt auf eine Reihe der
mühsamsten und sorgfältigsten Beobachtungen wies er nach,
daß die ganze herrschende Präformations- und Skatulations-Theorie falsch sei. Im bebrüteten Hühner-Ei ist anfangs noch
keine Spur vom späteren Vogelkörper und seinen Theilen
vorhanden; vielmehr finden wir statt dessen oben auf der bekannten
gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde, weiße Scheibe. Diese
dünne "Keimscheibe" wird länglich rund und
zerfällt dann in vier über einander liegende Schichten, die
Anlagen der vier wichtigsten Organ-Systeme: zuerst die oberste, das
Nervensystem, darunter die Fleischmasse (Muskelsystem), dann das
Gefäßsystem mit dem Herzen und zuletzt der Darmkanal.
Also sagt Wolff richtig, besteht die Keimbildung nicht in einer
Auswickelung vorgebildeter Organe, sondern in einer Kette von
Neubildungen, einer wahren "Epigenesis"; ein Theil entsteht
nach dem andern, und alle erscheinen in einer einfachen Form, welche
von der später ausgebildeten ganz verschieden ist; diese entsteht
erst durch eine Reihe der merkwürdigsten Umbildungen. Obgleich
nun diese große Entdeckung - einer der wichtigsten des 18.
Jahrhunderts! - sich unmittelbar durch Nachuntersuchung der
beobachteten Thatsachen hätte bestätigen lassen, und
obgleich die darauf gegründete "Theorie der Generation"
eigentlich gar keine Theorie, sondern eine nackte Thatsache war,
fand sie dennoch ein halbes Jahrhundert hindurch nicht die mindeste
Anerkennung. Besonders hinderlich war die mächtige
Autorität von Haller, der sie hartnäckig
bekämpfte, mit dem Dogma: "Es giebt kein Werden! Kein Theil im
Thierkörper ist vor dem anderen gemacht worden, und Alle sind
zugleich erschaffen".Wolff, der nach Petersburg gehen
mußte, war schon lange todt, als die vergessenen, von ihm
beobachteten Thatsachen von Lorenz Oken in Jena (1806) auf's
Neue entdeckt wurden.
Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die
Epigenesis-Theorie von Wolff bestätigt und durch
Meckel (1812) dessen wichtige Schrift über die
Entwickelung des Darmkanals aus dem Lateinischen in's Deutsche
übersetzt war, warfen sich in Deutschland mehrere junge
Naturforscher mit großem Eifer auf die genauere Untersuchung der
Keimesgeschichte. Der bedeutendste und erfolgreichste derselben war
Carl Ernst Baer; sein berühmtes Hauptwerk erschien 1828
unter dem Titel: "Entwickelungsgeschichte der Tiere, Beobachtung und
Reflexion". Nicht allein sind darin die Vorgänge der Keimbildung
ausgezeichnet klar und vollständig beschrieben, sondern auch
zahlreiche geistvolle Spekulationen daran geknüpft. Vorzugsweise
ist zwar die Embryobildung des Menschen und der
Wirbelthiere genau dargestellt, aber daneben auch die wesentlich
verschiendene Ontogenie der niederen, wirbellosen Thiere
berücksichtigt. Die zwei blattförmigen Schichten, welche in
der runden Keimscheibe der höheren Wirbelthiere zuerst
auftreten, zerfallen nach Baer zunächst in je zwei
Blätter, und diese vier Keimblätter verwandeln sich
in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautschicht,
Fleischschicht, Gefäßschicht und Schleimschicht. Durch sehr
verwickelte Prozesse der Epigenesis entstehen daraus die späteren
Organe, und zwar bei dem Menschen und bei allen Wirbelthieren in
wesentlich gleicher Weise. Ganz anders verhalten sich darin die drei
Hauptgruppen der wirbellosen Thiere, unter sich wieder sehr
verschieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer
war eine der wichtigsten das menschliche Ei. Bis dahin hatte man beim
Menschen, wie bei allen anderen Säugethieren, für Eier
kleine Bläschen gehalten, die sich zahlreich im Eierstock finden.
Erst Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in diesen
Bläschen, den "Graaf'schen Follikeln" eingeschlossen und viel
kleiner sind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmesser, unter
günstigen Verhältnissen eben als Pünktchen mit
bloßem Auge zu sehen. Auch entdeckte er zuerst, daß aus
dieser kleinen Eizelle der Säugthiere sich zunächst eine
charakteristische Keimblase entwickelt, eine Hohlkugel mit
flüssigem Inhalt, deren Wand die dünne Keimhaut bildet
(Blastoderma).
Eizelle und Samenzelle. Zehn Jahre nachdem Baer der
Embryologie durch seine Keimblätter-Lehre eine feste Grundlage
gegeben, entstand für dieselbe eine neue wichtige Aufgabe durch
die Begründung der Zellen-Theorie (1838). Wie verhalten
sich das Ei der Thiere und die daraus entstehenden Keimblätter zu
den Geweben und Zellen, welche den entwickelten Thierkörper
zusammensetzen? Die richtige Beantwortung dieser inhaltschweren
Frage gelang um die Mitte unseres Jahrhunderts zwei hervorragenden
Schülern von Johannes Müller: Robert Remak
in Berlin und Albert Kölliker in Würzburg. Sie wiesen
nach, daß das Ei ursprünglich nichts Anderes als eine
einfache Zelle ist, und daß auch die zahlreichen
Keimkörner oder "Furchungskugeln", welche durch wiederholte
Theilung daraus entstehen, einfache Zellen sind. Aus diesen
"Furchungszellen" bauen sich zunächst die Keimblätter auf,
und weiterhin durch Arbeitstheilung oder Differenzirung derselben die
verschiedenen Organe. Kölliker erwarb sich dann fernerhin
das große Verdienst, auch die schleimartige Samenflüssigkeit
der männlichen Thiere als Anhäufung von mikroskopischen
kleinen Zellen nachzuweisen. Die beweglichen stecknadelförmigen
"Samenthierchen" in derselben (Spermatozoa) sind nichts
Anderes, als eigenthümliche "Geißelzellen", wie ich
(1866) zuerst an den Samenfäden der Schwämme
nachgewiesen habe. Damit war für beide wichtige
Zeugungsstoffe der Thiere, das männliche Sperma und das
weibliche Ei, bewiesen, daß auch sie der Zellentheorie sich
fügen; eine Entdeckung, deren hohe philosophische Bedeutung erst
viel später, durch die genauere Erforschung der
Befruchtungsvorgänge (1875), erkannt wurde. (Vergl. Vortrag 6-9
der "Anthropogenie".)
Gasträa-Theorie. Alle älteren Untersuchungen
über Keimbildung betrafen den Menschen und die höheren
Wirbelthiere, vor Allem aber den Vogelkeim: denn das
Hühner-Ei ist das größte und bequemste Objekt
dafür und steht jederzeit in beliebiger Menge zur
Verfügung; man kann in der Brutmaschine sehr bequem (- wie bei
der natürlichen Bebrütung durch die Henne -) das Ei
ausbrüten und dabei stündlich die ganze Reihe der
Umbildungen, von der einfachen Eizelle bis zum fertigen
Vogelkörper, innerhalb drei Wochen beobachten. Auch Baer
hatte nur für die verschiedenen Klassen der Wirbelthiere die
Uebereinstimmung in der charakteristischen Bildung der
Keimblätter und in der Entstehung der einzelnen Organe aus
derselben nachweisen können. Dagegen in den zahlreichen Klassen
der Wirbellosen - also der großen Mehrzahl der Thiere -
schien die Keimung in wesentlich verschiedener Weise abzulaufen, und
den Meisten schienen wirkliche Keimblätter ganz zu fehlen. Erst
um die Mitte des Jahrhunderts wurden solche auch bei einzelnen
Wirbellosen nachgewiesen, so von Huxley 1849 bei den Medusen,
und von Kölliker 1844 bei den Cephalopoden. Besonders
wichtig wurde sodann die Entdeckung von Kowalewsky (1866),
daß das niederste Wirbelthier, der Lanzelot oder Amphioxus,
sich genau in derselben, und zwar in einer sehr sprünglichen
Weise entwickelt, wie ein wirbelloses, anscheinend ganz entferntes
Mantelthier, die Seescheide oder Ascidia. Auch bei
verschiedenen Würmern, Sternthieren und Gliederthieren wies
derselbe Beobachter eine ähnliche Bildung der Keimblätter
nach. Ich selbst war damals mit der Entwickelungsgeschichte der
Spongien, Korallen, Medusen und Siphonophoren beschäftigt und
da ich auch bei diesen niedersten Klassen der vielzelligen Thiere
überall dieselbe Bildung von zwei primären
Keimblättern fand, gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß
dieser bedeutungsvolle Keimungsvorgang im ganzen Thierreiche
derselbe ist.
Besonders wichtig erschien mir dabei der Umstand, daß bei den
Schwammthieren und bei den niederen Nessenthieren (Polypen,
Medusen) der Körper lange Zeit hindurch oder selbst zeitlebens
bloß aus zwei einfachen Zellenschichten besteht; bei den Medusen
hatte diese schon Huxley (1849) mit den beiden primären
Keimblättern der Wirbelthiere verglichen. Gestützt auf diese
Beobachtungen und Vergleichungen stellte ich dann 1872 in meiner
"Philosophie der Kalkschwämme" die "Gasträa-Theorie" auf,
deren wesentlichste Lehrsätze folgende sind; I. Das ganze
Thierreich zerfällt in zwei wesentlich verschiedene Hauptgruppen,
die einzelligen Urthiere (Protozoa) und die vielzelligen
Gewebethiere (Metazoa); der ganze Organismus der
Protozoen (Rhizopoden und Infusorien) bleibt zeitlebens eine
einfache Zelle (seltener ein lockerer Zellverein, ohne Gewebebildung, ein
Coenobium); dagegen der Organismus der Metazoen ist nur
im ersten Beginn einzellig, später aus vielen Zellen
zusammengesetzt, welche Gewebe bilden. II. Daher ist auch die
Fortpflanzung und Entwickelung in beiden Hauptgruppen der Thiere
wesentlich verschieden; die Protozoen vermehren sich
gewöhnlich nur ungeschlechtlich, durch Theilung, Knospung
oder Sporenbildung; sie besitzen noch keine echten Eier und ein Sperma.
Die Metazoen dagegen sind in männliches und weibliches
Geschlecht geschieden und vermehren sich vorwiegend
geschlechtlich, mittelst echter Eier, welche vom männlichen
Samen befruchtet werden. III. Daher entstehen auch nur bei den
Metazoen wirkliche Keimblätter, und aus diesen
Gewebe, während solche bei den Protozoen noch ganz
fehlen. IV. Bei allen Metazoen entstehen zunächst nur zwei
primäre Keimblätter, und diese haben überall dieselbe
wesentliche Bedeutung: aus dem äußeren Hautblatt
entwickelt sich die äußere Hautdecke und das Nervensystem;
aus dem inneren Darmblatt hingegen der Darmkanal und alle
übrigen Organe. V. Die Keimform, welche überall
zunächst aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein
aus diesen beiden primären Keimblättern besteht, nannte
ich Darmlarve oder Becherkeim (Gastrula); ihr
becherförmiger, zweischichtiger Körper umschließt
ursprünglich eine einfache verdauende Höhle, den
Urdarm (Progaster oder Archenteron), und dessen
einfache Oeffnung ist der Urmund (Prostoma oder
Blastoporus). Dies sind die ältesten Organe des vielzelligen
Thierkörpers, und die beiden Zellenschichten seiner Wand,
einfache Epithelien, sind seine ältesten Gewebe; alle anderen
Organe und Gewebe sind erst später (sekundär) daraus
hervorgegangen. VI. Aus dieser Gleichartigkeit oder Homologie der
Gastrula in sämmtlichen Stämmen und Klassen der
Gewebethiere zog ich nach dem biogenetischen Grundgesetze (Kap. V),
den Schluß, daß alle Metazoen ursprünglich von einer
gemeinsamen Stammform abstammen, Gasträa, und daß
diese uralte (laurentische) längst ausgestorbene Stammform im
Wesentlichen die Körperform und Zusammensetzung der heutigen,
durch Vererbung erhaltenen Gastrula besaß. VII. Dieser
phylogenetische Schluß aus der Vergleichung der ontogenetischen
Thatsachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute
einzelne Gasträaden existiren (Orthonectiden, Cyemarien,
Physemarien), sowie älteste Formen anderer
Thierstämme, deren Organisation sich nur sehr wenig über
diese letzeren erhebt (Olynthus unter den Spongien, Hydra,
der gemeine Süßwasserpolyp, unter den Nesselthieren,
Convoluta und andere Kryptocoelen, als einfache
Strudelwürmer, unter den Plattenthieren). VIII. Bei der weiteren
Entwickelung der verchiedenen Gewebethiere aus der Gastrula sind zwei
verschiedene Hauptgruppen zu unterscheiden: Die älteren
Niederthiere (Coelenteria oder Acoelomia) bilden
noch keine Leibeshöhle und besitzen weder Blut noch After: das
ist der Fall bei den Gasträaden, Spongien, Nesselthieren und
Plattenthieren. Die jüngeren Oberthiere (Coelomaria
oder Blitateria) hingegen besitzen eine echte Leibeshöhle
und meistens auch Blut und After; dahin gehören die
Wurmthiere (Vermalia) und die höheren typischen
Thierstämme, welche sich aus diesen entwickelt haben, die
Sternthiere, Weichthiere, Gliederthiere, Mantelthiere und
Wirbelthiere.
Das sind die wesentlichsten Lehrsätze meiner Gasträa-Theorie, deren ersten Entwurf (1872) ich später weiter
ausgeführt und in einer Reihe von "Studien zur Gasträa-Theorie" (1873-1884) fester zu begründen mich bemüht
habe. Obgleich dieselbe Anfangs fast allgemein abgelehnt und
während eines Decenniums von zahlreichen Autoritäten
heftig bekämpft wurde, ist sie doch gegenwärtig (seit etwa
15 Jahren) von allen sachkundigen Fachgenossen angenommen. Sehen
wir nun, welche weitreichenden Schlüsse sich aus der
Gasträa-Theorie und der Keimesgeschichte überhaupt
für unsere Hauptfrage, die "Stellung des Menschen in der Natur",
ergeben.
Eizelle und Samenzelle des Menschen. Das Ei des Menschen ist,
wie das aller anderen Gewebethiere, eine einfache Zelle, und diese
kleine kugelige Eizelle (von nur 0,2 mm Durchmesser) hat genau
dieselbe charakteristische Beschaffenheit, wie diejenige aller anderen,
lebendig gebärenden Säugethiere. Die kleine Plasmakugel ist
nämlich von einer dicken, durchsichtigen, fein radial gestreiften
Eihülle umgeben (Zona pellucida); auch das kleine kugelige
Keimbläschen (der Zellenkern), das vom Plasma (dem Zellenleib)
eingeschlossen ist, zeigt dieselbe Größe und Beschaffenheit,
wie bei den übrigen Mammalien. Dasselbe gilt von den
beweglichen Spermien oder Samenfäden des Mannes, den
winzig kleinen, fadenförmigen Geißelzellen, welche sich zu
Millionen in jedem Tröpfchen des schleimartigen
männlichen Samens (Sperma) finden; sie wurden
früher wegen ihrer lebhaften Bewegung für besondere
"Samenthierchen" (Spermatozoa) gehalten. Auch die
Entstehung dieser beiden wichtigen Geschlechts-Zellen in der
Geschlechts-Drüse (Gonade) ist dieselbe beim
Menschen und den übrigen Säugethieren; sowohl die Eier im
Eierstock des Weibes (Ovarium), als die Samenfäden im
Hoden oder Samenstock des Mannes (Spermarium) entstehen
überall auf dieselbe Weise, aus Zellen, welche ursprünglich
vom Cölom-Epithel abstammen, von der Zellenschicht,
welche die Leibeshöhle auskleidet.
Empfängnis oder Befruchtung (Conception,
Foecundation). Der wichtigste Augenblick im Leben eines jeden
Menschen, wie jedes anderen Gewebthieres, ist das Moment, in welchem
seine individuelle Existenz beginnt; es ist der Augenblick, in welchem
die Geschlechtszellen der beiden Eltern zusammentreffen und zur
Bildung einer einzigen einfachen Zelle verschmelzen. Diese neue Zelle,
die "befruchtete Eizelle", ist die individuelle Stammzelle
(Cytula), aus deren wiederholter Theilung die Zellen der
Keimblätter und die Gastrula hervorgehen. Erst mit der Bildung
dieser Cytula, also mit dem Vorgange der Befruchtung
selbst, beginnt die Existenz der Person, des selbstständigen
Einzelwesens. Diese ontogenetische Thatsache ist überaus
wichtig, denn aus ihr allein schon lassen sich die weitestreichenden
Schlüsse ableiten. Zunächst folgt daraus die klare
Erkenntniß, daß der Mensch, gleich allen anderen
Gewebthieren, alle persönlichen Eigenschaften, körperliche
und geistige, von seinen beiden Eltern dur Vererbung erhalten
hat; und weiterhin die inhaltschwere Ueberzeugung, daß die neue,
so entstandene Person unmöglich Anspruch haben kann,
"unsterblich" zu sein.
Die feineren Vorgänge bei der Empfängniß und der
geschlechtlichen Zeugung überhaupt sind daher von
allerhöchster Wichtigkeit; sie sind uns in ihren Einzelheiten erst
sei 1875 bekannt geworden, seit Oscar Hertwig, mein damaliger
Schüler und Reisebegleiter, in Ajaccio auf Corsica seine
bahnbrechenden Untersuchungen über die Befruchtung der Thier-Eier an den Seeigeln begann. Die schöne Hauptstadt der Rosmarin-Insel, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war
auch der Ort, an welchem zuerst die Geheimnisse der thierischen
Empfängniß in den wichtigen Einzelheiten genau beobachtet
wurden. Hertwig fand, daß das einzige wesentliche
Ereigniß bei der Befruchtung die Verschmelzung der beiden
Geschlechtszellen und ihrer Kerne ist. Von den Millionen
männlicher Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle
umschwärmen, dringt nur eine einzige in deren
Plasmakörper ein. Die Kerne beider Zellen, der Spermakern und
der Eikern, werden durch eine geheimnißvolle Kraft, die wir als
eine chemische, dem Geruch verwandte Sinnesthätigkeit
deuten, zu einander hingezogen, nähern sich und verschmelzen
mit einander. So entsteht durch die sinnliche Empfindung der beiden
Geschlechts-Kerne, in Folge von "erotischem Chemotropismus",
eine neue Zelle, welche die erblichen Eigenschaften beider Eltern in sich
vereinigt; der Sperma-Kern überträgt die väterlichen,
der Eikern die mütterlichen Charakterzüge auf die
Stammzelle, aus der die nun das Kind entwickelt; das gilt ebenso
von den körperlichen, wie von den sogenannten geistigen
Eigenschaften.
Keimanlage des Menschen. Die Bildung der Keimblätter
durch wiederholte Theilung der Stammzelle, die Entstehung der Gastrula
und der weiterhin aus ihr hervorgehenden Keimformen geschieht beim
Menschen genau so wie bei den übrigen höheren
Säugethieren, unter denselben eigenthümlichen
Besonderheiten, welche diese Gruppe vor den niederen Wirbelthieren
auszeichnen. In früheren Perioden der Keimesgeschichte sind
diese Special-Charaktere der Placentalien noch nicht ausgeprägt.
Die bedeutungsvolle Keimform der Chordula oder "Chordalarve",
die zunächst aus der Gastrula entsteht, zeigt bei allen Vertebraten
im Wesentlichen die gleiche Bildung: ein einfacher gerader Axenstab, die
Chorda, geht der Länge nach durch die Hauptaxe des
länglich-runden, schildförmigen Körpers (des
"Keimschildes"); oberhalb der Chorda entwickelt sich aus dem
äußeren Keimblatt das Rückenmark, unterhalb das
Darmrohr. Dann erst erscheinen zu beiden Seiten, rechts und links vom
Axenstab, die Ketten der "Urwirbel", die Anlagen der Muskelplatten, mit
denen die Gliederung des Wirbelthier-Körpers beginnt. Vorm am
Darm treten beiderseits die Kiemenspalten auf, die Oeffnungen des
Schlundes, durch welche ursprünglich bei unsern Firsch-Ahnen
das vom Munde aufgenommene Athemwasser an den Seiten des Kopfes
nach außen trat. In Folge zäher Vererbung treten
diese Kiemenspalten, die nur bei den fischartigen, im Wasser
lebenden Vorfahren von Bedeutung waren, auch heute noch beim
Menschen wie bei allen übrigen Vertebraten auf; sie
verschwinden später. Selbst nachdem schon am Kopfe die
fünf Hirnblasen, seitlich die Anfänge der Augen und Ohren,
sichtbar geworden, nachdem am Rumpfe die Anlagen der beiden
Beinpaare in Form rundlicher platter Knospen aus dem fischartigen
Menschenkeim hervorgesproßt sind, ist dessen Bildung derjenigen
anderer Wirbelthiere noch so ähnlich, daß man sie nicht
unterscheiden kann.
Aehnlichkeit der Wirbelthier-Keime. Die wesentliche
Uebereinstimmung in der äußeren Körperform und
dem inneren Bau, welche die Embryonen des Menschen und der
übrigen Vertebraten in dieser fruheren Bildungs-Periode zeigen,
ist eine embryologische Thatsache ersten Ranges; aus ihr lassen
sich nach dem biogenetischen Grundgesetze die wichtigsten
Schlüsse ableiten. Denn es giebt dafür keine andere
Erklärung, als die Annahme einer Vererbung von einer
gemeinsamen Stammform. Wenn wir sehen, daß in einem
bestimmten Stadium die Keime des Menschen und des Affen, des
Hundes und des Kaninchens, des Schweines und des Schafes zwar als
höhere Wirbelthiere erkennbar, aber sonst nicht zu unterscheiden
sind, so kann diese Thatsache eben nur durch gemeinsame Abstammung
erklärt werden. Und diese Erklärung erscheint um so
sicherer, wenn wir die später eintretende Sonderung oder
Divergenz jener Keimformen verfolgen. Je näher sich zwei
Thierformen in der gesammten Körperbildung und also auch im
natürlichen System stehen, desto länger bleiben sich auch
ihre Embryonen ähnlich, und desto enger hängen sie auch
im Stammbaum der betreffenden Gruppe zusammen, desto näher
sind sie "stammverwandt". Daher erscheinen die Embryonen des
Menschen und der Menschenaffen auch später noch höchst
ähnlich, auf einer hoch entwickelten Bildungsstufe, auf welcher
iher Unterschiede von den Embryonen anderer Säugethiere sofort
erkennbar sind. Ich habe diese bedeutungsvolle Thatsache sowohl in der
natürlichen Schöpfungsgeschichte (1898, Taf. 2 und 3) als in
der Anthropogenie (1891, Taf. 6-9) durch Zusammenstellung
entsprechender Bildungsstufen von einer Anzahl verschiedener
Wirbelthiere illustriert.
Die Keimhüllen des Menschen. Die hohe phylogenetische
Bedeutung der eben besprochenen Aehnlichkeit tritt nicht nur bei
Vergleichung der Vertebraten-Embryonen selbst hervor, sondern auch
bei derjenigen ihrer Keimhüllen. Es zeichnen sich nämlich
alle Wirbelthiere der drei höheren Klassen, Reptilien, Vögel
und Säugethiere, vor den niederen Klassen durch die Bildung
eigenthümlicher Embryonal-Hüllen aus, des Amnion
(Wasserhaut) und des Serolemma (seröse Haut). In diesem
mit Wasser gefüllten Säcken liegt der Embryo
eingeschlossen und ist dadurch gegen Druck und Stoß
geschützt. Diese zweckmäßige Schutzeinrichtung ist
wahrscheinlich erst während der permischen Periode entstanden,
als die ältesten Reptilien (Proreptilien) die gemeinsamen
Stammformen der Amnionthiere oder Amnioten,
vollständig an das Landleben sich anpaßten. Bei ihren
direkten Vorfahren, den Amphibien, fehlt diese
Hüllenbildung noch ebenso wie bei den Fischen; sie war bei diesen
Wasserbewohnern überflüssig. Mit der Erwerbung dieser
Schutzhüllen stehen bei allen Amnioten noch zwie andere
Veränderungen in engem Zusammenhang, erstens der
gänzliche Verlust der Kiemen (während die
Kiemenbögen und die Spalten dazwischen als "rudimentäre
Organe" sich forterben); und zweitens die Bildung der Allantois.
Dieser blasenförmige, mit Wasser gefüllte Sack wächst
bei dem Embryo aller Amnioten aus dem Enddarm hervor und ist nichts
Anderes als die vergrößerte Harnblase der Amphibioen-Ahnen. Aus ihrem innersten und untersten Theile bildet sich
später die bleibende Harnblase der Amnioten, während der
größere äußere Theil rückgebildet wird.
Gewöhnlich spielt dieser eine Zeit lang eine wichtige Rolle als
Athmungs-Organ des Embryo, indem sich mächtige
Blutgefäße auf seiner Wand ausbreiten. Sowohl die Entstehen
der Keimhüllen (Amnion und Serolemma), als auch
der Allantois, geschieht beim Menschen genau ebenso, wie bei allen
anderen Amnioten und durch dieselben verwickelten Processe des
Wachsthums; der Mensch ist ein eches Amnionthier.
Die Placenta des Menschen. Die Ernährung des
menschlichen Keimens im Mutterleibe geschieht bekanntlich durch ein
eigenthümliches, äußerst blutreiches Organ, die
sogenannte Placenta, der Aderkuchen oder
Blutgefäßkuchen. Dieses wichtige Ernährungs-Organ
bildet eine schwammige kreisrunde Scheibe von 16-20 cm
Durchmesser, 3-4 cm Dicke und 1-2 Pfund Gewicht; sie wird nach
erfolgter Geburt des Kindes abgelöst und als sogenannte
"Nachgeburt" ausgestoßen. Die Placenta besteht aus zwei wesentlich
verschiedenen Theilen, dem Fruchtkuchen oder der kindlichen
Placenta (P. foetalis) und dem Mutterkuchen oder dem
mütterlichen Gefäßkuchen (P. uterina). Dieser
letztere enthält reichentwickelte Bluträume, welche ihre
Blut durch die Gefäße der Gebärmutter zugeführt
erhalten. Der Fruchtkuchen dagegen wird aus zahlreichen
verästelten Zotten gebildet, welche von der
Außenfläche der kindlichen Allantois hervorwachsen und ihr
Blut von deren Nabelgefäßen beziehen. Die hohlen,
blutgefüllten Zotten des Fruchtkuchens wachsen in die
Bluträume des Mutterkuchens hinein, und die zarte Scheidewand
zwischen beiden wird so sehr verdünnt, daß durch sie
hindurch ein unmittelbarer Stoff-Austausch der ernährenden
Blutflüssigkeit erfolgen kann (durch Osmose).
Bei den älteren und niederen Gruppen der Zottenthiere
(Placentalia) ist die ganze Oberfläche der
äußeren Fruchthülle (Chorion) mit zahlreichen
kurzen Zotten bedeckt; diese "Chorionzotten" wachsen in
grubenförmige Vertiefungen der Schleimhaut der
Gebärmutter hinein und lösen sich bei der Geburt leicht von
dieser ab. Das ist der Fall bei den meisten Hufthieren (z.B. Schwein,
Kameel, Pferd), bei den meisten Walthieren und Halbaffen; man hat
diese Malloplacentalien als Indeciduata bezeichnet (mit diffuser
Zottenhaut, Malloplacenta). Auch bei den übrigen
Zottenthieren und beim Menschen ist dieselbe Bildung anfänglich
vorhanden. Bald aber verändert sie sich, indem die Zotten auf
einem Theile des Chorion rückgebildet werden; auf dem anderen
Theile entwickeln sie sich dafür um so stärker und
verwachsen sehr fest mit der Schleimhaut des Uterus. In Folge dieser
innigen Verwachsung löst sich bei der Geburt ein Theil der
letzeren ab und wird unter Blutverlust entfernt. Diese hinfällige
Haut oder Siebhaut (Decidua) ist eine charakteristische
Bildung der höheren Zottenthiere, die man deshalb als
Deciduata zusammengefaßt hat; dahin gehören
namentlich die Raubthiere, Nagethiere, Affen und Menschen; bei den
Raubthieren und einzelnen Hufthieren (z.B. Elephanten) ist die Placenta
gürtelförmig (Zonoplacentalia), dagegen bei den
Nagethieren, bei den Insektenfressern (Maulwurf, Igel), bei den Affen
und Menschen scheibenförmig (Discoplacentalia).
Noch vor zehn Jahren glaubten die meisten Embryologen, daß sich
der Mensch durch gewisse Eigenthümlichkeiten in der Bildung
seiner Placenta auszeichne, namentlich durch den Besitz der
sogenannten Decidua reflexa, sowie durch die besondere Bildung
des Nabelstranges, welcher diese mit dem Keime verbindet; diese
eigenthümlichen Embryonal-Organe sollten den übrigen
Zottenthieren, und insbesondere den Affen fehlen. Der wichtige
Nabelstrang oder die Nabelschnur (Funiculus umbilicalis)
ist ein zylindrischer, weicher Strang von 40-60 cm Länge
und von der Dicke des kleinen Fingers (11-13 mm). Er stellt die
Verbindung zwischen dem Embryo und dem Mutterkuchen her, indem
er die ernährenden Blutgefäße aus dem Körper
des Keimes in den Fruchtkuchen leitet; außerdem enthält er
auch den Stiel der Allantois und des Dottersackes. Während nun
der Dottersack bei menschlichen Früchten aus der dritten Woche
der Schwangerschaft noch die größere Hälfte der
Keimblase darstellt, wird er später bald rückgebildet, so
daß man ihn früher bei reifen Früchten ganz
vermißte; doch ist er als Rudiment noch immer vorhanden und
auch nach der Geburt noch als winziges Nabelbläschen
(Vesicula umbilicalis) nachzuweisen. Auch die
blasenförmige Anlage der Allantois selbst wird beim Menschen
frühzeitig rückgebildet, was mit einer etwas abweichenden
Bildung des Amnion zusammenhängt, der Entstehung des
sogenannten "Bauchstiels". auf die komplicirten anatomischen
und embryologischen Verhältnisse dieser Bildungen, die ich in
meiner Anthropogenie (23. Vortrag) geschildert und illustrirt habe,
können wir hier nicht eingehen.
Die Gegner der Entwickelungslehre wiesen noch vor zehn Jahren auf
diese "ganz besonderen Eigenthümlichkeiten" der Fruchtbildung
beim Menschen hin, durch die er sich von allen anderen
Säugethieren unterscheiden sollte. Da wies 1890 Emil
Selenka nach, daß dieselben Eigenthümlichkeiten sich
auch bei den Menschenaffen finden, insbesondere beim Orang
(Satyrus), während sie den niederen Affen fehlen. Also
bestätigte sich auch hier wieder der Pithecometra-Satz von
Huxley: "Die Unterschiede zwischen den Menschen und den
Menschenaffen sind geringer als diejenigen zwischen den letzteren und
den niederen Affen." Die angeblichen "Beweise gegen die nahe
Blutsverwandtschaft des Menschen und der Affen" ergaben sich bei
genauer Untersuchung der thatsächlichen Verhältnisse auch
hier wieder umgekehrt als wichtige Gründe zu Gunsten
derselben.
Jeder Naturforscher, der mit offenen Augen in diese dunkeln, aber
höchst interessanten Labyrinth-Gänge unserer
Keimesgeschichte tiefer eindringt, und der im Stande ist, sie kritisch mit
derjenigen der übrigen Säugethiere zu vergleichen, wird in
denselben die bedeutungsvollsten Lichtträger für das
Verständniß unserer Stammesgeschichte finden. Denn die
verschiedenen Stufen der Keimbildung werfen als
palingenetische Vererbungs-Phänomene ein helles Licht
auf die entsprechenden Stufen unserer Ahnen-Reihe, gemäß
dem biogenetischen Grundgesetze. Aber auch die cenogenetischen
Anpassungs-Erscheinungen, die Bildung der vergänglichen
Embryonal-Organe - der charakteristischen Keimhüllen, und vor
allem der Placenta - geben uns ganz bestimmte Aufschlüsse
über unsere nahe Stammverwandtschaft mit den
Primaten.
Fünftes Kapitel
Unsere Stammesgeschichte.
Monistische Studien über Ursprung und Abstammung des
Menschen von den Wirbelthieren, zunächst von den
Herrenthieren.
------
Inhalt: Ursprung des Menschen. Mythische
Schöpfungsgeschichte. Moses und Linné. Die Schöpfung der
konstanten Arten. Katastrophen-Lehre. Cuvier. Transformismus, Goethe
(1790). Descendenz-Theorie, Lamarck (1809). Selektions-Theorie,
Darwin (1859). Stammesgeschichte (Phylogenie) (1866).
Stammbäume. Generelle Morphologie. Naturliche
Schöpfungsgeschichte. Systematische Phylogenie. Biogenetisches
Grundgesetz. Anthropogenie. Abstammung des Menschen von den Affen.
Pithecoiden-Theorie. Der fossile Pithecanthropus von Dubois (1894).
Der jüngste unter den großen Zweigen am lebendigen Baume
der Biologie ist diejenige Naturwissenschaft, welche wir
Stammesgeschichte oder Phylogenie nennen. Sie hat sich
noch weit später und unter viel größeren
Schwierigkeiten entwickelt, als ihre natürliche Schwester, die
Keimesgeschichte oder Ontogenie. Diese letztere hatte zur Aufgabe die
Erkenntniß der geheimnißvollen Vorgänge, durch
welche sich die organischen Individuen, die Einzelwesen der
Thiere und Pflanzen, aus dem Ei entwickeln. Die Stammesgeschichte
hingegen hat die viel dunklere und schwierigere Frage zu beantworten:
"Wie sind die organischen Species entstanden, die einzelnen
Arten der Thiere und Pflanzen?".
Die Ontogenie (sowohl Embryologie als Metamorphosenlehre)
konnte zur Lösung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächst
unmittelbar den empirischen Weg der Beobachtung betreten; sie
brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die
sichtbaren Umbildungen zu verfolgen, welche der organische Keim
innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei
erfährt. Viel schwieriger war von vornherein die entfernt liegende
Aufgabe der Phylogenie; denn die langsamen Processe der
allmählichen Umbildung, welche die Entstehung der Thier- und
Pflanzen-Arten bewirken, vollziehen sich unmerklich im Verlaufe von
Jahrtausenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beobachtung ist nur
in sehr engen Grenzen möglich, und der weitaus größte
Theil dieser historischen Vorgänge kann nur indirekt erschlossen
werden: durch kritische Reflexion, durch vergleichende
Benutzung von empirischen Urkunden, welche sehr verschiedenen
Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und
Morphologie. Dazu kam noch das gewaltige Hinderniß, welcher der
natürlichen Stammesgeschichte allgemein durch die enge
Verknüpfung der "Schöpfungsgeschichte" mit
übernatürlichen Mythen und religiösen Dogmen
bereitet wurde; es ist daher begreiflich, daß erst im Laufe der
letzten vierzig Jahre die wissenschaftliche Existenz der wahren
Stammesgeschichte unter schweren Kämpfen errungen und
gesichert werden mußte.
Mythische Schöpfungsgeschichte. Alle ernstlichen
Versuche, welche bis zum Beginne des 19. Jahrhunderts zur
Beantwortung des Problems von der Entstehung der Organismen
unternommen wurden, blieben in dem mythologischen Labyrinthe der
übernatürlichen Schöpfungssagen stecken. Einzelne
Bemühungen hervorragender Denker, sich von diesem zu
emancipiren und zu einer natürlichen Auffassung zu gelangen,
blieben erfolglos. Die mannigfaltigsten Schöpfungs-Mythen
entwickelten sich bei allen älteren Kurlturvölkern im
Zusammenhang mit der Religion; und während des Mittelalters
war es naturgemäß das zur Herrschaft gelangte Christentum,
welches die Beantwortung der Schöpfungsfrage für sich in
Anspruch nahm. Da die Bibel als die unerschütterliche Basis des
christlichen Religions Gebäudes galt, wurde die ganze
Schöpfungsgeschichte dem ersten Buche Moses entnommen.
Auf dieses stützte sich auch noch der große schwedische
Naturforscher Carl Linné, als er 1735 in seinem grundlegenden
"Systema Naturae" den ersten Versuch zu einer systematischen
Ordnung, Benennung und Klassifikation der unzähligen
verschiedenen Naturkörper unternahm. Als bestes, praktisches
Hilfmittel derselben führte er die bekannte doppelte
Namengebung oder binäre Nomenklatur ein; jeder einzelnen Art
oder Species von Thieren und Pflanzen gab er einen besonderen Art-Namen und stellte diesem einen allgemeinen Gattungs-Namen voran. In
einer Gattung (Genus) wurden die nächstverwandten
Arten (Species) zusammengestellt; so z.B. vereinigte
Linné in dem Genus Hund (Canis) als verschiedene
Species des Haushund (Canis familiaris), den Schakal (Canis
aureus), den Wolf (Canus lupus), den Fuchs (Canis
vulpes) u. A. Diese binäre Nomenklatur erwies sich bald so
praktisch, daß sie allgemein angenommen wurde und bis heute in
der zoologischen und botanischen Systematik allgemein gültig
ist.
Höchst verhängnißvoll aber wurde für die
Wissenschaft das theoretische Dogma, welches schon von
Linné selbst mit seinem praktischen Species-Begriffe
verknüpft wurde. Die erste Frage, welche sich dem denkenden
Systematiker aufdrängen mußte, war natürlich die
Frage nach dem eigentlichen Wesen des Species-Begriffes, nach
Inhalt und Umfang desselben. Und gerade diese Fundamental-Frage
beantwortete sein Schöpfer in naivster Weise, in Anlehnung an
den allgemein gültigen Mosaischen Schöpfungs-Mythus:
"Species tot sunt diversae, quot diversas formas ab initio creavit
infinitum ens". (- Es giebt so viel verschiedene Arten, als im Anfange
vom unendlichen Wesen verschiedene Formen erschaffen worden sind.
-). Mit diesem theosophischen Dogma war jede natürliche
Erklärung der Art-Entstehung abgeschnitten. Linné kannte
nur die gegenwärtig existirende Thier- und Pflanzen-Welt; er
hatte keine Ahnung von den viel zahlreicheren ausgestorbenen Arten,
welche in den früheren Perioden der Erdgeschichte unseren
Erdball in wechselnder Gestaltung bevölkert hatten.
Erst im Anfange des 19. Jahrhunderts wurden diese fossilen Thiere
durch Cuvier näher bekannt. Er gab in seinem
berühmten Werke über die fossilen Knochen der
vierfüßigen Wirbelthiere (1812) die erste genaue
Beschreibung und richtige Deutung zahlreicher Petrefakten. Zugleich
wies er nach, daß in den verschiedenen Perioden der Erdgeschichte
eine Reihe von ganz verschiedenen Thier-Bevölkerungen auf
einander gefolgt war. Da nun Cuvier hartnäckig an
Linné's Lehre von der absoluten Beständigkeit der Species
fest hielt, glaubte er deren Entstehung nur durch die Annahme
erklären zu können, daß eine Reihe von großen
Katastrophen und von wiederholten Neuschöpfungen in der
Erdgeschichte auf einander gefolgt sei; im Beginne jeder großen
Erd-Revolution sollten alle lebenden Geschöpfe vernichtet und am
Ende derselben eine neue Bevölkerung erschaffen worden sein.
Obgleich diese Katastrophen-Theorie von Cuvier zu den
absurdesten Folgerungen führte und auf den nackten
Wunderglauben hinauslief, gewann sie doch bald allgemeine Geltung
und blieb bis auf Darwin (1859) herrschend.
Transformismus. Goethe. Daß die herrschenden
Vorstellungen von der absoluten Beständigkeit und
übernatürlichen Schöpfung der organischen Arten
tiefer denkende Forscher nicht befriedigen konnten, ist leicht
einzusehen. Daher finden wir denn schon in der zweiten Hälfte des
achtzehnten Jahrhunderts einzelne hervorragende Geister mit
Versuchen geschäftigt, zu einer naturgemäßen
Lösung des großen "Schöpfungs-Problems" zu gelangen.
Allen voran war unser größter Dichter und Denker
Wolfgang Goethe durch seine vieljährigen und eifrigen
morphologischen Studien bereits vor mehr als hundert Jahren zu der
klaren Einsicht in den inneren Zusammenhang aller organischen Formen
und zu der festen Ueberzeugung eines gemeinsamen natürlichen
Ursprungs gelangt. In seiner berühmten "Metamorphose der
Pflanzen" (1790) leitete er alle verschiedenen Formen der
Gewächse von einer Urpflanze ab, und alle verschiedenen Organe
derselben von einem Urorgane, dem Blatt. In seiner Wirbeltheorie des
Schädels versuchte er zu zeigen, daß die Schädel aller
verschiedenen Wirbelthiere - mit Inbegriff des Menschen! - in gleicher
Weise aus bestimmt geordneten Knochen-Gruppen zusammengesetzt
seien, und daß diese letzteren nichts Anderes seien, als
umgebildete Wirbel. Grade seine eingehenden Studien über
vergleichende Osteologie hatten Goethe zu der festen
Ueberzeugung von der Einheit der Organisation geführt; er hatte
erkannt, daß das Knochengerüst des Menschen nach
demselben Typus zusammengesetzt sei, wie das aller übrigen
Wirbelthiere - "geformt nach einem Urbilde, das nur in seinen sehr
beständigen Theilen mehr oder weniger hin- und herweicht und
sich doch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet" -. Diese
Umbildung oder Transformation läßt Goethe durch die
beständige Wechselwirkung von zwei gestaltenden
Bildungskräften geschehen, einer inneren Centripetalkraft des
Organismus, dem "Specifikations-Trieb", und einer äußeren
Centrifugalkraft, dem Variations-Trieb oder der "Idee der
Metamorphose"; erstere entspricht dem, was wir heute
Vererbung, letztere dem, was wir Anpassung nennen. Wie
tief Goethe durch diese naturphilosophischen Studien über
"Bildung und Umbildung organischer Naturen" in deren Wesen
eingedrungen war, und inwiefern er demnach als der bedeutendste
Vorläufer von Darwin und Lamarck betrachtet
werden kann, ist aus den interessanten Stellen seiner Werke zu ersehen,
welche ich im vierten Vortrage meiner Natürlichen
Schöpfungsgeschichte zusammengestellt habe. In meinem
Vortrage über "Die Naturanschauung von Darwin,
Goethe und Lamarck" (Eisenach 1882) habe ich dies
näher begründet. Indessen kamen doch diese
naturgemäßen Entwickelungs-Ideen von Goethe,
ebenso wie ähnliche (ebenda citirte) Vorstellungen von
Kant, Oken, Treviranus und anderen
Naturphilosophen unseres Jahrhunderts nicht über gewisse
allgemeine Ueberzeugungen hinaus. Es fehlte ihnen noch der große
Hebel, dessen die "natürliche Schöpfungsgeschichte" zu ihrer
Begründung durch die Kritik des Species-Dogma bedurfte,
und diese verdanken wir erst Lamarck.
Descendenz-Theorie oder Abstammungslehre. Lamarck
(1809). Den ersten eingehenden Versuch zu einer wissenschaftlichen
Begründung des Transformismus unternahm im Beginne des 19.
Jahrhunderts der große französische Naturphilosoph Jean
Lamarck, der bedeutendste Gegner seines Kollegen Cuvier in
Paris. Schon 1802 hatte derselbe in seinen "Betrachtungen über
die lebenden Naturkörper" die bahnbrechenden Ideen über
die Unbeständigkeit und Umbildung der Arten ausgesprochen,
welche er dann 1809 in den zwei Bänden seines tiefsinnigsten
Werkes, der Philosophie zoologique, eingehend begründete.
Hier führte Lamarck zum ersten Male - gegenüber
dem herrschenden Species-Dogma - den richtigen Gedanken aus,
daß die organische "Art oder Species" eine
künstliche Abstraktion sei, ein Begriff von relativem
Werthe, ebenso wie die übergeordneten Begriffe der Gattung,
Familie, Ordnung und Klasse. Er behauptete ferner, daß alle Arten
veränderlich und im Laufe sehr langer Zeiträume aus
älteren Arten durch Umbildung entstanden seien. Die
gemeinsamen Stammformen, von denen dieselben abstammen, waren
ursprünglich ganz einfache und niedere Organismen; die ersten
und ältesten entstanden durch Urzeugung. Während durch
Vererbung innerhalb der Generations-Reihen der Typus sich
beständig erhält, werden anderseits durch
Anpassung, durch Gewohnheit und Uebung der Organe, die Arten
allmählich umgebildet. Auch unser menschlicher Organismus ist
auf dieselbe natürliche Weise durch Umbildung aus einer Reihe
von affenartigen Säugethieren entstanden. Für alle diese
Vorgänge, wie überhaupt für alle Erscheinungen in der
Natur und im Geistesleben, nimmt Lamarck auschließlich
mechanische, physikalische und chemische Vorgänge als
wahre, bewirkende Ursachen an. Seine geistvolle Philosophie
zoologique enthält die Elemente für ein rein monistisches
Natur-System auf Grund der Entwickelungslehre. Ich habe diese
Verdienste Lamarck's im vierten Vortrage meiner Anthropogenie
und im fünften Vortrage der Natürlichen
Schöpfungsgeschichte erörtert.
Man hätte erwarten sollen, daß dieser großartige
Versuch, die Abstammungslehre oder Descendenz-Theorie
wissenschaftlich zu begründen, alsbald den herrschenden Mythus
von der Species-Schöpfung erschüttert und einer
natürlichen Entwickelungslehre Bahn gebrochen hätte.
Indessen vermochte Lamarck gegenüber der konservativen
Autorität seines großen Gegners Cuvier ebenso wenig
durchzudringen, wie zwanzig Jahre später sein Kollege und
Gesinnungsgenosse Géoffroy St. Hilaire. Die berühmten
Kämpfe, welcher dieser Naturphilosoph 1830 im Schooße der
Pariser Akademie mit Cuvier zu bestehen hatte, endigten mit
einem vollständigen Siege des Letzteren. Die mächtige
Entfaltung, welche zu jener Zeit das empirische Studium der Biologie
fand, die Fülle von interessanten Entdeckungen auf den Gebieten
der vergleichenden Anatomie und Physiologie, die Begründung
der Zellentheorie und die Fortschritte der Ontogenie gaben den Zoologen
und Botanikern einen solchen Ueberfluß von dankbarem Arbeits-Material, daß darüber die schwierige und dunkle Frage nach
der Entstehung der Arten ganz vergessen wurde. Man beruhigte sich bei
dem althergebrachten Schöpfungs-Dogma. Selbst nachdem der
große englische Naturforscher Charles Lyell 1830 in seinen
Principien der Geologie die abenteuerliche Katastrophen-Theorie von
Cuvier widerlegt und für die anorganische Natur unseres
Planeten einen natürlichen und kontinuirlichen
Entwickelungsgang nachgewiesen hatte, fand sein einfaches
Kontinuitäts-Princip auf die organische Natur keine Anwendung.
Die Anfänge der natürlichen Phylogenie, welche in
Lamarck's Werke verborgen lagen, wurden ebenso vergessen,
wie die Keime zu einer natürlichen Ontogenie, welche 50 Jahre
früher (1759) Caspar Friedrich Wolff in seiner Theorie der
Generation gegeben hatte. Hier wie dort verfloß ein volles halbes
Jahrhundert, ehe die bedeutendsten Ideen über natürliche
Entwickelung die gebührende Anerkennung fanden. Erst nachdem
Darwin 1859 die Lösung des Schöpfungs-Problems
von einer ganz anderen Seite angefaßt und den reichen, inzwischen
angesammelten Schatz von empirischen Kenntnissen glücklich
dazu verwerthet hatte, fing man an, sich auf Lamarck, als seinen
bedeutendsten Vorgänger, wieder zu besinnen.
Selektions-Theorie. Darwin (1859). Der beispiellose
Erfolg von Charles Darwin ist allbekannt; er läßt ihn
heute, am Schlusse des 19. Jahrhunderts, wenn nicht als den
größten, so doch als den wirkungsvollsten Naturforscher
desselben erscheinen. Denn kein anderer von den zahlreichen
großen Geisteshelden unserer Zeit hat mit einem einzigen
klassischen Werke einen so gewaltigen, so tiefgehenden und so
umfassenden Erfolg erzielt, wie Darwin 1859 mit seinem
berühmten Hauptwerk: "Ueber die Entstehung der Arten im Thier-
und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung
der vervollkommneten Rassen im Kampfe um's Dasein." Gewiß hat
die Reform der vergleichenden Anatomie und Physiologie durch
Johannes Müller der ganzen Biologie eine neue, fruchtbare
Epoche eröffnet, gewiß waren die Begründung der
Zellen-Theorie durch Schleiden und Schwann, die Reform
der Ontogenie durch Baer, die Begründung des Substanz-Gesetzes durch Robert Bauer und Helmholtz
wissenschaftliche Großthaten ersten Ranges; aber keine von ihnen
hat nach Tiefe und Ausdehnung eine so gewaltige, unser ganzes
menschliches Wissen umgestaltende Wirkung ausgeübt, wie
Darwin's Theorie von der natürlichen Entstehung der Arten.
Denn damit war ja das mysthische "Schöpfungs-Problem"
gelöst, und mit ihm die inhaltsschwere "Frage aller Fragen", das
Problem vom wahren Wesen und der Entstehung des Menschen
selbst.
Vergleichen wir die beiden großen Begründer des
Transformismus, so finden wir bei Lamarck überwiegende
Neigung zur Deduktion und zum Entwurfe eines
vollständigen monistischen Naturbildes, bei Darwin
hingegen vorherrschende Anwendung der Induktion und das
vorsichtige Bemühen, die einzelnen Theile der Descendenz-Theorie
durch Beobachtung und Experiment möglichst sicher zu
begründen. Während der französische Naturphilosoph
den damaligen Kreis des empirischen Wissens weit überschritt
und eigentlich das Programm der zukünftigen Forschung entwarf,
hatte der englische Experimentator umgekehrt den großen
Vortheil, das einigende Erklärungs-Princip für eine Masse
von empirischen Kenntnissen zu begründen, die bis dahin
unverstanden sich angehäuft hatten. So erklärt es sich,
daß der Erfolg von Darwin ebenso
überwältigend, wie derjenige von Lamarck
verschwindend war. Darwin hatte aber nicht allein das
große Verdienst, die allgemeinen Ergebnisse der verschiedenen
biologischen Forschungskreise in dem gemeinsamen Brennpunkte des
Descendenz-Princips zu sammeln und dadurch einheitlich zu
erklären, sondern er entdeckte auch in dem Selektions-Princip jene direkte Ursache der Transformation, welche
Lamarck noch gefehlt hatte. Indem Darwin als praktischer
Tierzüchter die Erfahrungen der künstlichen Zuchtwahl auf
die Organismen im freien Naturzustande anwendete und in dem
"Kampf um's Dasein" das auslesende Princip der natürlichen
Zuchtwahl entdeckte, schuf er seine bedeutungsvolle Selektionstheorie,
den eigentlichen Darwinismus (vergl. hierüber Arnold
Lang, Zur Charakteristik der Forschungswege von Lamarck
und Darwin. Jena 1889).
Stammesgeschichte (Phylogenie) (1866). Unter den
zahlreichen und wichtigen Aufgaben, welche Darwin der
modernen Biologie stellte, erschien als eine der nächsten die
Reform des zoologischen und botanischen Systems. Wenn die
unzähligen Thier- und Pflanzen-Arten nicht durch
übernatürliche Wunder "erschaffen", sondern durch
natürliche Umbildung "entwickelt" waren, so ergab sich das
"natürliche System" derselben als ihr Stammbaum.
Den ersten Versuch, das System in diesem Sinne umzugestalten,
unternahm ich selbst (1866) in meiner "Generellen Morphologie der
Organismen". Der erste Band dieses Werkes (Allgemeine Anatomie)
behandelte die "mechanische Wissenschaft von den entwickelten
Formen", der zweite Band (Allgemeine Entwickelungsgeschichte)
diejenige von den "entstehenden Formen". Die systematische Einleitung
in die letztere bildete eine "Genealogische Uebersicht des
natürlichen Systems der Organismen". Bis dahin hatte man unter
"Entwickelungsgeschichte" sowohl in der Zoologie als in der
Botanik ausschließlich diejenige der organischen Individuen
verstanden (Embryologie und Metamophosen-Lehre). Ich
begründete dagegen die Ansicht, daß dieser
Keimesgeschichte (Ontogenie) als zweiter,
gleichberechtigter und verbundener Zweig die
Stammesgeschichte (Phylogenie) gegenüberstehe.
Beide Zweige der Entwickelungsgeschichte stehen nach meiner
Auffassung im engsten kausalen Zusammenhang; dieser beruht auf der
Wechselwirkung der Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze; er fand
seinen präcisen und umfassenden Ausdruck in meinem
"biogenetischen Grundgesetze".
Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868). Da die
neuen, in der "Generallen Morphologie" niedergelegten Anschauungen
trotz ihrer streng wissenschaftlichen Fassung bei den sachkundigen
Fachgenossen sehr wenig Beachtung und noch weinger Beifall fanden,
versuchte ich, den wichtigsten Theil derselben in einem kleineren, mehr
populär gehaltenen Werke einem größeren gebildeten
Leserkreise zugänglich zu machen. Dies geschah 1868 in der
"Natürlichen Schöpfungsgeschichte"
(Gemeinverständliche wissenschaftlche Vorträge über
die Entwickelungslehre im allgemeinen und diejenige von Darwin,
Goethe und Lamarck im Besonderen). Wenn der gehoffte Erfolg der
"Generellen Morphologie" weit unter meiner berechtigten Erwarung
blieb, so ging umgekehrt derjenige der "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte" weit über dieselbe hinaus. Es
erschienen im Laufe von 34 Jahren zehn umgearbeitete Auflagen und
zwölf verschiedene Übersetzungen derselben. Trotz seiner
großen Mängel hat dieses Buch doch viel dazu beigetragen,
die Grundgedanken unserer modernen Entwickelungslehre in weiteren
Kreisen zu verbreiten. Allerdings konnte ich meinen Hauptzweck, die
phylogenetische Umbildung des natürlichen Systems, dort nur in
allgemeinen Umrissen andeuten. Indessen habe ich die
ausführliche, dort vermißte Begründung des
phylogenetischen Systems später in einem größeren
Werke nachgeholt, in der "Systematischen Phylogenie" (Entwurf
eines natürlichen Systems der Organismen auf Grund ihrer
Stammesgeschichte). Der erste Band derselben (1894) behandelt die
Protisten und Pflanzen, der zweite (1895) die wirbellosen Thiere, der
dritte (1896) die Wirbelthiere. Die Stammbäume der
kleineren und größeren Gruppen sind hier so weit
ausgeführt, als es mir meine Kenntniß der drei großen
"Stammesurkunden" gestattete, der Paläontologie, Ontogenie und
Morphologie.
Biogenetisches Grundgesetz. Den engen ursächlichen
Zusammenhang, welcher nach meiner Ueberzeugung zwischen beiden
Zweigen der organischen Entwickelungsgeschichte besteht, hatte ich
schon in der Generellen Morphologie (am Schlusse des fünften
Buches) als einen der wichtigsten Begriffe des Transformismus
hervorgehoben und einen präcisen Ausdruck dafür in
mehreren "Thesen von dem Kausal-Nexus der biontischen und der
phylogenetischen Entwickelung" gegeben: "Die Ontogenesis ist eine
kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis, bedingt durch
die physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und
Anpassung (Ernährung)". Schon Darwin hatte (1859) die
große Bedeutung seiner Theorie für die Erklärung der
Embryologie betont, und Fritz Müller hatte dieselbe (1864)
an dem Beispiele einer einzelnen Thierklasse, der Krustaceen,
erläutert, in der geistvollen Schrift: "Für Darwin"
(1864). Ich selbst habe dann die allgemeine Geltung und die
fundamentale Bedeutung jenes biogenetischen Grundgesetzes in einer
Reihe von Arbeiten nachzuweisen versucht, insbesondere in der Biologie
der Kalkschwämme (1872) und in den "Studien zur Gasträa-Theorie" (1873 bis 1884). Die dort aufgestellte Lehre von der Homologie
der Keimblätter, sowie von den Verhältnissen der
Palingenie (Auszugsgeschichte) und der
Cenogenie (Störungsgeschichte) ist seitdem durch
zahlreiche Arbeiten anderer Zoologen bestätigt worden; durch sie
ist es möglich geworden, die natürlichen Gesetze der
Einheit in der mannigfaltigen Keimesgeschichte der Thiere
nachzuweisen; für ihre Stammesgeschichte ergiebt sich daraus die
gemeinsame Ableitung von einer einfachsten ursprünglichen
Stammform.
Anthropogenie (1874). Der weitschauende Begründer
der Abstammungslehre, Lamarck, hatte schon 1809 richtig
erkannt, daß dieselbe allgemeine Geltung besitze und daß also
auch der Mensch, als das höchst entwickelte
Säugethier, von demselben Stamme abzuleiten sei, wie alle
anderen Mammalien, und diese weiter hinauf von demselben
älteren Zweige des Stammbaums, wie die übrigen
Wirbelthiere. Er hatte auch schon auf die Vorgänge hingewiesen,
durch welche die Abstammung des Menschen vom Affen, als dem
nächstverwandten Säugethiere, wissenschaftlich
erklärt werden könne. Darwin, der
natürgemäß zu derselben Ueberzeugung gelangt war,
ging in seinem Hauptwerk (1859) über diese
anstößigste Folgerung seiner Lehre absichtlich hinweg und
hat dieselbe erst später (1871) in seinem Werke über "Die
Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl"
geistreich ausgeführt. Inzwischen hatte aber schon sein Freund
Huxley (1863) jenen wichtigsten Folgeschluß der
Abstammungslehre sehr scharfsinnig erörtert in seiner
berühmten kleinen Schrift über die "Zeugnisse für die
Stellung des Menschen in der Natur". An der Hand der vergleichenden
Anatomie und Ontogenie und gestützt auf die Thatsachen der
Paläontologie zeigte Huxley, daß die "Abstammung des
Menschen vom Affen" eine nothwendige Konsequenz des Darwinismus
sei, und daß eine andere wissenschaftliche Erklärung von der
Entstehung des Menschengeschlechts überhaupt nicht gegeben
werden könne. Diese Ueberzeugung theilte auch damals schon
Carl Gegenbaur, der bedeutendste Vertreter der vergleichenden
Anatomie, welcher diese wichtige Wissenschaft durch die konsequente
und scharfsinnige Anwendung der Descendenz-Theorie auf eine
höhere Stufe erhoben hat.
Als weitere Folgerung dieser Pithecoiden-Theorie (oder "Affen-Abstammungslehre" des Menschen) ergab sich die schwierige Aufgabe,
nicht nur die nächstverwandten Säugethier-Ahnen des
Menschen in der Tertiär-Zeit zu erforschen, sondern auch die
lange Reihe der älteren thierischen Vorfahren, welche in
früheren Zeiträumen der Erdgeschichte gelebt und
während ungezählter Jahr-Millionen sich entwickelt hatten.
Die hypothetische Lösung dieser großen historischen Aufgabe
hatte ich schon 1866 in der Generellen Morphologie zu beginnen
versucht; weiter ausgeführt habe ich dieselbe 1874 in meiner
Anthropogenie (I. Teil: Keimesgeschichte, II Theil:
Stammesgeschichte). Die fünfte, umgearbeitete Auflage dieses
Buches (1903) enthält diejenige Darstellung der
Entwickelungsgeschichte des Menschen, welche bei dem
gegenwärtigen Zustande unserer Urkundenkenntniß sich dem
fernen Ziele der Wahrheit nach meiner persönlichen Auffassung
am meisten nähert; ich war dabei stets bemüht, alle drei
empirischen Urkunden, die Paläontologie, Ontogenie
und Morphologie (oder vergleichende Anatomie) möglichst
gleichmäßig und im Zusammenhange zu benutzen. Sicher
werden die hier gegebenen Descendenz-Hypothesen im Einzelnen durch
spätere phylogenetische Forschungen vielfach ergänzt und
berichtigt werden; aber eben so sicher steht für mich die
Ueberzeugung, daß der dort entworfene Stufengang der
menschlichen Stammesgeschichte im Großen und Ganzen der
Wahrheit entspricht. Denn die historische Reihenfolge der
Wirbelthier-Versteinerungen entspricht vollständig der
morphologischen Entwickelungsreihe, welche uns die vergleichende
Anatomie und Ontogenie enthüllt: auf die silurischen Fische folgen
die devonischen Lurchfische, die karbonischen Amphibien, die
permischen Reptilien und die mesozoischen Säugethiere; von
diesen erscheinen wiederum zunächst in der Trias die niedersten
Formen, die Gabelthiere (Monotremen), dann im Jura die
Beutelthiere (Marsupialien), und darauf in der Kreide die
ältesten Zottenthiere (Placentalien). Von diesen letzteren
treten wieder zunächst in der ältesten Tertiär-Zeit
(Eocaen) die niedersten Primaten-Ahnen auf, die Halbaffen, und
zwar von den Catarrhinen zuerst die Hundsaffen
(Cynopitheken), später die Menschenaffen
(Anthropomorphen); aus einem Zweige dieser letzteren ist
während der Pliocän-Zeit der sprachlose
Affenmensch entstanden (Pithecanthropus alalus), und
diesem endlich der sprechende Mensch.
Viel schwieriger und unsicherer als diese Kette unserer Wirbelthier-Ahnen ist diejenige der vorhergehenden wirbellosen Ahnen zu
erforschen; denn von ihren weichen skelettlosen Körpern kennen
wir keine versteinerten Ueberreste; die Paläontologie kann uns
hier keinerlei Zeugniß liefern. Um so wichtiger werden hier die
Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie. Da der
menschliche Keim denselben Chordula-Zustand durchläuft,
wie der Embryo allen anderen Wirbelthiere, da er sich ebenso aus zwei
Keimblättern einer Gastrula entwickelt, schließen wir
nach dem biogenetischen Grundgesetze auf die frühere Existenz
entsprechender Ahnen-Formen (Vermalien, Gastraeaden).
Vor Allem wichtig aber ist die fundamentale Thatsache, daß auch
der Keim des Menschen, gleich demjenigen aller anderen Thiere, sich
ursprünglich aus einer einer einfachen Zelle entwickelt; denn diese
Stammzelle (Cytula) - die "befruchtete Eizelle" - weist
zweifellos auf eine entsprechende einzellige Stammform hin, ein uraltes
(laurentisches) Protozoon.
Für unsere monistische Philosophie ist es übrigens
zunächst ziemlich gleichgiltig, wie sich im Einzelnen die
Stufenreihe unserer thierischen Vorfahren noch sicherer feststellen
lassen wird. Für sie bleibt als sichere historische Thatsache
die folgenschwere Erkenntniß bestehen, daß der Mensch
zunächst vom Affen abstammt, weiterhin von einer langen
Reihe niederer Wirbelthiere. Die logische Begründung dieses
Pithekometra-Satzes habe ich schon 1866 im siebenten Buche der
"Generellen Morphologie" betont (S. 427): "Der Satz, daß der
Mensch sich aus niederen Wirbelthieren, und zwar zunächst aus
echten Affen, entwickelt hat, ist ein spezieller Deduktions-Schluß,
welcher sich aus dem generellen Induktions-Gesetze der Descendenz-Theorie mit absoluter Nothwendigkeit ergiebt."
Von größter Bedeutung für die definitive Feststellung
und Anerkennung dieses fundamentalen Pithekometra-Satzes
sind die paläontologishcne Entdeckungen der letzten drei
Dezennien geworden; insbesondere haben uns die überraschenden
Funde von zahlreichen ausgestorbenen Säugethieren der
Tertiär-Zeit in den Stand gesetzt, die Stammesgeschichte dieser
wichtigen Thierklasse, von den niedersten, eierlegenden Monotremen
bis zum Menschen hinauf, in ihren Grundzügen klarzulegen. Die
vier Hauptgruppen der Zottenthiere oder Placentalia, die
formenreichen Legionen der Raubthiere, Nagethiere, Hufthiere und
Herrenthiere, erscheinen durch tiefe Klüfte getrennt, wenn wir
nur die heute noch lebenden Epigonen als Vertreter derselben ins Auge
fassen. Diese Klüfte werden aber vollkommen ausgefüllt und
die scharfen Unterschiede der vier Legionen gänzlich verwischt,
wenn wir ihre tertiären, ausgestorbenen Vorfahren vergleichen,
und wenn wir bis in die eocäne Geschichts-Dämmerung der
ältesten Tertiär-Zeit hinabsteigen (mindestens drei Millionen
Jahre zurückliegend!). Da finden wir die große Unterklasse
der Zottenthiere, die heute mehr als 2500 Arten umfaßt, nur durch
eine geringe Zahl von kleinen und unbedeutenden "Urzottenthieren"
vertreten; und in diesen Prochoriaten erscheinen die Charaktere
jener vier divergenten Legionen so gemischt und verwischt, daß
wir sie vernünftiger Weise nur als gemeinsame Vorfahren
derselben deuten können. Die ältesten Raubthiere
(Ictopsales), die ältesten Nagethiere (Esthonychales),
die ältesten Hufthiere (Condylarthrales) und die
ältesten Herrenthiere (Lemuravales) besitzen alle im
Wesentlichen dieselbe Bildung des Knochen-Gerüstes und dasselbe
typische Gebiß der ursprünglichen Placentalien mit 44
Zähnen (in jeder Kieferhälfte drei Schneidezähne, ein
Eckzahn, vier Lückenzähne und drei Mahlzähne); sie
zeichnen sich alle durch die geringe Größe und die
unvollkommene Bildung ihres Gehirns aus (besonders des wichtigsten
Teiles, der Großhirnrinde, die sich erst später bei den
miocänen und pliocänen Epigonen zum wahren "Denkorgane"
entwickelt hat): sie haben alle kurze Beine und fünfzehige
Füße, die mit der flachen Sohle auftreten (Plantigrada).
Bei manchen dieser ältesten Zottenthiere der Eozän-Zeit war
es Anfangs zweifelhaft, ob man sie zu den Raubthieren oder
Nagethieren, zu den Hufthieren oder Herrenthieren stellen sollte; so sehr
nähern sich hier unten diese vier großen, später so
sehr verschiedenen Legionen der Placentalien bis zur Berührung.
Unzweifelhaft folgt daraus ihr gemeinsamer Ursprung aus einer einzigen
Stammgruppe. Diese Prochoriata lebten schon in der
vorhergehenden Kreide-Periode (vor mehr als drei Jahr-Millionen!) und
sind wahrscheinlich in der Jura-Periode aus einer Gruppe von
insektenfressenden Beutelthieren (Amphitheria) durch
Ausbildung einer primitiven Placenta diffusa entstanden, einer
Zottenhaut einfachster Art.
Die wichtigsten aber von allen neueren paläontologischen
Entdeckungen, welche Stammesgeschichte der Zottenthiere
aufgeklärt haben, betreffen unseren eigenen Stamm, die Legion
der Herrenthiere (Primates). Früher waren versteinerte
Reste derselben äußerst selten. Noch Cuvier, der
große Gründer der Paläontologie, behauptete bis zu
seinem Tode (1832), daß es keine Versteinerungen von Primaten
gäbe; zwar hatte er selbst schon den Schädel eines
eocänen Halbaffen (Adapis) beschrieben, ihn aber
irrthümlich für ein Hufthier gehalten. In den letzten beiden
Decennien sind aber gut erhaltene, versteinerte Skelette von Halbaffen
und Affen in ziemlicher Zahl entdeckt worden; darunter befinden sich
alle die wichtigen Zwischenglieder, welche eine
zusammenhängende Ahnen-Kette von den ältesten
Halbaffen bis zum Menschen hinauf darstellen.
Der berühmteste und interessanteste von diesen fossilen Funden
ist der versteinerte Affenmensch von Java, welchen der
holländische Militär-Arzt Eugen Dubois 1894
entdeckt hat, der vielbesprochene Pithecanthropus erectus. Er ist
in der That das vielgesuchte "Missing link", das angeblich
"fehlende Glied" in der Primaten-Kette, welche sich ununterbrochen vom
niedersten katarrhinen Affen bis zum höchst entwickelten
Menschen hinaufzieht. Ich habe die hohe Bedeutung, welche dieser
merkwürdige Fund besitzt, ausführlich erörtert in dem
Vortrage "Ueber unsere gegenwärtige Kenntniß vom
Ursprung des Menschen", welchen ich am 26 August 1898 auf dem
vierten Internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge gehalten
habe. Der Paläontologe, welcher die Bedingungen für Bildung
und Entdeckung von Versteinerungen kennt, wird die Entdeckung des
Pithecanthropus als einen besonders glücklichen Zufall betrachten.
Denn als Baumbewohner kommen die Affen nach ihrem Tode (wenn sie
nicht zufällig ins Wasser fallen) nur selten unter
Verhältnisse, welche die Erhaltung und Versteinerung ihres
Knochengerüstes gestatten. Durch den Fund dieses fossilen
Affenmenschen von Java ist also auch von Seiten der
Paläontologie die "Abstammung des Menschen vom Affen"
ebenso klar und sicher bewiesen, wie es früher schon durch die
Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie
geschehen war; wir besitzen jetzt in der That alle wesentlichen
Urkunden unserer Stammesgeschichte.
Sechstes Kapitel
Das Wesen der Seele.
Monistische Studien über den Begriff der Psyche. Aufgaben und
Methoden der wissenschaflichen Psychologie. Psychologische
Metamorphosen.
------
Inhalt: Fundamentale Bedeutung der Psychologie, Begriff und
Methoden derselben. Gegensätze der Ansichten darüber.
Dualistische und monistische Psychologie. Verhältniß zum
Substanz-Gesetz. Begriffs-Verwirrung. Psychologische Metamorphosen:
Kant, Virchow, Du Bois-Reymond. Erkenntnißwege der
Seelenkunde. Introspektive Methode (Selbstbeobachtung). Exakte
Methode (Psychophysik). Vergleichende Methode (Thier-Psychologie).
Psychologischer Principien-Wechsel, Wundt. Völker-Psychologie
und Ethnographie, Bastian. Ontogenetische Psychologie, Preyer.
Phylogenetische Psychologie, Darwin, Romanes.
Die Erscheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe des
Seelenlebens oder der psychischen Thätigkeit
zusammenfaßt, sind unter allen uns bekannten Phänomenen
einerseits die wichtigsten und interessantesten, andererseits die
verwickeltesten und räthselhaftesten. Da die Natur-Erkenntniß selbst, die Aufgabe unserer vorliegenden
philosophischen Studien, ein Theil des Seelenlebens ist, und da mithin
auch die Anthropologie, ebenso wie die Kosmologie, eine richtige
Erkenntniß der "Psyche" zur Voraussetzung hat, so kann
man die Psychologie, die wirklich wissenschaftliche Seelenlehre,
auch als das Fundament und als die Voraussetzung aller anderen
Wissenschaften ansehen; von der anderen Seite betrachtet, ist sie
wieder ein Theil der Philosophie oder der Physiologie oder der
Anthropologie.
Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen
Begründung liegt nun aber darin, daß die Psychologie
wiederum die genaue Kenntniß des menschlichen Organismus
voraussetzt und vor Allem des Gehirns, als des wichtigsten
Organs des Seelenlebens. Die große Mehrzahl der
sogenannten "Psychologen" besitzt jedoch von diesen anatomischen
Grundlagen der Psyche nur sehr unvollständige oder gar keine
Kenntniß, und so erklärt sich die bedauerliche Thatsache,
daß in keiner anderen Wissenschaft so widersprechende und
unhaltbare Vorstellungen über ihren eigenen Begriff und ihre
wesentliche Aufgabe herrschen, wie in der Psychologie. Diese Konfusion
ist in den letzten drei Decennien um so fühlbarer hervorgetreten,
je mehr die großartigen Fortschritte der Anatomie und Physiologie
unsere Kenntniß vom Bau und von den Funktionen des wichtigsten
Seelen-Organs erweitert haben.
Methoden der Seelenforschung. Nach meiner Ueberzeugung ist
das, was man die "Seele" nennt, in Wahrheit eine
Naturerscheinung; ich betrachte daher die Psychologie als einen
Zweig der Naturwissenschaft - und zwar der Physiologie.
Demzufolge muß ich von vornherein betonen, daß wir
für dieselbe keine anderen Forschungswege zulassen können
als in allen übrigen Naturwissenschaften; d. h. in erster Linie die
Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie die
Entwickelungsgeschichte und in dritter Linie die metaphysische
Spekulation, welche durch induktive und deduktive
Schlüsse möglichst dem unbekannten "Wesen" der
Erscheinung sich zu nähern sucht. Mit Bezug auf die principielle
Beurtheilung desselben aber müssen wir zunächst gerade
hier den Gegensatz der dualistischen und der monistischen Ansicht
scharf in's Auge fassen.
Dualistische Psychologie. Die allgemein herrschende Aufassung
des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet die Seele und
Leib als zwei verschiedene "Wesen". Diese beiden Wesen
können unabhängig von einander existiren und sind nicht
nothwendig an einander gebunden. Der organische Leib ist ein
sterbliches materielles Wesen, chemisch zusammengesetzt aus
lebendigem Plasma und den von diesem erzeugten Verbindungen
(Plasma-Produkten). Die Seele hingegen ist ein unsterbliches,
immaterielles Wesen, ein spirituelles Agens, dessen
räthselhafte Thätigkeit uns völlig unbekannt ist. Diese
triviale Auffassung ist als solche rein spiritualistisch und ihr
principielles Gegenteil im gewissen Sinne materialistisch. Sie ist zugleich
transcendent und supranaturalistisch; denn sie behauptet die
Existenz von Kräften, welche ohne materielle Basis existiren und
wirksam sind; sie fußt auf der Annahme, daß außer und
über der Natur noch eine "geistige Welt" exitirt, eine immaterielle
Welt, von der wir durch Erfahrung nichts wissen und unserer Natur
nach nichts wissen können.
Diese hypothetische "Geisteswelt", die von der materiellen
Körperwelt ganz unabhängig sein soll, und auf deren
Annahme das ganze künstliche Gebäude der dualistischen
Weltanschauung ruht, ist lediglich ein Produkt der dichtenden
Phantasie; und dasselbe gilt von dem mystischen, eng mit ihr
verknüpften Glauben an die "Unsterblichkeit der Seele", dessen
wissenschaftliche Unhaltbarkeit wir nachher noch besonders darthun
müssen (im 11. Kapitel). Wenn die in diesem Sagenkreise
herrschenden Glaubens-Vorstellungen wirklich begründet
wären, so müßten die betreffenden Erscheinungen
nicht dem Substanz-Gesetze unterworfen sein; diese
einzige Ausnahme von dem höchsten kosmologischen
Grundgesetze müßte aber erst sehr spät im Laufe der
organischen Erdgeschichte eingetreten sein, da sie nur die "Seele" des
Menschen und der höheren Thiere betrifft. Auch das Dogma des
"freien Willens", ein anderes wesentliches Stück der dualistischen
Psychologie, ist mit dem unversalen Substanz-Gesetze ganz
unvereinbar.
Monistische Psychologie. Die natürliche Auffassung des
Seelenlebens, welche wir vertreten, erblickt dagegen in demselben eine
Summe von Lebens-Erscheinungen, welche gleich allen anderen an ein
bestimmtes materielles Substrat gebunden sind. Wir wollen diese
materielle Basis aller psychischen Thätigkeit, ohne welche dieselbe
nicht denkbar ist, vorläufig als Psychoplasma bezeichnen,
und zwar deshalb, weil sie durch die chemische Analyse überall
als ein Körper nachgewiesen ist, welcher zur Gruppe der
Plasma-Körper gehört, d. h. jener eiweißartigen
Kohlenstoff-Verbindungen, welche sämmtlichen
Lebensvorgängen zu Grunde liegen. Bei den höheren
Thieren, welche ein Nerven-System und Sinnes-Organe besitzen, ist aus
dem Psychoplasma durch Differenzirung das Neuroplasma,
die Nervensubstanz, entstanden. Unsere Auffassung ist in diesem
Sinne materialistisch. Sie ist aber zugleich empirisch und
naturalistisch. denn unsere wissenschaftliche Erfahrung hat uns
noch keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen
Grundlage entbehren, und keine "geistige Welt", welche außer der
Natur und über der Natur stünde.
Gleich allen anderen Natur-Erscheinungen sind auch diejenigen des
Seelenlebens dem obersten, Alles beherrschenden
Substanzgesetze unterworfen; es giebt auch in diesem Gebiete
keine einzige Ausnahme von diesem höchsten kosmologischen
Grundgesetze (vgl. Kapitel 12). Die Vorgänge des niederen
Seelenlebens bei den einzelligen Protisten und bei den Pflanzen - aber
ebenso auch bei den niederen Thieren - , ihre Reizbarkeit, ihre Reflex-Bewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben nach Selbsterhaltung,
sind unmittelbar bedingt durch physiologische Vorgänge in dem
Plasma ihrer Zellen, durch physikalische und chemische
Veränderungen, welche theils auf Vererbung, theils auf
Anpassung zurückzuführen sind. Aber ganz dasselbe
müssen wir auch für die höheren
Seelenthätigkeiten der höheren Thiere und des Menschen
behaupten, für die Bildung der Vorstellungen und Begriffe,
für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und des
Bewußtseins; denn diese letzteren haben sich phylogenetisch aus
jenen ersteren entwickelt, und nur der höhere Grad der
Integration oder Centralisation, der Association oder Vereinigung der
früher getrennten Funktionen, erhebt sie zu dieser erstaunlichen
Höhe.
Begriffe der Psychologie. In jeder Wissenschaft gilt mit Recht
als erste Aufgabe die klare Begriffs-Bestimmung des
Gegenstandes, den sie zu erforschen hat. In keiner Wissenschaft aber ist
die Lösung dieser ersten Aufgabe so schwierig als in der
Seelenlehre, und diese Thatsache ist um so merkwürdiger, als die
Logik, die Lehre von der Begriff-Bildung, selbst nur ein Theil der
Psychologie ist. Wenn wir Alles vergleichen, was über die
Grundbegriffe der Seelenkunde von den angesehendsten Philosophen
und Naturforschern aller Zeiten gesagt worden ist, so ersticken wir in
einem Chaos der widersprechendsten Ansichten. Was ist eigentlich die
"Seele"? Wie verhält sie sich zum "Geist"? Welche
Bedeutung hat eigentlich das "Bewußtsein"? Wie
unterscheiden sich "Empfindung" und "Gefühl"? Was
ist der "Instinkt"? Wie verhält sich der "freie Wille"?
Was ist "Vorstellung"? Welcher Unterschied besteht zwischen
"Verstand und Vernunft? und was ist eigentlich
"Gemüth"? Welche Beziehung besteht zwischen allen diesen
"Seelen-Erscheinungen und dem Körper"? Die Antworten
auf diese und viele andere, sich daran anschließenden Fragen
lauten so verschieden als möglich; nicht allein gehen die Ansichten
der angesehensten Autoritäten darüber weit aus einander,
sondern auch eine und dieselbe wissenschaftliche Autorität
hat oft im Laufe ihrer eigenen psychologischen Entwickelung ihre
Ansichten völlig verändert. Sicher hat diese
"psychologische Metamorphose" vieler Denker nicht wenig zu der
kolossalen Konfusion der Begriffe beigetragen, welche in der
Seelenlehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß
herrscht.
Psychologische Metamorphosen. Das interessanteste Beispiel
solchen totalen Wechsels der objektiven und subjektiven Anschauungen
liefert wohl der einflußreichste Führer der deutschen
Philosophie, Immanuel Kant. Der jugendliche, wirklich
kritische Kant war zu der Ueberzeugung gelangt, daß die
drei Großmächte des Mysticismus - "Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit" - im Lichte der "reinen Vernunft" unhaltbar
erscheinen; der gealterte, dogmatische Kant dagegen fand,
daß diese frei Haupt-Gespenster "Postulate der praktischen
Vernunft" und als solche unentbehrlich sind. Je mehr neuerdings die
angesehende Schule der Neokantianer den "Rückgang auf
Kant" als einzige Rettung aus dem entsetzlichen Wirrwarr der
modernen Metaphysik predigt, desto klarer offenbart sich der
unleugbare und unheilbare Widerspruch zwischen den
Grundanschauungen des jungen und des alten Kant; wir kommen
später noch auf diesen Dualismus zurück.
Ein interessantes Beispiel ähnlicher tiefgehender Wandlungen
bieten zwei der berühmtesten Naturforscher, R. Virchow
und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphose ihrer
psychologischen Grundanschauungen darf um so weniger
übersehen werden, als beide Berliner Biologen seit mehr als 40
Jahren an der größten Universität Deutschlands eine
höchst bedeutende Relle gespielt und sowohl direkt wie indirekt
einen tiefgreifenden Einfluß auf das moderne Geistesleben
geübt haben. Rudolf Virchow, der verdienstvolle
Begründer der Cellular-Pathologie, war in der besten Zeit seiner
wissenschaftlichen Thätigkeit, um die Mitte des 19. Jahrhunderts
(und besonders während seines Würzburger Aufenthalts,
von 1849 - 1856) reiner Monist; ergalt damals als einer der
hervorragendsten Vertreter jenes neu erwachenden
"Materialismus", der im Jahre 1855 besonders durch zwei
berühmte, fast gleichzeitig erschienene Werke eingeführt
wrude: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und Carl
Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft. Seine allgemeinen
biologischen Anschauungen von den Lebensvorgängen im
Menschen - sämmtlich als mechanische Natur-Erscheinungen
aufgefaßt! - legte damals Virchow in einer Reihe
ausgezeichneter Artikel in den ersten Bänden des von ihm
herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie nieder.
Wohl die bedeutendste unter diesen Abhandlungen und diejeningen, in
welcher er seine damalige monistische Weltanschauung am
klarsten zusammenfaßte, ist diejenige über "Die
Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin" (1849). Es
geschah gewiß mit Bedacht und mit der Ueberzeugung ihres
philosophischen Werthes, daß Virchow 1856 dieses
"medicinische Glaubens-Bekenntniß" an die Spitze seiner
"Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin" stellte. Er
vertritt darin ebenso klar als bestimmt die fundamentalen Principien
unseres heutigen Monismus, wie ich sie hier mit Bezug auf die
Lösung der "Welträthsel" darstelle; er verteidigt die alleinige
Berechtigung der Erfahrungs-Wissenschaft, deren einzige
zuverlässige Quellen Sinnesthätigkeit und Gehirn-Funktion
sind; er bekämpft ebenso entschieden den anthropologischen
Dualismus, jede sognannte Offenbarung und jede "Transcendenz" mit
ihren zwei Wegen: "Glauben und Anthropomorphismus". Vor Allem
betont er den monistischen Charakter der Anthropologie, den
untrennbaren Zusammenhang von Geist und Körper, vor Kraft und
Materie; am Schlusse seines Vorworts spricht er (S. 4) den Satz aus: "Ich
habe die Ueberzeugung, daß ich mich niemals in der Lage befinden
werde, den Satz von der Einheit des menschlichen Wesens und
seine Konsequenzen zu verleugnen." Leider war die "Ueberzeugung" ein
schwerer Irrthum; denn 28 Jahre später vertrat Virchow
ganz entgegengesetzte principielle Anschauungen; es geschah dies in
jener vielbesprochenen Rede über "Die Freiheit der Wissenschaft
im modernen Staate", die er 1877 auf der Naturforscher-Versammlung
in München hielt, und deren Angriffe ich in meiner Schrift "Freie
Wissenschaft und freie Lehre" (1878) zurückgewiesen habe.
Aehnliche Widersprüche in Bezug auf die wichtigsten
philosophischen Grundsätze wie Virchow hat auch Emil
Du Bois-Reymond gezeigt und damit den lauten Beifall der
dualistischen Schulen und vor Allem der Ecclesia militans
errungen. Je mehr dieser berühmte Rhetor der Berliner Akademie
im Allgemeinen die Grundsätze unseres Monismus vertrat, je
mehr er selbst zur Widerlegung des Vitalismus und der transcendenten
Lebens-Auffassung beigetragen hatte, desto lauter war das Triumph-Geschrei der Gegner, als er 1872 in seiner wirkungsvollen
Ignorabimus-Rede das "Bewußtsein" als ein
unlösbares Welträthsel hingestellt und als eine
übernatürliche Erscheinung den anderen Gehirn-Funktionen
gegenüber gestellt hatte. Ich komme später (im 10. Kapitel)
darauf zurück.
Objektive und subjektive Psychologie. Die ganz
eigenthümliche Natur vieler Seelenerscheinungen, und vor Allem
des Bewußtseins bedingt gewisse Abänderungen und
Modifikationen unserer naturwissenschaftlichen Untersuchungs-Methoden. Besonders wichtig ist hier der Umstand, daß zu der
gewöhnlichen, objektiven, äußeren
Beobachtung noch die introspektive Methode treten muß,
die subjektive, innere Beobachtung, welche die Spiegelung
unseres "Ich" im Bewußtsein bedingt. Von dieser "unmittelbaren
Gewißheit des Ich" gingen die meisten Psychologen aus;
"Cogito, ergo sum!, "Ich denke, also bin Ich." Wir
werden daher zunächst auf diesen Erkenntniß-Weg und dann
erst auf die anderen ihn ergänzenden Methoden einen Blick
werfen.
Introspektive Psychologie (Selbstbeobachtung der Seele). Der
weitaus größte Theil aller derjenigen Kenntnisse, welche seit
Jahrtausenden in unzähligen Schriften über das menschliche
Seelenleben niedergelegt sind, beruht auf introspektiver
Seelenforschung, d. h. auf Selbstbeobachtung, und auf
Schlüssen, welche wir aus der Associon und Kritik dieser
subjektiven, "inneren Erfahrungen" ziehen. Für einen wichtigen
Theil der Seelenlehre ist dieser introspektive Weg überhaupt der
einzig mögliche, vor Allem für die Erforschung des
Bewußtseins; diese Gehirn-Funktion nimmt daher eine ganz
eigenthümliche Stellung ein und ist mehr als jede andere die
Quelle unzähliger philosophischer Irrthümer geworden
(vergl. Kap. 10). Es ist aber ganz ungenügend und führt zu
ganz unvollkommenen und falschen Vorstellungen, wenn man diese
Selbstbeobachtungen unseres Geistes als die wichtigste oder
überhaupt als die einzige Quelle seiner Erkenntniß
betrachtet, wie es von zahlreichen und angesehenen Philosophen
geschehen ist. Denn ein großer Theil der wichtigsten Erscheinungen
im Seelenleben, vor Allem die Sinnes-Funktionen (Sehen,
Hören, Riechen u. s. w.) ferner die Sprache, kann nur auf
demselben Wege erforscht werden wie jede andere
Lebensthätigkeit des Organismus, nämlich erstens durch
gründliche anatomische Untersuchung ihrer Organe, und
zweitens durch exakte physiologische Analyse der davon
abhängigen Funktionen. Um diese "äußere
Beobachtung" zu ergänzen, bedarf es aber gründlicher
Kenntnisse in Anatomie und Histologie, Ontogenie und Physiologie des
Menschen. Von diesen unentbehrlichen Grundlagen der Anthropologie
haben nun die meisten sogenannten "Psychologen" gar keine oder
nur höchsst unvollkommene Kenntniß; sie sind daher nicht
im Stande, auch nur von ihrer eigenen Seele eine genügende
Vorstellung zu erwerben. Dazu kommt noch der schlimme Umstand,
daß die hochverehrte eigene Seele dieser Psychologen
gewöhnlich die einseitig ausgebildete (wenn auch in ihrem
spekulativen Sport sehr hoch entwickelte Psyche!) eines
Kulturmenschen höchster Rasse darstellt, also das letzte
Endglied einer langen phyletischen Entwickelungsreihe, deren
zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr
richtiges Verständniß unentbehrlich sind. So erklärt es
sich, daß der größte Theil der gewaltigen
psychologischen Literatur heute werthlose Makulatur ist. Die
introspektive Methode ist gewiß höchst werthvoll und
unentbehrlich, sie bedarf aber durchaus der Mitwirkung und
Ergänzung durch die übrigen Methoden.
Exakte Psychologie. Je reicher im Laufe unseres Jahrhunderts
sich die verschiedenen Zweige des menschlichen Erkenntniß-Baumes entwickelt, je mehr sich die verschiedenen Methoden der
einzelnen Wissenschaften vervollkommnet haben, deste mehr ist das
Bestreben gewachsen, dieselben exact zu gestalten, d. h. die
Erscheinungen möglichst genau empirisch zu untersuchen
und die daraus abzuleitenden Gesetze thunlichst scharf, wo
möglich mathematisch zu formuliren. Letzteres ist aber nur
bei einem kleinen Theile des menschlichen Wissens erreichbar,
vorzüglich in jenen Wissenschaften, bei denen es sich in der
Hauptsache um meßbare Größen-Bestimmungen
handelt: in erster Linie der Mathematik, sodann der Astronomie, der
Mechanik, überhaupt einem großen Theile der Physik und
der Chemie. Diese Wissenschaften werden daher auch als exacte
Disciplinen im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen ist es nicht richtig
und führt nur irre, wenn man oft alle Naturwissenschaften
"exakte" betrachtet und anderen, namentlich den historischen und den
"Geisteswissenschaften" gegenüberstellt. Denn ebenso wenig als
diese letzteren kann auch der größere Theil der
Naturwissenschaft wirklich exakt behandelt werden; ganz besonders gilt
dies von der Biologie und in dieser wieder von der Psychologie. Da diese
letzere nur ein Theil der Physiologie ist, muß sie im Allgemeinen
deren fundamentale Erkenntniß-Wege theilen. Sie muß die
thatsächlichen Erscheinungen des Seelenlebens möglichst
genau empirisch ergründen, durch Beobachtung und durch
Experiment; und sie muß dann die Gesetze der Psyche aus diesen
durch induktive und deduktive Schüsse ableiten und
möglichst scharf formuliren. Allein eine mathematische
Formulirung derselben ist aus leicht begreiflichen Gründen nur
sehr selten möglich; sie ist mit großem Erfolge nur bei einem
Theile der Sinnes-Physiologie ausgeführt; dagegen für den
weitaus größten Theil der Gehirn-Physiologie ist sie nicht
anwendbar.
Psychophysik. Ein kleiner Theil der Psychologie, welcher der
erstrebten "exakten" Untersuchung zugänglich erscheint, ist seit
zwanzig Jahren mit großer Sorgfalt studirt und zum Range einer
besonderen Disciplin erhoben worden unter der Bezeichnung
Psychophysik. Die Begründer derselben, die Physiologen
Theodor Fechner und Ernst Heinrich Weber in Leipzig,
untersuchten zunächst genau die Abhängigkeit der
Empfindungen von den äußeren, auf die Sinnesorgane
wirkenden Reizen und besonders das quantitative Verhältniß
zwischen Reizstärke und Empfindungs-Intensität. Sie
fanden, daß zur Erregung einer Empfindung eine bestimmte
minimale Reizstärke erforderlich ist (die "Reizschwelle"), und
daß ein gegebener Reiz immer um einen gewissen Betrag (die
"Unterschiedsschwelle") geändert werden muß, ehe die
Empfindung sich merklich verändert. Für die wichtigsten
Sinnes-Empfindungen (Gesicht, Gehör, Druckempfindung) gilt das
Gesetz, daß ihre Aenderung derjenigen der Reizstärke
proportional sein ist. Aus diesem empirischen "Weber'schen Gesetz"
leitete Fechner durch mathematische Operationen sein
"psychophysisches Grundgesetz" ab, wonach die Empfindungs-Intensitäten in arithmetischer Progression wachsen sollen,
hingegen die Reizstärken in geometrischer Progression. Indessen
ist deses Fechner'sche Gesetz, ebenso wie andere psychophysische
"Gesetze" mehrfach angegriffen und als "nicht exakt" bezweifelt worden.
Jedenfalls hat die moderne "Psychophysik" die hohen Erwartungen, mit
denen sie vor zwanzig Jahren begrüßt wurde, nicht entfernt
erfüllt; das Gebiet ihrer möglichen Anwendung ist nur sehr
beschränkt. Indessen hat sie principiell insofern hohen Werth, als
dadurch die strenge Geltung physikalischer Gesetze auf einem wenn
auch nur sehr kleinen Gebiete des sogenannten "Geisteslebens"
dargethan wurde - eine Geltung, welche von der materialistischen
Psychologie schon längst für das ganze Gebiet des
Seelenlebens principiell in Anspruch genommen war. Die "exakte
Methode" hat sich auch hier, wie auf vielen anderen Gebieten der
Physiologie, als unzureichend und wenig fruchtbar erwiesen; sie ist zwar
überall im Princip zu erstreben, aber leider in den meisten
Fällen nicht anwendbar. Viel ergiebiger sind die vergleichende
und die genetische Methode.
Vergleichende Psychologie. Die auffällige Aehnlichkeit,
welche im Seelenleben des Menschen und der höheren Thiere -
besonders der nächstverwandten Säugethiere - besteht, ist
eine altbekannte Thatsache. Die meisten Naturvölker machen noch
heute zwischen beiden psychischen Erscheinungsweisen keinen
wesentlichen Unterschied, wie schon die allgemein verbreiteten
Thierfabeln, die alten Sagen und die Vorstellungen von der
Seelenwanderung beweisen. Auch die meisten Philosophen des
klassischen Alterthums waren davon überzeugt und endeckten
zwischen der menschlichen und thierischen Psyche keine wesentlichen
qualitativen, sonder nur quantitative Unterschiede. Selbst Plato,
der zuerst den fundamentalen Unterschied von Leib und Seele
behauptete, ließ in seiner "Seelenwanderung eine und dieselbe
Seele (oder "Idee") durch verschiedene Thier- und Menschen-Leiber
hindurch wandern. Erst das Christenthum, welches den
Unsterblichkeitsglauben auf das Engste mit dem Gottesglauben
verknüpfte, führte die principielle Scheidung zwischen der
unsterblichen Menschen-Seele und der sterblichen Thier-Seele durch. In
der dualistischen Philosophie gelangte sie vor Allem durch den
Einfluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete,
daß nur der Mensch eine wahre "Seele" und somit Empfindung und
freien Willen besitze, daß hingegen die Thiere Automaten,
Maschinen ohne Willen und Empfindung seien. Seitdem wurde von den
meisten Psychologen - namentlich auch von Kant - das
Seelenleben der Thiere ganz vernachlässigt und das
psychologische Studium auf den Menschen beschränkt; die
menschliche, meistens rein introspektive Psychologie entbehrte der
befruchtenden Vergleichung und blieb daher auf demselben niederen
Standpunkt stehen, welchen die menschliche Morphologie einnahm, ehe
sie Cuvier durch die Begründung der vergleichenden
Anatomie zur Höhe einer "philosophischen Naturwissenschaft"
erhob.
Thier-Psychologie. Das wissenschaftliche Interesse für
das Seelenleben der Thiere wurde erst in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts neu belebt, im Zusammenhang mit den Fortschritten
der systematischen Zoologie und Physiologie. Besonders anregend wirkte
die Schrift von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über
die Triebe der Thiere (Hamburg 1760). Indessen eine tiefere
wissenschaftliche Erforschung wurde erst möglich durch die
fundamentale Reform der Physiologie, welche wir dem großen
Berliner Naturforscher Johannes Müller verdanken. Dieser
geistvolle Biologe, das ganze Gebiet der organischen Natur, Morphologie
und Physiologie, gleichmäßig umfassend, führte zuerst
die exakten Methoden der Beobachtung und des Versuchs im
gesammten Gebiete der Physiologie durch und verknüpfte sie
zugleich in genialer Weise mit den vergleichenden Methoden; er
wendete dieselben ebenso auf das Seelenleben im weitesten Sinne an
(auf Sprache, Sinne, Gehirnthätigkeiten) wie auf alle übrigen
Lebens-Erscheinungen. Das sechste Buch seines "Handbuchs der
Physiologie des Menschen" (1840) handelt speciell "Vom Seelenleben"
und enthält auf 80 Seiten eine Fülle der wichtigsten
psychologischen Betrachtungen.
In den letzten vierzig Jahren ist eine große Anzahl von Schriften
über vergleichende Psychologie der Thiere erschienen,
großentheils veranlaßt durch den mächtigen
Anstoß, welchen 1859 Charles Darwin durch sein Werk
über den Ursprung der Arten gab, und durch die Einführung
der Entwickelungs-Theorie in das psychologische Gebiet. Einige
der wichtigsten dieser Schriften verdanken wir Romanes und
J. Lubbock in England, W. Wundt, L. Büchner,
G. H. Schneider, Fritz Schulze und Karl Groos in
Deutschland, Alfred Espinas und E. Jourdan in Frankreich,
Tito Vignoli u. A. in Italien.
In Deutschland git gegenwärtig als einer der bedeutendsten
Psychologen Wilhelm Wundt in Leipzig; er besitzt vor den
meisten anderen Philosophen den unschätzbaren Vorzug einer
gründlichen zoologischen, anatomischen und
physiologischen Bildung. Früher Assistent und
Schüler von Helmholtz, hatte sich Wundt
frühzeitig daran gewöhnt, die Grundgesetze der Physik und
Chemie im gesammten Gebiete der Physiologie geltend zu machen, also
auch im Sinne von Johannes Müller in der Psychologie, als
einem Theilgebiete der letzteren. Von diesen Gesichtspunkten geleitet,
veröffentlichte Wundt 1863 werthvolle "Vorlesungen
über die Menschen- und Thier-Seele". Er liefert darin, wie er
selbst in der Vorrede sagt, den Nachweis, daß der
Schauplatz der wichtigsten Seelenvorgänge in der
unbewußten Seele liegt, und er eröffnet uns "einen
Einblick in jenen Mechanismus, der im unbewußten
Hintergrund der Seele die Anregungen verarbeitet, die aus den
äußeren Eindrücken stammen". Was mir aber
besonders wichtig und werthvoll an Wundt's Werk erscheint, ist,
daß er "hier zum ersten Male das Gesetz der Erhaltung der Kraft
auf das psychische Gebiet ausdehnt und dabei eine Reihe von
Thatsachen der Elektrophysiologie zur Beweisführung benutzt" (l.
c. p. VIII).
Dreißig Jahre später veröffentlichte Wundt
(1892) eine zweite, wesentlich verkürzte und gänzlich
umgearbeitete Auflage seiner "Vorlesungen über die Menschen-
und Thier-Seele". Die wichtigsten Principien der ersten Auflage sind in
der zweiten völlig aufgegeben, und der monistische
Standpunkt der ersteren ist mit einem rein dualistischen
vertauscht. Wundt selbst sagt in der Vorrede zur zweiten
Auflage, daß er sich erst allmählich von den fundamentalen
Irrthümern der ersten befreit habe, und daß er "diese Arbeit
schon seit Jahren als eine Jugendsünde betrachten lernte";
sie "lastete auf ihm als eine Art Schuld, der er, so gut es gehen
mochte, ledig zu werden wünschte". In der That sind die
wichtigsten Grundanschauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen
von Wundt's weit verbreiteten "Vorlesungen" völlig
entgegengesetzte; in der ersten Auflage rein monistisch und
materialistisch, in der zweiten Auflage rein dualistisch und
spiritualistisch. Dort wird die Psychologie als
Naturwissenschaft behandelt, nach denselben Grundsätzen
wie die gesammte Physiologie, von der sie nur ein Theil ist; dreißig
Jahre später ist für ihn die Seelenlehre eine reine
Geisteswissenschaft geworden, deren Principien und Objekte von
denjenigen der Naturwissenschaft völlig verschieden sind. Den
schärfsten Ausdruck findet diese Bekehrung in seinem Princip des
psychophysischen Parallelismus, wonach zwar einem "jedem
psychischen Geschehen irgend welche physische Vorgänge
entsprechen", beide aber völlig unabhängig von einander
sind und nicht in natürlichem Kausal-Zusammenhang
stehen. Dieser vollkommene Dualismus von Leib und Seele,
von Natur und Geist hat begreiflicher Weise den lebhaften Beifall der
herrschenden Schul-Philosophie gefunden und wird von ihr als ein
bedeutungsvoller Fortschritt gepriesen, um so mehr, als er von einem
angesehenen Naturforscher bekannt wird, der früher die
entgegengesetzten Anschauungen unseres modernen Monismus
vertrat. Da ich selbst auf diesem letzteren "beschränkten"
Standpunkt seit mehr als vierzig Jahren stehe und mich trotz aller
bestgemeinten Anstrengungen nicht von ihm habe losmachen
können, muß ich natürlich die "Jugendsünden"
des jungen Physiologen Wundt für die richtige Natur-Erkenntniß halten und sie gegen die entgegengesetzten
Grundanschauungen des alten Philosophen Wundt energisch
vertheidigen.
Sehr interessant ist der totale philosophische Principien-Wechsel,
der uns hier wieder bei Wundt, wie früher bei Kant,
Virchow, Du Bois-Reymond, aber auch bei Karl Ernst
Baer und bei Anderen begegnet. In ihrer Jugend umfassen diese
kühnen und talentvollen Naturforscher das ganze Gebiet ihrer
biologischen Forschung mit weitem Blick und streben eifrig nach einem
einheitlichen, natürlichen Erkenntniß-Grunde; in ihrem Alter
haben sie eingesehen, daß dieser nicht vollkommen erreichbar ist,
und deshalb geben sie ihn lieber ganz auf. Zur Entschuldigung dieser
psychologischen Metamorphose können sie natürlich
anführen, daß sie in der Jugend die Schwierigkeiten der
großen Aufgabe übersehen und die wahren Ziele verkannt
hätten; erst mit der reiferen Einsicht des Alters und der
Sammlung vieler Erfahrungen hätten sie sich von ihrem
Irrthümern überzeugt und den wahren Weg zur Quelle der
Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt behaupten,
daß die großen Männer der Wissenschaft in
jüngeren Jahren unbefangener und muthiger an ihre schwierige
Aufgabe herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urtheilskraft
reiner ist; die Erfahrungen späterer Jahre führen vielfach
nicht nur zur Bereicherung sondern auch zur Trübung der Einsicht,
und mit dem Greisenalter tritt allmähliche Rückbildung
ebenso im Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls ist diese
erkenntnißtheoretische Metamorphose an sich eine lehrreiche
psychologische Thatsache; denn sie beweist mit vielen anderen Formen
des "Gesinnungswechsels", daß die höchsten Seelen-Funktionen ebenso wesentlichen individuellen Veränderungen im
Laufe des Lebens unterliegen wie alle anderen Lebens-Thätigkeiten.
Völker-Psychologie. Für die fruchtbare Ausbildung
der vergleichenden Seelenlehre ist es höchst wichtig, die kritische
Vergleichung nicht auf Thier und Mensch im Allgemeinen zu
beschränken, sondern auch die mannigfaltigen
Abstufungen im Seelenleben derselben neben einander zu
stellen. Erst dadurch gelangen wir zur klaren Erkenntniß der
langen Stufenleiter psychischer Entwickelung, welche
ununterbrochen von den niedersten, einzelligen Lebensformen bis zu
den Säugethieren und an deren Spitze bis zum Menschen hinauf
führt. Aber innerhalb des Menschengeschlechts selbst sind jene
Abstufungen sehr beträchtlich und die Verzweigungen des
"Seelen-Stammbaums" höchst mannigfaltig. Der psychische
Unterschied zwischen dem rohesten Naturmenschen der niedersten
Stufe und dem vollkommensten Kulturmenschen der höchsten
Stufe ist kolossal, viel größer, als gemeinhin angenommen
wird. In der richtigen Erkenntniß dieser Thatsache hat besonders
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die "Anthropologie
der Naturvölker" (Waitz) einen lebhaften Aufschwung
genommen und die vergleichende Ethnographie eine hohe Bedeutung
für die Psychologie gewonnen. Leider ist nur das massenhaft
gesammelte Rohmaterial dieser Wissenschaft noch nicht genügend
kritisch durchgearbeitet. Welche unklaren und mystischen
Vorstellungen hier noch herrschen, zeigt z. B. der sogenannte
"Völkergedanke" des bekannten Reisenden Adolf
Bastian, der die größten Verdienste als Begründer
des Berliner "Museums für Völkerkunde" besitzt, aber als
fruchtbarer Schriftsteller ein wahres Monstrum von kritikloser
Kompilation und konfuser Spekulation darstellt.
Ontogenetische Psychologie. Am meisten vernachlässigt
und am wenigsten angewendet unter allen Methoden der
Seelenforschung ist bis auf den heutigen Tag die
Entwicklungsgeschichte der Seele; und doch ist gerade dieser
selten betretene Pfad derjenige, der uns am kürzesten und
sichersten durch den dunklen Urwald der psychologischen Vorurtheile,
Dogmen und Irrthümer zu der klaren Einsicht in viele der
wichtigsten "Seelenfragen" führt. Wie in jedem anderen Gebiete
der organischen Entwickelungsgeschichte, so stelle ich auch hier
zunächst die beiden Hauptzweige derselben gegenüber, die
ich zuerst 1866 unterschieden habe: die Keimesgeschichte
(Ontogenie) und die Stammesgeschichte (Phylogenie). Die
Keimesgeschichte der Seele, die individuelle und biontische
Psychogenie, untersucht die allmähliche und stufenweise
Entwickelung der Seele in der einzelnen Person und strebt nach
Erkenntniß der Gesetze, welche dieselbe ursächlich bedingen.
Für einen wichtigen Abschnitt des menschlichen Seelenlebens ist
hier schon seit Jahrtausenden sehr viel geschehen; denn die rationelle
Pädagogik mußte sich ja schon frühzeitig die
Aufgabe stellen, theoretisch die stufenweise Entwickelung und
Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennen zu lernen, deren
harmonische Ausbildung und Leitung sie praktisch durchzuführen
hatte. Allein die meisten Pädagogen waren idealistische und
dualistische Philosophen und gingen daher an ihre Aufgabe von
vornherein mit den althergebrachten Vorurtheilen der spiritualistischen
Psychologie. Erst seit wenigen Decennien ist dieser dogmatischen
Richtung gegenüber auch in der Schule die naturwissenschaftliche
Methode zu größerer Geltung gelangt; man bemüht sich
jetzt mehr, auch in der Beurtheilung der Kindes-Seele die
Grundsätze der Entwickelungslehre zur Anwendung zu bringen.
Das individuelle Rohmaterial der kindlichen Seele ist ja bereits durch
Vererbung von Eltern und Voreltern qualitativ von vornherein
gegeben; die Erziehung hat die schöne Aufgabe, dasselbe durch
intellektuelle Belehrung und moralische Erziehung, also durch
Anpassung, zur reichen Blüte zu entwickeln. Für die
Kenntniß unserer frühesten psychischen Entwickelung hat
erst Wilhelm Preyer (1882) den Grund gelegt in seiner
interessanten Schrift "Die Seele des Kindes, Beobachtungen über
die geistige Entwickelung des Menschen in den ersten Lebensjahren".
Für die Erkenntniß der späteren Stufen und
Metamorphosen der individuellen Psyche bleibt noch sehr viel zu thun;
die richtige, kritische Anwendung des biogenetischen Grundgesetzes
beginnt auch hier sich als klarer Leitstern des wissenschaftlichen
Verständnisses zu bewähren. (Vergl. Hermann Kroell,
Der Aufbau der menschlichen Seele, 1900.)
Phylogenetische Psychologie. Eine neue fruchtbare Periode
höherer Entwickelung begann für die Psychologie, wie
für alle anderen biologischen Wissenschaften, als vor vierzig
Jahren Charles Darwin die Grundsätze der
Entwickelungslehre auf sie anwendete. Das siebente Kapitel seines
epochemachenden Werkes über die Entstehung der Arten (1859)
ist dem Instinkt gewidmet; es enthält den werthvollen
Nachweis, daß die Instinkte der Thiere, gleich allen anderen
Geistesthätigkeiten, den allgemeinen Gesetzen der historischen
Entwickelung unterliegen. Die speciellen Instinkte der einzelnen Thier-Arten werden durch Anpassung umgebildet, und diese
"erworbenen Abänderungen" werden durch Vererbung auf
die Nachkommen übertragen; bei ihrer Erhaltung und Ausbildung
spielt die natürliche Selektion durch den "Kampf um's
Dasein" ebenso eine züchtende Rolle wie bei der Transformation
jeder anderen physiologischen Thätigkeit. Später hat
Darwin in mehreren Werken diese fundamentale Ansicht weiter
ausgeführt und gezeigt, daß dieselben Gesetze "geistiger
Entwickelung" durch die ganze organische Welt hindurch walten, beim
Menschen ebenso wie bei den Thieren und bei diesen ebenso wie bei
den Pflanzen. Die Einheit der organischen Welt, die sich aus ihrem
gemeinsamen Ursprung erklärt, gilt also auch für das
gesammte Gebiet des Seelenlebens, vom einfachsten, einzelligen
Organismus bis hinauf zum Menschen.
Die weitere Ausführung von Darwin's Psychologie und ihre
besondere Anwendung auf alle einzelnen Gebiete des Seelenlebens
verdanken wir einem ausgezeichneten englischen Naturforscher,
George Romanes. Leider wurde er durch seinen allzu
frühen, kürzlich erfolgten Tod an der Vollendung des
großen Werkes gehindert, welches alle Teile der vergleichenden
Seelenkunde gleichmäßig im Sinne der monistischen
Entwickelungslehre ausbauen sollte. Die beiden Theile dieses Werkes,
welche erschienen sind, gehören zu den werthvollsten
Erzeugnissen der gesammten psychologischen Literatur. Denn getreu
den Principien unserer modernen monistischen Naturforschung sind
darin erstens die wichtigsten Thatsachen zusammengefaßt
und geordnet, welche seit Jahrtausenden durch Beobachtung und
Experiment auf dem Gebiete der vergleichenden Seelenlehre empirisch
festgestellt wurden; zweitens sind dieselben mit objektiver Kritik
geprüft und zweckmäßig gruppirt; und drittens
ergeben sich daraus diejenigen Vernunft-Schlüsse
über die wichtigsten allgemeinen Fragen der Psychologie, welche
allein mit den Grundsätzen unserer modernen monistischen
Weltanschauung vereinbar sind. Der erste Band von Romanes'
Werk (440 Seiten, Leipzig 1885) führt den Titel: "Die geistige
Entwickelung im Thierreich" und stellt die ganze lange Stufenreihe der
psychischen Entwickelung im Thierreiche von den einfachsten
Empfindungen und Instinkten der niedersten Thiere bis zu den
vollkommensten Erscheinungen des Bewußtseins und der Vernunft
bei den hochststehenden Thieren im natürlichen Zusammenhang
dar. Es sind darin auch viele Mittheilungen aus hinterlassenen
Manuskripten "über den Instinkt" von Darwin mitgetheilt,
und zugleich ist eine "vollständige Sammlung von Allem, was
derselbe auf dem Gebiete der Psychologie geschrieben hat", gegeben.
Der zweite und der wichtigste Theil von Romanes' Werk
behandelt "die geistige Entwickelung beim Menschen und den Ursprung
der menschlichen Befähigung" (430 Seiten, Leipzig 1893). Der
scharfsinnige Psychologe führt darin den überzeugenden
Beweis, "daß die psychologische Schranke zwischen Thier und
Mensch überwunden ist" (!); das begriffliche Denken und
Abstraktions-Vermögen des Menschen hat sich allmählich
aus den nicht begrifflichen Vorstufen des Denkens und Vorstellens bei
den nächstverwandten Säugethieren entwickelt. Die
höchsten Geistesthätigkeiten des Menschen, Vernunft,
Sprache und Bewußtsein, sind aus den niederen
Vorstufen derselben in der Reihe der Primaten-Ahnen (Affen
und Halbaffen) hervorgegangen. Der Mensch besitzt keine einzige
"Geistesthätigkeit", welche ihm ausschließlich
eigenthümlich ist; sein ganzes Seelenleben ist von demjenigen der
nächstverwandten Säugethiere nur dem Grade, nicht
der Art nach, nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden.
Den Leser meines Buches, welcher sich für diese hochwichtigen
"Seelen-Fragen" interessirt, verweise ich auf das grundlegende Werk
von Romanes. Ich stimme fast in allen Anschauungen und
Ueberzeugungen mit ihm und mit Darwin überein; wo sich
etwa scheinbare Unterschiede zwischen diesen Autoren und zwischen
meinen früheren Ausführungen finden, da beruhen sie
entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form meinerseits oder
auf einem unbedeutenden Unterschiede in der Anwendung der
Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den charakteristischen
Merkmalen dieser "Begriff-Wissenschaft", daß über ihre
wichtigsten Grundbegriffe die angesehendsten Philosophen ganz
verschiedene Ansichten haben.
(Nachschrift. Nach dem Tode von Romanes erschien eine
angeblich von ihm verfaßte Schrift: "Gedanken über Religion";
sie widerspricht den früheren theilweise {- Psychologische
Metamorphose?? S. 41}).
Siebentes Kapitel
Stufenleiter der Seele.
Monistische Studien über vergleichende Psychologie. Die
psychologische Skala. Psychoplasma und Nervensystem. Instinkt und
Vernunft.
------
Inhalt: Psychologische Einheit der organischen Natur. Materielle
Basis der Psyche: Psychoplasma. Skale der Empfindungen. Skala der
Bewegungen. Skala der Reflexe. Einfache und zusammengesetzte Reflexe.
Reflexthat und Bewußtsein. Skala der Vorstellungen.
Unbewußte und bewußte Vorstellungen. Skala des
Gedächtnisses. Unbewußtes und bewußtes
Gedächtniß. Associon der Vorstellungen. Instinkte.
Primäre und sekundäre Instinkte. Skala der Vernunft.
Sprache. Gemüthsbewegungen und Leidenschaften. Wille. Freiheit
des Willens.
Die großartigen Fortschritte, welche die Psychologie in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hülfe der
Entwickelungslehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung der
psychologischen Einheit der organischen Welt. Die vergleichende
Seelenlehre, im Vereine mit der Ontogenie und Phylogenie der Psyche,
hat uns zu der Ueberzeugung geführt, daß das organische
Leben in allen Abstufungen, vom einfachsten, einzelligen Protisten bis
zum Menschen hinauf, aus denselben elementaren Naturkräften
sich entwickelt, aus den physiologischen Funktionen der Empfindung
und Bewegung. Die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Psychologie
wird daher künftig nicht, wie bisher, die ausschließlich
subjektive und introspektive Zergliederung der
höchstentwickelten Philosophen-Seele sein, sondern die objektive
und vergleichende Untersuchung der langen Stufenleiter, auf welcher
sich der menschliche Geist allmählich aus einer langen Reihe von
niederen thierischen Zuständen entwickelt hat. Die schöne
Aufgabe, die einzelnen Stufen dieser psychologischen Skale zu
unterscheiden und ihren ununterbrochenen phylogenetischen
Zusammenhang nachzuweisen, ist erst in den letzten Decennien unseres
Jahrhunderts ernstlich in Angriff genommen worden, vor Allem in dem
ausgezeichneten Werke von Romanes (vergl. S. 46). Wir
beschränken uns hier auf die kurze Besprechung einiger der
allgemeinsten Fragen, welche uns die Erkenntniß jener Stufenleiter
vorlegt.
Materielle Basis der Psyche. Alle Erscheinungen des
Seelenlebens ohne Ausnahme sind verknüpft mit materiellen
Vorgängen in der lebendigen Substanz des Körpers, im
Plasma oder Protoplasma. Wir haben jenen Theil des
letzteren, der als der unentbehrliche Träger der Psyche erscheint,
als Psychoplasma bezeichnet (als "Seelesubstanz" im monistischen
Sinne), d. h. wir erblicken darin kein besonderes "Wesen", sondern wir
betrachten die Psyche als Kollektiv-Begriff für die gesammten
psychischen Funktionen des Plasma. "Seele" ist in diesem Sinne
ebenso eine physiologische Abstraktion wie der Begriff "Stoffwechsel"
oder "Zeugung". Beim Menschen und den höheren Thieren ist das
Psychoplasma, zufolge der fortgeschrittenen Arbeitstheilung der Organe
und Gewebe, ein differenzirter Bestandtheil des Nervensystems, das
Neuroplasma der Ganglienzellen und ihrer leitenden
Ausläufer, der Nervenfasern. Bei den niederen Thieren dagegen,
die noch keine gesonderten Nerven und Sinnesorgane besitzen, ist das
Psychoplasma noch nicht zur selbstständigen Differenzirung
gelangt, ebenso wie bei den Pflanzen. Bei den einzelligen Protisten
endlich ist das Psychoplasma entweder identisch mit den ganzen
lebendigen Protoplasma der einfachen Zelle oder mit einem
Theile desselben. In allen Fällen, ebenso auf dieser niedersten wie
auf jener höchsten Stufe der psychologischen Skala, ist eine
gewisse chemische Zusammensetzung des Psychoplasma und eine
gewisse physikalische Beschaffenheit desselben unentbehrlich,
wenn die "Seele" fungiren oder arbeiten soll. Das gilt ebenso von der
elementaren Seelenthätigkeit der plasmatischen Empfindung und
Bewegung bei den Protozoen wie von den zusammengesetzten
Funktionen der Sinnesorgane und des Gehirns bei den höheren
Thieren und an ihrer Spitze dem Menschen. Die Arbeit des
Psychoplasma, die wir "Seele" nennen, ist stets mit Stoffwechsel
verknüpft.
Skala der Empfindungen. Alle lebendigen Organismen ohne
Ausnahme sind empfindlich; sie unterscheiden die Zustände der
umgebenden Außenwelt und reagiren darauf durch gewisse
Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme,
Schwerkraft und Elektricität, mechanische Processe und chemische
Vorgänge in der Umgebung wirken als "Reize" auf das
empfindliche Psychoplasma und rufen Veränderungen in
seiner molekularen Zusammensetzung hervor. Als Hauptstufen seiner
Empfindlichkeit oder Sensibilität unterscheiden wir
folgende fünf Grade:
I. Auf den untersten Stufen der Organisation ist das ganze
Psychoplasma als solches empfindlich und reagirt auf die
einwirkenden Reize, so bei den niedersten Protisten, bei vielen Pflanzen
und einem Theile der unvollkommensten Thiere. II. Auf der zweiten
Stufe beginnen sich an der Oberfläche des Körpers
einfachste Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von
Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Tastorganen
und Augen; so bei einem Theile der höheren Protisten, aber auch
bei vielen niederen Thieren und Pflanzen. III. Auf der dritten Stufe
haben sich aus diesen einfachen Grundlagen durch Differenzirung
specifische Sinnesorgane entwickelt, mit eigenthümlicher
Anpassung: die chemischen Werkzeuge des Geruchs und Geschmacks,
die physikalischen Organe des Tastsinnes und Wärmesinnes, des
Gehörs und Gesichts. die "specifische Energie" dieser höheren
Sensillen ist keine ursprüngliche Eigenschaft derselben, sondern
durch funktionelle Anpassung und progressive Vererbung stufenweise
erworben. IV. Auf der vierten Stufe tritt die Centralisation oder
Integration des Nervensystems und damit zugleich diejenige der
Empfindung ein; durch Associon der früheren isolirten oder
lokalisirten Empfindungen entstehen Vorstellungen, die zunächst
noch unbewußt bleiben, so bei vielen niederen und höheren
Thieren. V. Auf der fünften Stufe entwickelt sich durch Spiegelung
der Empfindungen in einem Central-Theile des Nervensystems die
höchste psychische Funktion, die bewußte
Empfindung; so beim Menschen und den höheren
Wirbelthieren, wahrscheinlich auch bei einem Theile der höheren
wirbellosen Thiere, besonders der Gliederthiere.
Skala der Bewegungen. Alle lebendigen Naturkörper
ohne Ausnahme sind spontan beweglich, im Gegensatze zu den
starren und unbeweglichen Anorganen (Krystallen), d. h. es finden im
lebendigen Psychoplasma Lageveränderungen statt, welche
in dessen chemischer Konstitution selbst begründet sind. Diese
aktiven vitalen Bewegungen sind zum Theil direkt durch Beobachtung
wahrzunehmen, zum anderen Theil aber nur indirekt aus ihren
Wirkungen zu erschließen. Wir unterscheiden fünf
Abstufungen derselben.
I. Auf der untersten Stufe des organischen Lebens, bei Chromaceen,
vielen Protophyten und niederen Metaphyten, nehmen wir nur jene
Wachstums-Bewegungen wahr, welche allen Organismen
gemeinsam zukommen. Dieselben geschehen gewöhnlich so
langsam, daß man sie nicht unmittelbar beobachten, sondern nur
indirekt aus ihrem Resultate erschließen kann, aus der
Veränderung in Größe und Gestalt des wachsenden
Körpers. II. Viele Protisten, namentlich einzellige Algen aus den
Gruppen der Diatomeen und Desmidiaceen, bewegen sich kriechend oder
schwimmend durch Sekretion fort, durch einseitige Ausscheidung
einer schleimigen Masse. III. Andere, im Wasser schwebende
Organismen, z. B. viele Radiolarien, Siphonophoren, Ktenophoren u. a.,
stegen auf und nieder, indem sie ihr specifisches Gewicht
verändern, bald durch Osmose, bald durch Absonderung oder
Ausstoßung von Luft. IV. Viele Pflanzen, besonders die
empfindlichen Sinnpflanzen (Mimosen) und andere Papilionaceen,
führen Bewegungen von Blättern oder anderen Theilen
mittelst Turgor-Wechsels aus, d. h. sie verändern die
Spannung des Protoplasmas und damit auch dessen Druck auf die
umschließende elastische Zellenwand. V. Die wichtigsten von allen
organischen Bewegungen sind die Kontraktions-Erscheinungen, d.
h. Gestalts-veränderungen der Körper-Oberfläche,
welche mit gegenseitigen Lage-Verschiebungen ihrer Theilchen
verbunden sind; sie verlaufen stets mit zwei verschiedenen
Zuständen oder Phasen der Bewegung: der Kontraktions-Phase (Zusammenziehung) und der Expansions-Phase
(Ausdehnung). Als vier verschiedene Formen der Plasma-Kontraktion
werden unterschieden Va: die amöboiden Bewegungen (bei
Rhizopoden, Blutzellen, Pigmentzellen u. s. w.); Vb: die ähnlichen
Plasmaströmungen im Innern von abgeschlossenen Zellen;
Vc: die Flimmerbewegung (Geißelbewegung und
Wimperbewegung) bei Infusiorien, Spermien, Flimmer-Epithel-Zellen,
und endlich Vd: die Muskelbewegung (bei den meisten Thieren).
Skala der Reflexe (reflektorische Erscheinungen, Reflex-Bewegungen u. s. w ). Die elementare Seelenthätigkeit, welche
durch die Verknüpfung von Empfindung und Bewegung entsteht,
nennen wir (im weitesten Sinne!) Reflex oder reflektive
Funktion (reflektorische Leistung), besser Reflexthat. Die
Bewegung - gleichviel welcher Art - erscheint hier als die unmittelbare
Folge des Reizes, welchen die Empfindung hervorgerufen hat;
man hat sie daher auch im einfachsten Falle (bei Protisten) kurz als
"Reizbewegung" bezeichnet. Alles lebende Plasma besitzt
Reizbarkeit (Irritabilität). Jede physikalische oder chemische
Veränderung der umgebenden Außenwelt kann unter
Umständen auf das Psychoplasma als Reiz wirken und eine
Bewegung hervorrufen oder "auslösen". Wir werden später
sehen, wie der wichtige physikalische Begriff der
Auslösung die einfachsten organischen Reflexthaten
unmittelbar anschließt an ähnliche mechanische Bewegungs-Vorgänge in der anorganischen Natur (z. B. bei der Explosion von
Pulver durch einen Funken, von Dynamit durch einen Stoß). Wir
unterscheiden in der Skala der Reflexe folgende sieben Stufen:
I. Auf der untersten Stufe der Organisation, bei den niedersten
Protisten, lösen die Reize der Außenwelt (Licht, Wärme,
Elektricität u. s. w.) im indifferenten Protoplasma nur jene
unentbehrlichen inneren Bewegungen des Wachsthums und
Stoffwechsels aus, welche allen Organismen gemeinsam sind. Dasselbe
gilt auch für die meisten Pflanzen.
II. Bei vielen frei beweglichen Protisten (besonders Amöben,
Heliozoen und überhaupt den Rhizopoden) rufen
äußere Reize an jeder Stelle der nackten Oberfläche des
einzelligen Körpers äußere Bewegungen desselben
hervor, die sich in der Gestaltsveränderung, oft auch in der
Ortsveränderung äußern (amöboide Bewegung,
Pseudopoden-Bildung, Ausstrecken und Einziehen von
Scheinfüßchen); diese unbestimmten, veränderlichen
Fortsätze des Plasma sind keine beständigen Organe. In
gleicher Weise äußert sich die allgemeine organische
Reizbarkeit als indifferenter Reflex auch bei den empfindlichen
"Sinnpflanzen" und den niedersten Metazoen; bei diesen vielzelligen
Organismen können die Reize von einer Zelle zur anderen
fortgeleitet werden, da alle Zellen durch feine Ausläufer
zusammenhängen.
III. Viele Protisten, namenlich höher entwickelte Protozoen,
sondern an ihrem einzelligen Körper bereits zweierlei Organelle
einfachster Art: sensible Tast-Organe und motorische Bewegungs-Organe; beide Werkzeuge sind direkte äußere Fortsätze
des Protoplasma; der Reiz, welcher die ersteren trifft, wird unmittelbar
durch das Psychoplasma des einzelligen Körpers zu den letzteren
fortgeleitet und bewirkt deren Zusammenziehung. Besonders klar ist
diese Erscheinung zu beobachten und auch experimentell festzustellen
bei vielen festsitzenden Infusorien (z. B. Poteriodendron unter
den Flagellaten, Vorticella unter den Ciliaten). Der
schwächste Reiz, welcher die sehr empfindlichen Flimmerhaare
(Geißeln oder Wimpern) am freien Ende der Zelle trifft, bewirkt
sofort eine Kontraktion eines fadenförmigen Stieles am anderen
festgehefteten Ende. Man bezeichnet diese Erscheinung als "einfachen
Reflexbogen".
IV. An diese Vorgänge im einzelligen Organismus der Infusorien
schließt sich unmittelbar der interessante Mechanismus der
Neuromuskel-Zellen an, welchen wir im vielzelligen Körper
vieler niederen Metazoen finden, besonders bei Nesselthieren (Polypen,
Korallen). jede einzelne "Neuromuskel-Zelle" ist ein "einzelliges
Reflex-Organ"; sie besitzt an der Oberfläche ihres
Körpers einen empfindlichen Theil, an dem entgegengesetzten
inneren Ende einen beweglichen Muskelfaden; der letztere zieht sich
zusammen, sobald der erstere gereizt wird.
V. Bei anderen Nesselthieren, namentlich bei den frei schwimmenden
Medusen - welche den festsitzenden Polypen nächst verwandt
sind - zerfällt die einfache Neuromuskel-Zelle in zwei
verschiedene, aber durch einen Faden noch zusammenhängende
Zellen, eine äußere Sinneszelle (inder Oberhaut) und
eine innere Muskelzelle (unter der Haut); in diesem
zweizelligen Reflex-Organ ist die erstere das Elementar-Organ der
Empfindung, die letztere dasjenige der Bewegung; die
Verbindungsbrücke des Psychoplasma-Fadens leitet den Reiz von
der ersteren zur letztere hinüber.
VI. Der wichtigste Fortschritt in der stufenweisen Ausbildung des
Reflex-Mechanismus ist die Sonderung von drei Zellen; an die
Stelle der eben genannten einfachen Verbindungsbrücke tritt eine
selbstständige dritte Zelle, die Seelenzelle oder
Ganglienzelle; damit erscheint zugleich eine neue psychische Funktion,
die unbewußte "Vorstellung", deren Sitz eben diese centrale
Zelle ist. Der Reiz wird von der empfindlichen Sinneszelle zunächst
auf diese vermittelnde Vorstellungs-Zelle oder Seelenzelle
übertragen und erst von dieser als Befehl zur Bewegung an die
motorische Muskelzelle abgegeben. Diese "dreizelligen
Reflexorgane" sind überwiegend bei der großen Mehrzahl
der wirbellosen Thiere entwickelt.
VII. An die Stelle dieser Einrichtung tritt bei den meisten Wirbelthieren
das vierzellige Reflexorgan, indem zwischen die sensible
Sinneszelle und die motorische Muskelzelle nicht eine, sondern zwei
verschiedene Seelenzellen eingeschaltet werden. Der äußere
Reiz wird hier von der Sinneszelle zunächst centripetal auf die
Empfindungszelle übertragen (die sensible Seelenzelle), von
dieser auf die Willenszelle (die motorische Seelenzelle) und von
dieser letzteren erst auf die kontraktile Muskelzelle. Indem zahlreiche
solche Reflex-Organe sich verbinden und neue Seelenzellen eingeschaltet
werden, entsteht der kompizirte Reflex-Mechanismus des Menschen und
der höheren Wirbelthiere.
Einfache und zusammengesetzte Reflexe. Der wichtige
Unterschied, den wir in morphologischer und physiologischer Hinsicht
zwischen den einzelligen Organismen (Protisten) und den
vielzelligen (Histonen) machen, gilt auch für deren
Seelenthätigkeit, für die Reflexthat. Bei den einzelligen
Protisten (ebenso den plasmodomen Urpflanzen, Protophyten,
wie den plasmaphagen Urthieren, Protozoen) läuft der ganze
physiologische Proceß des Reflexes innerhalb des Protoplasma
einer einzigen Zelle ab; die "Zellseele" derselben erscheint noch
als eine einheitliche Funktion des Psychoplasma, deren einzelne Phasen
sich erst mit der Differenzierung besonderer Organe zu sondern
beginnen. Schon bei den cönobionten Protisten, den
Zellvereinen (z. B. Volvox, Carchesium), beginnt die
zweite Stufe der Seelenthätigkeit, die zusammengesetzte
Reflexthat. Die zahlreichen socialen Zellen, welche diese Zellvereine
oder Coenobien zusammensetzen, stehen immer in mehr oder
weniger enger Verbindung, oft direkt durch fadenförmige
Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere Zellen des
Verbandes trifft, wird durch die Verbindungs-Brücken den
übrigen mitgetheilt und kann alle zu gemeinsamer Kontraktion
veranlassen. Dieser Zusammenhang besteht auch in den Geweben der
vielzelligen Pflanzen und Thiere. Während man früher
irrthümlich annahm, daß die Zellen der Pflanzengewebe ganz
isolirt neben einander stehen, sind jetzt überall feine
Plasmafäden nachgewiesen, welche die dicken Zellmembranen
durchsetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in materiellem
und psychologischen Zusammenhang erhalten. So erklärt es sich,
daß die Erschütterung der empfindlichen Wurzel von
Mimosa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden
verursacht, sofort den Reiz auf alle Zelle des Pflanzenstockes
überträgt und ihre zarten Fiederblätter zum
Zusammenlegen, die Blattstiele zum Herabsinken veranlaßt.
Reflexthat und Bewußtsein. Ein wichtiger und
allgemeiner Charakter aller Reflex-Erscheinungen ist der Mangel des
Bewußtseins. Aus Gründen, die wir im zehnten Kapitel
auseinandersetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewußtsein nur
beim Menschen und den höheren Thieren an, dagegen nicht bei
den Pflanzen, den niederen Thieren und den Protisten; demnach sind bei
diesen letzteren alle Reiz-Bewegungen als Reflexe aufzufassen, d.
h. also überhaupt alle Bewegungen, soweit sie nicht spontan
und durch innere Ursachen veranlaßt sind (impulsive und
automatische Bewegungen). Anders verhält es sich bei den
höheren Thieren, bei denen ein centralisirtes Nervensysten und
vollkommene Sinnesorgane entwickelt sind. Hier hat sich aus der
psychischen Reflex-Thätigkeit allmählich das
Bewußtsein entwickelt, und nunmehr treten die bewußten
Willenshandlungen in Gegensatz zu den daneben noch fortbestehenden
Reflex-Handlungen. Wir müssen aber hier, ebenso wie bei den
Instinkten, zwei wesentlich verschiedene Erscheinungen trennen, die
primären und die sekundären Reflexe. Primäre
Reflexe sind solche, die phyletisch niemals bewußt gewesen
sind, also die urspründliche Natur (durch Vererbung von niederen
Thier-Ahnen) beibehalten haben. Sekundäre Reflexe
dagegen sind solche, die bei den Voreltern bewußte
Willenshandlungen waren, aber später durch Gewohnheit oder
Ausfall des Bewußtseins zu unbewußten geworden sind. Eine
scharfe Grenze ist hier - wie überall - zwischen bewußten
und unbewußten Seelenfunktionen nicht zu ziehen.
Skala der Vorstellungen. (Dokesen) Aeltere Psychologen
(z. B. Herbart) haben die "Vorstellung" als das seelische
Grundphänomen betrachtet, aus dem alle übrigen abzuleiten
seien. Die moderne vergleichende Psychologie acceptirt diese
Anschauung, soweit es sich um den Begriff der unbewußten
Vorstellung handelt; dagegen erblickt sie in der bewußten
Vorstellung eine sekundäre Erscheinung des Seelenlebens, welche
bei den Pflanzen und den niederen Thieren noch ganz fehlt und nur bei
den höheren Thieren zur Ausbildung gelangt. Unter den
zahlreichen widersprechenden Definitionen, welche die Psychologen
vom Begriffe der "Vorstellung" (Dokesis) gegeben haben,
halten wir diejenige für die zweckmäßigste, welche
darin das innere Bild des äußeren Objektes erblickt,
welches durch die Empfindung uns übermittelt ist. ("Idee" im
gewissen Sinne). Wir unterscheiden in der aufsteigenden Stufenleiter
der Vorstellungs-Funktion die folgenden vier Hauptstufen:
I. Cellulare Vorstellung. Auf den niedersten Stufen begegnet uns
die Vorstellung als eine allgemeine physiologische Funktion des
Psychoplasma; schon bei den einfachsten einzelligen Protisten
können Empfindungen bleibende Spuren im Psychoplasma
hinterlassen, und diese können vom Gedächtniß
reproducirt werden. Bei mehr als viertausend Radiolarien-Arten, welche
ich beschrieben habe, ist jede einzelne Species durch eine besondere
erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion dieses specifischen,
oft höchst verwickelt gebauten Skeletts durch eine höchst
einfach gestaltete (meist kugelige) Zelle ist nur dann erklärlich,
wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der Vorstellung
zuschreiben, und zwar der besonderen Reproduktion des "plastischen
Distanz-Gefühls", wie ich in meiner Psychologie der Radiolarien
gezeigt habe (1887, S. 121).
II Histonale Vorstellung. Schon bei den Cönobien oder
Zellvereinen der geselligen Protisten, noch mehr aber in den Geweben
der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Thiere (Spongien, Polypen)
begegnen wir der zweiten Stufe der unbewußten Vorstellung,
welche auf dem gemeinsamen Seelenleben zahlreicher, eng verbundener
Zellen beruht. Wenn einmalige Reize nicht bloß eine
vorübergehende Reflexbewegung eines Organes (z. B. eines
Pflanzen-Blattes, eines Polypen-Armes) auslösen, sondern einen
bleibenden Eindruck hinterlassen, der von diesem später spontan
reproducirt werden kann, so müssen wir zur Erklärung
dieser Erscheinung eine Histonal-Vorstellung annehmen, gebunden an
das Psychoplasma der associirten Gewebe-Zellen.
III. Unbewußte Vorstellung der Ganglien-Zellen. Diese dritte,
höhere Stufe der Vorstellung ist die häufigste Form dieser
Seelenthätigkeit im Thierreich; sie erscheint als eine Lokalisation
des Vorstellens auf bestimmte "Seelenzellen". Im einfachsten Falle
erscheint sie daher bei der Reflexthat erst auf der sechsten Stufe der
Entwickelung, wenn das dreizellige Reflex-Organ gebildet ist; der Sitz
der Vorstellung ist dann die mittlere Seelenzelle, welche zwischen die
sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle eingeschaltet ist.
Mit der aufsteigenden Entwickelung des Centralnervensystems im
Thierreich, seiner zunehmenden Differenzirung und Integration erhebt
sich auch die Ausbildung dieser unbewußten Vorstellungen zu
immer höheren Stufen.
IV. Bewußte Vorstellung der Gehirnzellen. Erst auf den
höchsten Entwickelungsstufen der thierischen Organisation
entwickelt sich das Bewußtsein als eine besondere Funktion eines
bestimmten Central-Organs des Nervensystems. Indem die
Vorstellungen bewußte werden, und indem besondere Gehirntheile
sich zur Associon der bewußten Vorstellungen reich
entfalten, wird der Organismus zu jenen höchsten psychischen
Funktionen befähigt, welche wir als Denken und
Ueberlegen, als Verstand und Vernunft bezeichnen. Obgleich die
Absteckung der phyletischen Grenze zwischen den älteren,
unbewußten und den jüngeren, bewußten
Vorstellungen höchst schwierig ist, können wir doch mit
Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die letzteren aus den ersteren
polyphyletisch entstanden sind; denn wir finden bewußtes
und vernünftiges Denken nicht nur bei den höchsten Formen
des Wirbelthier-Stammes (Mensch, Säugethiere, ein Theil der
niederen Vertebraten), sondern auch bei den höchstentwickelten
Vertretern anderer Thierstämme (Ameisen und andere Insekten,
Spinnen und höhere Krebse unter den Gliederthieren,
Cephalopoden unter den Weichthieren).
Skala des Gedächtnisses. Eng verknüpft mit der
Stufenleiter in der Entwickelung der Vorstellungen ist diejenige des
Gedächtnisses; diese höchst wichtige Funktion des
Psychoplasma - die Bedingung aller fortschreitenden
Seelenentwickelung - ist ja im Wesentlichen Reproduktion von
Vorstellungen. Die Eindrücke im Bioplasma, welche der Reiz
als Empfindung bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorstellungen
geworden waren, werden durch das Gedächtniß neu belebt;
sie gehen aus dem potentiellen in den aktuellen Zustand
über. Die latente "Spannkraft" im Psychoplasma verwandelt sich in
aktive "lebendige Kraft". Entsprechend den vier Stufen der Vorstellung
können wir auch beim Gedächtniß vier Hauptstufen der
aufsteigenden Entwickelung unterscheiden.
I. Cellular Gedächtniß. Schon vor dreißig
Jahren hat Ewald Hering in einer gedankenreichen Abhandlung
"das Gedächtniß als eine allgemeine Funktion der
organisirten Materie" bezeichnet und die hohe Bedeutung dieser
Seelenthätigkeit hervorgehoben, "der wir fast Alles verdanken,
was wir sind und haben" (1870). Ich habe später (1876) diesen
Gedanken weiter ausgeführt und in seiner fruchtbaren
Anwendung auf die Entwickelungslehre zu begründen versucht, in
meiner Abhandlung über "Die Perigenesis der Plastibule oder die
Wellenzeugung der Lebenstheilchen; ein Versuch zur mechanischen
Erklärung der elementaren Entwickelungs-Vorgänge". Ich
habe dort das "unbewußte Gedächtniß" als eine
allgemeine, höchst wichtige Funktion aller Plastidule
nachzuweisen gesucht, d. h. jener hypothetischen Molekeln oder
Molekel-Gruppen, welche von Naegeli als Micellen, von
Anderen als Bioplasten u. s. w. bezeichnet worden sind. Nur die
lebendigen Plastidule, als die individuellen Molekeln des aktiven
Plasma, sind reproduktiv und besitzen somit Gedächtniß; das
ist der Hauptunterschied der organischen Natur von der anorganischen.
Man kann sagen: "Die Erblichkeit ist das Gedächtniß der
Plastidule, hingegen die Variabilität ist die Fassungskraft der
Plastidule" (a. a. O. S. 72). Das elementare Gedächtniß der
einzelligen Protisten setzt sich zusammen aus dem molekularen
Gedächtnis der Plastidule aller Micellen, aus welchem ihr
lebendiger Zellenleib sich aufbaut. Für die erstaunlichen
Leistungen des unbewußten Gedächtnisses bei diesen
einzelligen Protisten ist wohl keine Thatsache lehrreicher als die
unendlich mannigfaltige und regelmäßige Bildung ihrer
komplicirten Schutzapparate, der Schalen und Skelette; besonders der
Diatomeen und Cosmarieen unter den Protophyten, die Radiolarien und
Thalamophoren unter den Protozoen liefern dafür eine Fülle
von interessanten Beispielen. In vielen tausend Arten dieser Protisten
vererbt sich die specifische Skelettform relativ konstant und
bezeugt die Treue ihres unbewußten cellularen
Gedächtnisses.
II. Histonal-Gedächtnis. Ebenso interessante Beweise
für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte
Gedächtniß der Gewebe, liefert die Vererbung der
einzelnen Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der
niederen, nervenlosen Thiere (Spongien u. s. w.). Diese zweite Stufe
erscheint als Reproduktion der Histonal-Vorstellungen, jener
Associon von Cellular-Vorstellungen, die schon mit der Bildung von
Cönobien bei den socialen Protisten beginnt.
III. Gleicher Weise ist die dritte Stufe, das "unbewußte
Gedächtniß" derjenigen Thiere, die bereits ein
Nervensystem besitzen, als Reproduktion der entsprechenden
"unbewußten Vorstellungen" zu betrachten, welche in gewissen
Ganglien-Zellen aufgespeichert sind. Bei den meisten niederen Thieren
ist wohl alles Gedächtniß unbewußt. Aber auch beim
Menschen und den höheren Thieren, denen wir Bewußtsein
zuschreiben müssen, sind die täglichen Funktionen des
unbewußten Gedächtnisses ungleich häufiger und
mannigfaltiger als diejenigen des bewußten; davon überzeugt
uns leicht eine unbefangene Prüfung von tausend
unbewußten Thätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne
daran zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Essen u. s. w.,
täglich vollziehen.
IV. Das bewußte Gedächtniß, welches durch
bestimmte Gehirnzellen beim Menschen und den höheren Thieren
vermittelt wird, erscheint daher nur als eine spät entstandene
"innere Spiegelung", als die höchste Blüthe derselben
psychischen Vorstellungs-Reproduktionen, welche bei unseren niederen
thierischen Vorfahren sich als unbewußte Vorgänge in den
Ganglien-Zellen abspielen.
Associon der Vorstellungen. Die Verkettung der
Vorstellungen, welche man gewöhnlich als Association der Ideen
(oder kürzer Associon) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine
lange Skala von den niedersten bis zu den höchsten Stufen. Auch
sie ist wieder ursprünglich und ganz überwiegend
unbewußt ("Instinkt"); nur bei den höheren
Thierklassen wird sie allmählich bewußt ("Vernunft").
Die psychischen Erzeugnisse dieser "Ideen-Associon" sind
äußerst mannigfaltig; trotzdem aber führt eine sehr
lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Entwickelung
von den einfachsten unbewußten Associonen der niedersten
Protisten bis zu den vollkommensten bewußten Ideen-Verkettungen des Kulturmenschen hinauf. Auch die Einheit des
Bewußtseins bei letzteren wird als das höchste
Ergebniß derselben erklärt (Hume, Condillac).
Alles höhere Seelenleben wird um so vollkommener, je mehr sich
die normale Associon unendlich zahlreicher Vorstellungen ausdehnt,
und je naturgemäßer dieselben durch die "Kritik der reinen
Vernunft" geordnet werden. Im Traume, wo diese Kritik fehlt,
erfolgt oft die Associon der reproducirten Vorstellungen in der
konfusesten Form. Aber auch im Schaffen der dichterischen
Phantasie, welche durch mannigfaltige Verkettung vorhandener
Vorstellungen ganz neue Gruppen derselben producirt, ebenso in den
Hallucinationen u. s. w. werden dieselben oft ganz naturwidrig geordnet
und erscheinen daher bei nüchterner Betrachtung vollkommen
unvernünftig. Ganz besonders gilt dies von den
übernatürlichen "Gestalten des Glaubens", dem
Geisterspuk des Spiritismus und Okkultismus und den Phantasiebildern
der transscendenten dualistischen Philosophie; aber gerage diese
abnormen Associonen des "Glaubens" und der angeblichen
"Offenbarung" werden vielfach als die werthvollsten "Geistesgüter"
des Menschen hochgeschätzt (vergl. Kapitel 16).
Instinkte. Die veraltete Psychologie des Mittelalters, die
allerdings auch heute noch viele Anhänger besitzt, betrachtete das
Seelenleben des Menschen und der Thiere als gänzlich
verschiedene Erscheinungen; sie leitete das erstere von der
"Vernunft", das letztere von dem "Instinkte" ab. Der
traditionellen Schöpfungsgeschichte entsprechend nahm man an,
daß jeder Thier-Art bei ihrer Schöpfung eine bestimmte,
unbewußte Seelen-Qualität vom Schöpfer eingepflanzt
sei, und daß dieser "Naturtrieb" (Instinctus) einer
jeden Species ebenso unveränderlich sei wie deren
körperliche Organisation. Nachdem schon Lamarck (1809)
bei Begründung seiner Descendenz-Theorie diesen Irrthum als
unhaltbar erwiesen, wurde er durch Darwin (1959)
vollständig widerlegt; er bewies an der Hand seiner Selektions-Theorie folgende wichtige Lehrsätze: I. Die Instinkte der Species
sind individuell verschieden und ebenso der Abänderung durch
Anpassung unterworfen wie die morphologischen Merkmale der
Körperbildung. II. Diese Variationen (großenteils durch
veränderte Gewohnheiten entstanden) werden durch
Vererbung theilweise auf die Nachkommen übertragen und
im Laufe der Generationen gehäuft und befestigt. III. Die
Selektion (ebenso die künstliche wie die natürliche)
trifft unter diesen erblichen Veränderungen der
Seelenthätigkeit eine Auswahl, sie erhält die
zweckmäßigsten und entfernt die weniger passenden
Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte Divergenz des
psychischen Charakters führt so im Laufe der Generations-Folgen
ebenso zur Entstehung neur Instinkte, wie die Divergenz des
morphologischen Charakters zur Entstehung neuer Species. Diese
Instinkt-Theorie Darwin's ist jetzt von den meisten Biologen
angenommen; John Romanes hat dieselbe in seinem
ausgezeichneten Werke über "Die geistige Entwickelung im
Thierreiche" (1885) so eingehend behandelt und so wesentlich
erweitert, daß ich hier lediglich darauf verweisen kann. Ich will
nur kurz bemerken, daß nach meiner Ansicht Instinkte bei
allen Organismen vorkommen, bei sämmtlichen Protisten
und Pflanzen ebenso wie bei sämmtlichen Thieren und Menschen;
sie treten aber bei letzteren um so mehr zurück, je mehr sich auf
ihre Kosten die Vernunft entwickelt.
Als zwei Hauptklassen sind unter den unzähligen Instinkt-Formen
die primären und sekundären zu unterscheiden;
primäre Instinkte sind die allgemeinen niederen Triebe,
welche dem Psychoplasma von Beginn des organischen Lebens
innewohnten und unbewußte waren, vor Allem die Triebe der
Selbsterhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung
(Fortpflanzung und Brutpflege). Diese beiden Grundtriebe des
organischen Lebens, Hunger und Liebe, sind ursprünglich
überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verstandes oder der
Vernunft entstanden; bei höheren Thieren sind sie später,
wie beim Menschen, Gegenstände des Bewußtseins geworden.
Umgekehrt verhält es sich mit den sekundären
Instinkten; diese sind ursprünglich durch intelligente
Anpassung entstanden, durch verständiges Nachdenken und
Schließen, sowie zweckmäßiges bewußtes Handeln;
allmählich sind sie so zur Gewohnheit geworden, daß diese
"altera natura" unbewußt wirkt und auch bei der Vererbung
auf die Nachkommen als "angeboren" erscheint. Das ursprünglich
mit diesen besonderen Instinkten der höheren Thiere und des
Menschen verknüpfte Bewußtsein und Nachdenken ist im
Laufe der Zeit den Plastidulen verloren gegangen (wie bei der
"abgekürzten Vererbung"). Die unbewußten
zweckmäßigen Handlungen der höheren Thiere (z. B.
die Kunsttriebe) erscheinen jetzt als angeborne Instinkte. So ist auch die
Entstehung der angeborenen "Erkenntnisse a priori" beim
Menschen zu erklären, welche ursprünglich bei seinen
Voreltern a posteriori sich empirisch entwickelt hatten.
Skala der Vernunft. In jenen oberflächlichen, mit dem
Seelenleben der Thiere unbekannten psychologischen Betrachtungen,
welche nur im Menschen eine "wahre Seele" anerkennen, wird auch ihm
allein als höchstes Gut die "Vernunft" und das
Bewußtsein zugeschrieben. Auch diser triviale Irrthum (der
übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern spukt) ist durch
die vergleichende Psychologie der letzten vierzig Jahre gründlich
widerlegt. Die höheren Wirbelthiere (vor Allem die dem Menschen
nächststehenden Säugethiere) besitzen ebenso gut Vernunft
wie der Mensch selbst, und innerhalb der Thierreihe ist ebenso eine
lange Stufenleiter in der allmählichen Entwickelung der Vernunft C
zu verfolgen wie innerhalb der Menschen-Reihe. Der Unterschied
zwischen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck,
Darwin und derjenigen des niedersten Naturmenschen, eines
Wedda, Akka, Australnegers und Patagoniers, ist viel größer
als die graduelle Differenz zwischen der Vernunft dieser letztere und
der "vernünftigsten" Säugethiere, der Menschenaffen
(Anthropomorpha) und selbst der Papstaffen (Papiomorpha),
der Hunde und Elephanten. Auch dieser wichtige Satz ist durch
gründliche kritische Vergleichung von Romanes u. A.
überzeugend bewiesen. Wir gehen daher auf denselben hier nicht
näher ein, ebenso wenig als auf den Unterschied zwischen
Vernunft (Ratio) und Verstand (Intellectus);
über diese Begriffe und ihre Grenzen, wie über viele andere
Grundbegriffe der Psychologie, geben die angesehendsten Philosophen
die widersprechendsten Definitionen. Im Allgemeinen kann man sagen,
daß die Fähigkeit der Begriffsbildung, welche beiden
Gehirn-Funktionen gemeinsam ist, beim Verstande den engeren Kreis
der konkreten, näher liegenden Associonen umfaßt, bei der
Vernunft dagegen den weiteren Kreis der abstrakten, umfassenderen
Associons-Gruppen. Auf der langen Stufenleiter, welche von den
Reflexthaten und Instinkten der niederen Thiere zu der Vernunft der
höchsten Thiere hinaufführt, geht der Verstand der
letzteren voraus. Wichtig ist für unsere allgemeine psychologische
Betrachtung vor Allem die Thatsache, daß auch diese
höchstentwickelten Seelenthätigkeiten den Gesetzen der
Vererbung und Anpassung unterliegen, ebenso wie ihre Organe; als
solche "Denkorgane" sind beim Menschen und den höheren
Säugethieren durch Flechsig (1894), diejenigen Theile der
Großhirnrinde nachgewiesen, welche zwischen den vier inneren
Sinnesherden liegen (vergl. Kapitel 10 und 11)
Sprache. Der höhere Grad von Entwickelung der Begriffe,
von Verstand und Vernunft, welcher den Menschen so hoch über
die Thiere erhebt, ist eng verknüpft mit der Ausbildung seiner
Sprache. Aber auch hier, wie dort, ist eine lange Stufenleiter der
Entwickelung nachweisbar, welche ununterbrochen von den niedersten
zu den höchsten Bildungsstufen hinaufführt. Sprache ist
ebenso wenig als Vernunft ein ausschließliches Eigenthum des
Menschen. Vielmehr ist Sprache im weiteren Sinne ein gemeinsamer
Vorzug aller höheren socialen Thiere, mindestens aller
Gliederthiere und Wirbelthiere, welche in Gesellschaften und Heerden
vereinigt leben; sie ist ihnen nothwendig zur Verständigung, zur
Mittheilung ihrer Vorstellungen. Diese kann nun entweder durch
Berührung oder durch Zeichengebung geschehen, oder durch
Töne, welche bestimmte Begriffe bezeichnen. Auch der Gesang der
Singvögel und der singenden Menschenaffen (Hylobates)
gehört zur Lautsprache, ebenso wie das Bellen der Hunde und das
Wiehern der Pferde; ferner das Zirpen der Grillen und das Geschrei der
Cikaden. Aber nur beim Menschen hat sich jene artikulirte
Begriffssprache entwickelt, welche seine Vernunft zu so viel
höheren Leistungen befähigt. Die vergleichende
Sprachforschung, eine der interessantesten im 19 Jahrhundert
entstandenen Wissenschaften, hat gelehrt, wie die zahlreichen
hochentwickelten Sprachen der verschiedenen Völker sich aus
wenigen einfachen Ursprachen langsam und allmählich entwickelt
haben (Wilhelm Humboldt, Bopp, Schleicher,
Steinthal u. A.). Insbesondere hat August Schleicher in
Jena gezeigt, daß die historische Entwickelung der Sprachen nach
denselben phylogenetischen Gesetzen erfolgt, wie diejenige anderer
physiologischer Thätigkeiten und ihrer Organe. Romanes
hat (1893) diesen Nachweis weiter ausgeführt und
überzeugend dargethan, daß auch die Sprache des Menschen
nur dem Grade der Entwickelung nach, nicht dem Wesen und der
Art nach von derjenigen der höheren Thiere verschieden
ist.
Skala der Gemüthsbewegungen oder Affekte. Die
wichtige Gruppe von Seelenthätigkeiten, welche wir unter dem
Begriffe "Gemüth" zusammenfassen, spielt eine große
Rolle ebenso in der theoretischen wie in der praktischen Vernunftlehre.
Für unsere Betrachtungsweise sind sie deshalb besonders wichtig,
weil hier der direkte Zusammenhang der Gehirnfunktion mit anderen
physiologischen Funktionen (Herzschlag, Sinnesthätigkeit,
Muskelbewegung) unmittelbar einleuchtet; dadurch wird hier besonders
das Widernatürliche und Unhaltbare jener Philosophie klar,
welche die Psychologie principiell von der Physiologie trennen will. Alle
die zahlreichen Aeußerungen des Gemüthslebens, welche wir
beim Menschen finden, kommen auch bei den höheren Thieren
vor (besonders bei den Menschenaffen und Hunden); so
verschiedenartig sie auch entwickelt sind, so lassen sich doch alle
wieder auf die beiden Elementar-Funktionen der Psyche
zurückführen, auf Empfindung und Bewegung, und auf
deren Verbindung im Reflex und in der Vorstellung. Zum Gebiete der
Empfindung im weiteren Sinne gehört das Gefühl von
Lust und Unlust, welches das Gemüth bestimmt, und ebenso
gehört auf der anderen Seite zum Gebiete der Bewegung die
entsprechende Zuneigung und Abneigung ("Liebe und Haß"),
das Streben nach Erlangen der Lust und nach Vermeiden der Unlust.
"Anziehung und Abstoßung" erscheinen hier zugleich als die
Urquelle des Willens, jenes hochwichtigen Seelen-Elementes,
welches den Charakter des Individuums bestimmt. Die
Leidenschaften, welche eine so große Rolle im höheren
Seelenleben des Menschen spielen, sind nur Steigerungen der
"Gemüthsbewegungen" und Affekte. Daß auch diese den
Menschen und Thieren gemeinsam sind, hat Romanes neuerdings
einleuchtend gezeigt. Auf der tiefsten Stufe des organischen Lebens
schon finden wie bei allen Protisten jene elementaren Gefühle von
Lust und Unlust, welche sich in ihren sogenannten Tropismen
äußern, in dem Streben nach Licht oder Dunkelheit, nach
Wärme oder Kälte, in dem verschiedenen Verhalten gegen
positive und negative Elektricität. Auf der höchsten Stufe
des Seelenlebens dagegen treffen wir beim Kulturmenschen jene
feinsten Gefühlstöne und Abstufungen von Entzücken
und Abscheu, von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der
Kulturgeschichte und die unerschöpfliche Fundgrube der Poesie
sind. Und doch verbindet eine zusammenhängende Kette von allen
denkbaren Uebergangsstufen jene primitivsten Urzustände des
Gemüths im Psychoplasma der einzelligen Protisten mit
diesen höchsten Entwickelungsformen der Leidenschaften beim
Menschen, welche sich in den Ganglienzellen der Großhirnrinde
abspielen. Daß auch diese letzeren den physikalischen Gesetzen
absolut unterworfen sind, hat schon der große Spinoza in
seiner berühmten "Statik der Gemüthsbewegungen"
dargethan.
Skala des Willens. Der Begriff des Willens unterliegt
gleich anderen psychologischen Grundbegriffen (gleich den Begriffen
von Vorstellung, Seele, Geist u. s. w.) den verschiedensten Deutungen
und Definitionen. Bald wird der Wille im weitesten Sinne als
kosmologisches Attribut betrachtet. "die Welt als Wille und
Vorstellung" (Schopenhauer), bald im engsten Sinne als ein
anthropologisches Attribut, als eine auschließliche
Eigenschaft des Menschen; letzteres gilt z. B. für
Descartes, für welchen die Thiere willenlose und
empfindungslose Maschinen sind. Im gewöhnlichen
Sprachgebrauch wird der Wille von der Erscheinung der
willkürlichen Bewegungen abgeleitet und somit als eine
Seelenthätigkeit der meisten Thiere betrachtet. Wenn wir den
Willen im Lichte der vergleichenden Physiologie und
Entwickelungsgeschichte untersuchen, so kommen wir - ebenso wie bei
der Empfindung - zur Ueberzeugung, daß er eine allgemeine
Eigenschaft des lebenden Psychoplasma ist. Die automatischen
Bewegungen sowohl als die Reflexbewegungen, die wir schon bei den
einzelligen Protisten allgemein beobachten, erscheinen uns als die Folge
von Strebungen, welche mit dem Begriffe des Lebens selbst
verknüpft sind. Auch bei den Pflanzen und den niedersten
Thieren erscheinen die Strebungen oder Tropismen als das
Gesammtresultat der Strebungen aller einzelnen vereinigten Zellen.
Erst wenn des "dreizellige Reflexorgan" sich entwickelt (S. 49), wenn
zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle die
selbstständige dritte Zelle eingeschaltet wird, die "Seelenzelle oder
Ganglienzelle", können wir diese als ein selbstständiges
Elementar-Organ des Willens anerkennen. Der Wille bleibt aber hier, bei
den niederen Thieren, meistens noch unbewußt. Erst, wenn
sich bei den höheren Thieren das Bewußtsein entwickelt, als
subjektive Spiegelung der objektiven inneren Vorgänge im
Neuroplasma der Seelenzellen, erreicht der Wille jene höchste
Stufe, welche ihn qualitativ dem menschlichen Willen gleichstellt, und
für den man im Sprachgebrauch das Prädikat der
"Freiheit" in Anspruch nimmt. Seine freie Entfaltung und
Wirkung erscheint um so imposanter, je mehr sich mit der freien und
schnellen Ortsbewegung das Muskelsystem und die Sinnesorgane
entwickeln und in Korrelation damit die Denkorgane des Gehirns.
Willensfreiheit. Das Problem von der Freiheit des
menschlichen Willens ist unter allen Welträthseln dasjenige,
welches den denkenden Menschen von jeher am meisten
beschäftigt hat, und zwar deshalb, weil sich hier mit dem hohen
philosophischen Interesse der Frage zugleich die wichtigsten
Folgerungen für die praktische Philosophie verknüpfen,
für die Moral, die Erziehung, die Rechtspflege u. s. w. E. Du Bois-Reymond, welcher dasselbe als das siebente und letzte unter seinen
"sieben Welträthseln" behandelt, sagt daher von dem Problem der
Willensfreiheit mit Recht: "Jeden berührend, scheinbar Jedem
zugänglich, innig verflochten mit den Grundbedingungen der
menschlichen Gesellschaft, auf das tiefste eingreifend in die
religiösen Ueberzeugungen, hat diese Frage in der Geistes- und
Kulturgeschichte eine Rolle von unermeßlicher Wichtigkeit gespielt,
und in ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwickelungsstadien des
Menschengeistes deutlich ab. - Vielleicht giebt es keinen Gegenstand
menschlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen
nie mehr aufgeschlagener Folianten im Staube der Bibliotheken
modern." - Diese Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zu Tage,
daß Kant die Ueberzeugung von der "Willensfreiheit"
unmittelbar neben diejenige von der "Unsterblichkeit der Seele" und
neben den "Glauben an Gott" stellte. Er bezeichnete diese drei
großen Fragen als die drei unentbehrlichen "Postulate der
praktischen Vernunft", nachdem er früher klar dargelegt
hatte, daß die Realität derselben im Lichte der reinen
Vernunft nicht zu beweisen ist!
Das Merkwürdigste in dem großartigen und höchst
verworrenen Streite über die Willensfreiheit ist vielleicht die
Thatsache, daß dieselbe theoretisch nicht nur von höchst
kritischen Philosophen, sondern auch von den extremsten
Gegensätzen verneint und trotzdem von den meisten Menschen als
selbstverständlich noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer
der christlichen Kirche, wie der Kirchenvater Augustin und der
Reformator Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenso bestimmt
wie die bekanntesten Führer des reinen Materialismus, wie
Holbach im 18. und Büchner im 19. Jahrhundert. Die
christlichen Theologen verneinen sie, weil sie mit ihrem festen Glauben
an die Allmacht Gottes und die Prädestination unvereinbar ist;
also bestimmte er auch das Handeln des Menschen. Wenn der Mensch
nach freiem Willen handelte, anders als es Gott vorausbestimmt hatte,
so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. In
demselben Sinne war auch Leibniz unbedingter
Determinist. Die monistischen Naturforscher des 18.
Jahrhunderts, Allen voran Laplace, vertheidigten den
Determinismus wieder auf Grund ihrer einheitlichen mechanischen
Weltanschauung.
Der gewaltige Kampf zwischen den Deterministen und
Indeterministen, zwischen den Gegnern und Anhängern der
Willensfreiheit, ist heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden,
endgültig zu Gunsten der ersteren entschieden. Der menschliche
Wille ist ebenso wenig frei als derjenige der höheren Thiere, von
welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet.
Während noch im 18. Jahrhundert das alte Dogma von der
Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und
kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das
19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung
geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arsenal der
vergleichenden Physiologie und Entwickelungsgeschichte
verdanken. Wir wissen jetzt, daß jeder Willens-Akt ebenso durch
die Organisation des wollenden Individuums bestimmt und ebenso von
den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt
abhängig ist wie jede andere Seelenthätigkeit. Der Charakter
des Strebens ist von vornherein durch die Vererbung von Eltern
und Voreltern bedingt; der Entschluß zum jedesmaligen Handeln
wird durch die Anpassung an die momentanen Umstände
gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag giebt,
entsprechend den Gesetzen, welche die Statik der
Gemüthsbewegungen bestimmen. Die Ontogenie lehrt uns
die individuelle Entwickelung des Willens beim Kinde verstehen, die
Phylogenie aber die historische Ausbildung des Willens innerhalb
der Reihe unserer Vertrebraten-Ahnen.
Achtes Kapitel
Keimesgeschichte der Seele.
Monistische Studien über ontogenetische Psychologie.
Entwickelung des Seelenlebens im individuellen Leben der Person.
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Inhalt: Bedeutung der Ontogenie für die Psychologie.
Entwickelung der Kindes-Seele. Beginn der Existenz der individuellen
Seele. Einschachtelung der Seele. Mytholgie des Seelen-Ursprungs.
Physiologie des Seelen-Ursprungs. Elementare Vorgänge bei der
Befruchtung. Kopulation der weiblichen Eizelle und der
männlichen Samenzelle. Zellenliebe. Vererbung der Seele von
Eltern und Voreltern. Ihre physiologische Natur als Mechanik des
Plasma. Seelenmischung (psychische Amphigonie). Rückschlag,
psychologischer Atavismus. Das biogenetische Grundgesetz in der
Psychologie. Palingenetische Wiederholung und cenogenetische
Abänderung. Embryonale und postembryonale Psychogenie.
Unsere menschliche Seele - gleichviel, wie man ihr Wesen auffaßt -
unterliegt einer stetigen Entwickelung. Diese ontogenetische
Thatsache ist für unsere monistische Psychologie von
fundamentaler Bedeutung, obwohl die meisten "Psychologen vom Fach"
ihr theils nur geringe, theils gar keine Berücksichtigung schenken.
Wie nun die individuelle Entwickelungsgeschichte nach Baer's
Ausdruck - und nach der jetzt allgemein herrschenden Ueberzeugung
der Biologen - der "wahre Lichtträger für alle
Untersuchungen über organische Körper ist", so wird
dieselbe auch über die wichtigsten Geheimnisse ihres Seelenlebens
uns erst das wahre Licht anzünden.
Obgleich nun diese "Keimesgeschichte der Menschen-Seele"
äußerst wichtig und interessant ist, hat sie doch bisher nur in
sehr beschränktem Umfange die verdiente Berücksichtigung
gefunden. Es waren bisher fast ausschließlich die
Pädagogen, welche sich mit einem Theile derselben
beschäftigen; durch ihren praktischen Beruf darauf angewiesen,
die Ausbildung der Seelenthätigkeit beim Kinde zu leiten und zu
überwachen, mußten sie auch theoretisches Interesse an den
dabei beobachteten psychogenetischen Thatsachen finden. Indessen
standen diese Pädagogen - soweit sie überhaupt
darüber nachdachten! - in der Neuzeit wie im Alterthum
größtentheils im Banne der herrschenden dualistischen
Psychologie; dagegen waren sie mit den wichtigsten Thatsachen der
vergleichenden Psychologie, sowie mit der Organization und Funktion
des Gehirns meistens nicht bekannt. Außerdem aber betrafen ihre
Beobachtungen größtentheils erst die Kinder in
schulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden
Lebensjahren. Die merkwürigen Erscheinungen, welche die
individuelle Psychogenie des Kindes gerade in den ersten Lebensjahren
darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig bewundern,
wurden fast niemals Gegenstand eingehender wissenschaftlicher
Studien. Hier hat erst Wilhelm Preyer (1881) Bahn gebrochen, in
seiner interessanten Schrift über "Die Seele des Kindes;
Beobachtungen über die geistige Entwickelung des Menschen in
den ersten Lebensjahren". Indessen müssen wir, um volle Klarheit
zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die erste
Entstehung der Seele im befruchteten Ei.
Entstehung der individuellen Seele. Der Ursprung und die
erste Entstehung des menschlichen Individuums - ebenso unsers
Körpers wie unserer Seele - galt noch im Anfange des 18.
Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimniß. Allerdings
hatte der große Caspar Friedrich Wolff schon 1759 in seiner
Theoria generationis das wahre Wesen der embryonalen
Entwickelung aufgedeckt und an der sicheren Hand kritischer
Beobachtung gezeigt, daß bei der Entwickelung des Keimes aus dem
einfachen Ei eine wahre Epigenesis, d. h. eine Reihe der
merkwürdigsten Neubildungs-Prozesse stattfinde. Allein die
damalige Physiologie, an ihrer Spitze der berühmte Albert
Haller, lehnte diese empirischen, unmittelbar mikroskopisch
zu demonstrirenden Erkenntnisse rundweg ab und hielt an dem
hergebrachten Dogma der embryonalen Präformation fest.
Nach diesem nahm man an, daß im menschlichen Ei - ebenso wie
im Ei aller Thiere - der Organismus mit allen seinen Theilen vorgebildet
oder präformirt sei; die "Entwickelung" des Keimes bestehe
eigentlich nur in einer "Auswickelung" (Evolutio) der
eingewickelten Theile. Als nothwendiger Folgeschluß dieses
Irrthums ergab sich daraus weiterhin die oben erwähnte
Einschachtelungs-Theorie (S. 27); da im weiblichen Embryo bereits der
Eierstock vorhanden wäre, mußte man annehmen, daß
in dessen Eiern wieder schon die Keime der nächsten Generation
eingeschachtelt vorhanden seien, und so weiter, in infinitum!
Diesem Dogma der "Ovulisten"-Schule stand gegenüber eine
andere, ebenso irrthümliche Ansicht, die der
"Animalkulisten"; diese glaubten, daß der eigentliche Keim
nicht in der weiblichen Eizelle der Mutter, sondern in der
männlichen Spermazelle des Vaters liege, und daß in diesem
"Samenthierchen" (Spermatozoon) die Einschachtelung der
Generations-Reihen zu suchen sei.
Leibniz übertrug diese Einschachtelungs-Lehre ganz
folgerichtig auch auf die menschliche Seele; er leugnete für
sie eine wahre Entwickelung (Epigenesis) ebenso wie für den
Körper und sagte seiner Theodicee: "So sollte ich meinen, daß
die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im
Samen, wie jene von anderen Species, dagewesen sind; daß sie in
den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfange der Dinge, immer in
Form organisirter Körper existirt haben." Aehnliche Vorstellungen
erhielten sich sowohl in der Biologie wie in der Philosophie noch bis in
das dritte Decennium des 19. Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der
Keimesgeschichte durch Baer den Todesstoß versetzte. Im
Gebiete der Psychologie haben sie aber selbst bis auf den heutigen Tag
noch vielfach Geltung; sie stellen nur eine Gruppe unter den vielen
seltsamen, mysthischen Vorstellungen dar, welche die Ontogenie der
Psyche auch heute noch aufweist.
Mythologie des Seelen-Ursprungs. Die näheren
Aufschlüsse, welche wir durch die vergleichende Ethnologie
neuerdings über die mannigfaltigen Mythenbildungen der
älteren Kultur-Völker sowohl als der heutigen Natur-Völker gewonnen haben, sind auch für die Psychogenie von
großem Interesse; indessen würde es hier zu weit
führen, wenn wir darauf eingehen wollten; wir verweisen
darüber auf das treffliche Werk von Adalbert Svoboda:
"Gestalten des Glaubens" (1897). Betreffs ihres wissenschaftlichen
oder poetischen Gehaltes können die betreffenden
psychogenetischen Mythen etwa folgendermaßen in
fünf Gruppen geordnet werden: I Mythus der Seelen-Wanderung: die Seele lebte früher im Körper eines
anderen Thieres und ist erst aus diesem in den menschlichen
Körper übergetreten; die ägyptischen Priester z. B.
behaupteten, daß die menschliche Seele nach dem Tode des Leibes
durch alle Thier-Gattungen hindurchwandere, nach 3000 Jahren aber
wieder in einen Menschenleib zurückkehre. II. Mythus der
Seelen-Einpflanzung: die Seele existirte selbstständig an
einem anderen Orte, in einer psychogenetischen Vorrathskammer (etwa
in einer Art von Keimschlaf oder latentem Leben); sie wird von
einem Vogel (bisweilen als Adler, gewöhnlich als "Klapperstorch"
gedacht) geholt und in den menschlichen Körper eingesetzt. III.
Mythus des Seelen-Schöpfung; der göttliche
Schöpfer, als persönlicher "Gott-Vater" gedacht, erschafft die
Seelen, hält sie vorräthig - bald in einem Seelenteich (als
"Plankton" lebend), bald an einem Seelenbaum (als Früchte einer
phanerogamen Pflanze gedacht); der Schöpfer nimmt dieselben
heraus und setzt sie (während des Zeugungs-Aktes) dem
menschlichen Keime ein. IV. Mythus der Seelen-Einschachtelung
(von Leibniz, vorher erwähnt). V. Mythus der
Seelentheilung (von Rudolf Wagner, 1855, auch von
anderen Physiologen angenommen); im Zeugungs-Akte spaltet sich ein
Teil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper der
beiden kopulirenden Eltern bewohnen; der mütterliche
Seelenkeim reitet auf der Eizelle, der väterliche auf dem
beweglichen Samenthierchen; indem diese beiden Keimzellen
verschmelzen, wachsen auch die beiden sie begleitenden Seelen zur
Bildung einer neuen immateriellen Seele zusammen.
Physiologie des Seelen-Ursprungs. Obwohl die
angeführten Dichtungen über die Entstehung der einzelnen
Menschen-Seele heute noch sehr weite Verbreitung und Anerkennung
besitzen, ist dennoch ihr rein mythologischer Charakter jetzt sicher
nachgewiesen. Die hochinteressanten und bewunderungswürdigen
Untersuchungen, welche im Laufe der letzten 28 Jahre über die
feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies
ausgeführt worden sind, haben ergeben, daß diese
mysteriösen Erscheinungen sämmtlich in das Gebiet der
Zellen-Physiologie gehören (vergl. oben S. 24). Sowohl die
weibliche Keim-Anlage, das Ei, als der männliche
Befruchtungskörper, das Spermium oder Samen-Element, sind
einfache Zellen. Diese lebendigen Zellen besitzen eine Summe von
physiologischen Eigenschaften, welche wir unter dem Begriff der
Zellseele zusammenfassen, ebenso wie bei den permanent
einzelligen Protisten (vergl. S. 24). Beiderlei Geschlechtszellen besitzen
das Vermögen der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche
Eizelle oder das "Ur-Ei" bewegt sich nach Art einer Amöbe;
die sehr kleinen Samenkörperchen oder Spermien, von welchen
Millionen in jedem Tropfen des schleimartigen, männlichen
Samens (Sperma) sich finden, sind Geißelzellen und bewegen
sich mittelst ihrer schwingenden Geißel ebenso lebhaft
schwimmend im Sperma umher wie die gewöhnlichen
Geißel-Infusorien (Flagellaten).
Wenn nun die beiderlei Zellen in Folge der Begattung zusammentreffen,
oder wenn sie durch künstliche Befruchtung (z. B. bei Fischen) in
Berührung gebracht werden, ziehen sie sich gegenseitig an und
legen sich fest an einander. Die Ursache dieser cellularen Attraktion ist
eine chemische, dem Geruche oder Geschmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des Plasma, die wir als "erotischen
Chemotopismus" bezeichnen; man kann sie auch geradezu (sowohl
im Sinne der Chemie als im Sinne der Roman-Liebe) "Zellen-Wahlverwandtschaft" oder "sexuelle Zellenliebe" nennen.
Zahlreiche Geißelzellen des Sperma schwimmen auf die ruhige
Eizelle lebhaft hin und versuchen in deren Körper einzudringen.
Wie Hertwig (1875) gezeigt hat, gelingt es aber normaler Weise
nur einem einzigen glücklichen Bewerber, das ersehnte Ziel
wirklich zu erreichen. Sobald sich dieses bevorzugte "Samenthierchen"
mit seinem "Kopfe" (d. h. dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle
eingebohrt hat, wird von der Eizelle eine dünne Schleimschicht
abgesondert, welche das Eindringen anderer männlicher Zellen
verhindert. Nur wenn Hertwig durch niedere Temperatur die
Eizelle in Kälte-Starre versetzte oder sie durch narkotische Mittel
(Chloroform, Morphium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung
dieser Schutzhülle; dann trat "Ueberbefruchtung oder
Polyspermie" ein, und zahlreiche Samenfäden bohrten sich in
den Leib der bewußtlosen Zelle ein (Anthropogenie S. 54.). Diese
merkwürdige Thatsache bezeugt ebenso einen niederen Grad von
"cellularem Instinkt" (oder mindestens von specifischer,
sinnlicher, lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geschlechtszellen wie
die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf sich in ihrem Innern
abspielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und der
männliche Spermakern, ziehen sich gegenseitig an, nähern
sich und verschmelzen bei der Berührung vollständig
miteinander. So ist denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue
Zelle entstanden, welche wir Stammzelle (Cytula) nennen,
und aus deren wiederholter Theilung der ganze vielzellige Organismus
hervorgeht.
Die psychologischen Erkenntnisse, welche sich aus diesen
merkwürdigen, erst in den letzten 28 Jahren sicher beobachteten
Thatsachen der Befruchtung ergeben, sind überaus wichtig und
bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung erkannt. Wir
fassen hier die wesentlichesten Folgerungen in folgenden fünf
Sätzen zusammen: I. Jedes menschliche Individuum ist, wie jedes
andere Thier, im Beginne seiner Existenz eine einfache Zelle. II. Diese
Stammzelle (Cytula) entsteht überall auf dieselbe Weise,
durch Verschmelzung oder Kopulation von zwei getrennten Zellen
verschiedenen Ursprungs, der weiblichen Eizelle (Ovulum) und
der männlichen Spermazelle (Spermium). III. Beide
Geschlechtszellen besitzen eine verschiedene "Zellseele", d. h. beide sind
durch eine besondere Form von Empfindung und von Bewegung
ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Befruchtung oder
Empfängniß verschmelzen nicht nur die Plasmakörper
der beiden Geschlechtszellen un ihre Kerne, sondern auch die "Seelen"
derselben; d. h. die Spannkräfte, welche in beiden enthalten und
an die Materie des Plasma untrennbar gebunden sind, vereinigen sich
zur Bildung einer neuen Spannkraft, des "Seelenkeimes" der
neugebildeten Stammzelle. V. Daher besitzt jede Person leiblche und
geistige Eigenschaften von beiden Eltern; durch Vererbung
überträgt der Kern der Eizelle einen Theil der
mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Theil der
väterlichen Eigenschaften.
Durch diese empirisch erkannten Erscheinungen der Konception wird
ferner die höchst wichtige Thatsache festgestellt, daß jeder
Mensch wie jedes andere Thier einen Beginn der individuellen
Existenz hat; die völlige Kopulation der beiden sexuellen
Zellkerne bezeichnet haarscharf den Augenblick, in welchem nicht nur
der Körper der neuen Stammzelle entsteht, sondern auch
ihre "Seele". Durch diese Thatsache allein schon wird der alte Mythus
von der Unsterblichkeit der Seele widerlegt, auf den wir
später zurückkommen. Ferner wird dadurch der noch sehr
verbreitete Aberglaube widerlegt, daß der Mensch seine
individuelle Existenz der "Gnade des liebenden Gottes" verdankt. Die
Ursache derselben beruht vielmehr einzig und allein auf dem
"Eros" seiner beiden Eltern, auf jenem mächtigen, allen
vielzelligen Thieren und Pflanzen gemeinsamen Geschlechtstriebe,
welcher zu deren Begattung führt. Das Wesentliche bei diesem
physiologischen Processe ist aber nicht, wie man früher annahm,
die "Umarmung" oder die damit verknüpften Liebespiele, sondern
einzig und allein die Einführung des männlichen Sperma in
die weiblichen Geschlechts-Kanäle. Nur dadurch wird es bei den
landbewohnenden Thieren möglich, daß der befruchtende
Samen mit der abgelösten Eizelle zusammenkommt (was beim
Menschen gewöhnlich innerhalb des Uterus geschieht). Bei
niederen, wasserbewohnenden Thieren (z. B. Fischen, Muscheln,
Medusen) werden beiderlei reife Geschlechts-Produkte einfach in das
Wasser entleert, und hier bleibt ihr Zusammentreffen dem Zufall
überlassen; dann fehlt eine eigentliche Begattung, und damit
zugleich fallen jene zusammengesetzten psychischen Funktionen des
"Liebeslebens" hinweg, die bei höheren Thieren eine so große
Rolle spielen. Daher fehlen auch allen niederen, nicht kopulierenden
Thieren jene interessanten Organe, die Darwin als
"sekundäre Sexual-Charaktere" bezeichnet hat, die Produkte der
geschlechtlichen Zuchtwahl: der Bart des Mannes, das Geweih des
Hirsches, das prachtvolle Gefieder der Paradiesvöggel und vieler
Hühner-Vögel, sowie viele anderen Auszeichnungen der
Männchen, welche den Weibchen fehlen. (Vergl. Wilhelm
Bölsche, Liebesleben der Natur, 3 Bände, 1901.)
Vererbung der Seele. Unter den angeführten
Folgeschlüssen der Konceptions-Physiologie ist für die
Psychologie ganz besonders wichtig die Vererbung der Seelen-Qualitäten von beiden Eltern. Daß jedes Kind besondere
Eigenthümlichkeiten des Charakters, Temperament, Talent,
Sinneschärfe, Willens-Energie von beiden Eltern erbt, ist
allgemein bekannt. Ebenso bekannt ist die Thatsache, daß oft (oder
eigentlich allgemein!) auch psychische Eigenschaften von beiderlei
Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja
häufig stimmt in einzelnen Beziehungen der Mensch mehr mit den
Großeltern als mit den Eltern überein, und das gilt ebenso
von geistigen wie von körperlichen Eigenthümlichkeiten.
Alle die merkwürdigen Gesetze der Vererbung, welche ich
zuerst (1866) in der Generellen Morphologie formulirt und in der
Natürlichen Schöpfungsgeschichte populär behandelt
habe, besitzen ebenso allgemeine Gültigkeit für die
besonderen Erscheinungen der Seelenthätigkeit wie der
Körperbildung; ja sie treten uns häufig an der ersteren noch
viel auffallender und klarer entgegen, als an der letzteren.
Nun ist ja an sich das große Gebiet der Vererbung, für
dessen ungeheuere Bedeutung uns erst Darwin (1859) das
wissenschaftliche Verständniß eröffnet hat, reich an
dunkeln Räthseln und physiologischen Schwierigkeiten; wir
dürfen nicht beanspruchen, daß uns schon jetzt nach, 40
Jahren, alle Seiten desselben klar vor Augen liegen. Aber so viel haben
wir doch schon sicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine
physiologische Funktion des Organismus betrachten, die mit der
Thätigkeit seiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft ist;
und wie alle anderen Lebensthätigkeiten müssen wir auch
diese schließlich auf physikalische und chemische Processe, auf
Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir
aber jetzt den Vorgang der Befruchtung selbst genau; wir wissen,
daß dabei ebenso der Spermakern die väterlichen, wie der
Eikern die mütterlichen Eigenschaften auf die neugebildete
Stammzelle überträgt. Die Vermischung beider Zellkerne ist
das eigentliche Hauptmoment der Vererbung; durch sie werden ebenso
die individuellen Eigenschaften der Seele wie des Leibes auf das
neugebildete Individuum übertragen. Diesen ontogenetischen
Thatsachen steht die dualistische und mystische Psychologie der noch
heute herrschenden Schulen rathlos gegenüber, während sie
sich durch unsere monistische Psychogenie in einfachster Weise
vollkommen erklären.
Seelenmischung (psychische Amphigonie). Die physiologische
Thatsache, auf welche es für die richtige Beurtheilung der
individuellen Psychogenie vor Allem ankommt, ist die
Kontinuität der Psyche in der Generations-Reihe. Wenn im
Konceptions-Momente auch thatsächlich ein neues Individuum
entsteht, so ist dasselbe doch weder hinsichtlich seiner geistigen noch
leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, sondern
lediglich das Produkt aus der Verschmelzung der beiden elterlichen
Faktoren, der mütterlichen Eizelle und der väterlichen
Spermazelle. Die Zellseelen dieser beiden Geschlechtszellen
verschmelzen im Befruchtungs-Akte ebenso vollständig zur
Bildung einer neuen Zellseele, wie die beiden Zellkerne, welche
die materiellen Träger dieser psychischen Spannkräfte sind,
zu einem neuen Zellkern sich verbinden. Da wir nun sehen,
daß die Individuen einer und derselben Art - ja selbst die
Geschwister, die von einem gemeinsamen Eltern-Paare abstammen -
stets gewisse, wenn auch geringfügige Unterschiede zeigen, so
müssen wir annehmen, daß solche auch schon in der
chemischen Plasma-Konstitution der kopulirenden Keimzellen selbst
vorhanden sind (Gesetz der individuellen Variation, Natürl.
Schöpfungsgeschichte, X. Auflage, S. 215).
Aus diesen Thatsachen allein schon läßt sich die unendliche
Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen- und Form-Erscheinungen in
der organischen Natur begreifen. In extremer, aber einseitiger
Konsequenz ergiebt sich daraus die Auffassung von Weismann,
welcher die Amphimixis, die Mischung des Keimplasma bei der
geschlechtlichen Zeugung, sogar als die allgemeine und
ausschließliche Ursache der individuellen Variabilität
betrachtet. Diese exklusive Auffassung, die mit seiner Theorie von der
Kontinuität des Keimplasma zusammenhängt, ist nach
meiner Ansicht übertrieben; vielmehr halte ich an der
Ueberzeugung fest, daß die mächtigen Gesetze der
progressiven Vererbung und der damit verknüpften
funktionellen Anpassung ebenso für die Seele wie für
den Leib gelten. Die neuen Eigenschaften, welche des Individuum
während seines Lebens erworben hat, können theilweise auf
die molekulare Zusammensetzung des Keimplasma in der Eizelle und
Samenzelle zurückwirken und können so durch Vererbung
unter gewissen Bedingungen (natürlich nur als latente
Spannkräfte) auf die nächste Generation übertragen
werden.
Psychologischer Atavismus. Wenn bei der Seelen-Mischung im
Augenblicke der Empfängniß zunächst auch nur die
Spannkräfte der beiden Eltern-Seelen mittelst Verschmelzung der
beiden erotischen Zellkerne erblich übertragen werden, so kann
damit doch zugleich der erbliche psychische Einfluß älterer,
oft weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden.
Denn auch die Gesetze der latenten Vererbung oder des
Atavismus gelten ebenso für die Psyche wie für die
anatomische Organisation. Die merkwürdigsten Erscheinungen
dieses "Rückschlags" begegnen uns in sehr einfacher und
lehrreicher Form beim "Generationswechsel" der Polypen und Medusen.
Hier wechseln regelmäßig zwei sehr verschiedene
Generationen so mit einander ab, daß die erste der dritten,
fünften u. s. w. gleich ist, dagegen die zweite (von jenen sehr
verschiedene) der vierten, sechsten u. s. w. (Natürl.
Schöpfgsg. S. 185). Beim Menschen wie bei den höheren
Thieren und Pflanzen, wo in Folge kontinuirlicher Vererbung jede
Generation der anderen gleicht, fehlt jener reguläre
Generationswechsel; aber trotzdem fallen uns auch hier vielfach
Erscheinungen des Rückschlags oder Atavismus auf, welche
auf dasselbe Gesetz der latenten Vererbung zurückzuführen
sind.
Gerade in feineren Züges des Seelenlebens, im Besitze bestimmter
künstlerischer Talente oder Neigungen, in der Energie des
Charakters, in der Leidenschaft des Temperamentes gleichen oft
hervorragende Menschen mehr ihren Großeltern als den Eltern;
nicht selten tritt auch ein auffälliger Charakterzug hervor, den
weder diese noch jene besaßen, der aber in einem älteren
Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit sich offenbart hatte. Auch in
diesen merkwürdigen Atavismen gelten dieselben
Vererbungsgesetze für die Psyche wie für die Physiognomie,
für die individuelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln,
des Skeletts und anderer Körpertheile. Am auffälligsten
können wir dieselben in regierenden Dynastien und in alten
Adels-Geschlechtern verfolgten, deren hervorragende Thätigkeit
im Staatsleben zur genaueren historischen Darstellung der Individuen in
der Generations-Kette Veranlassung gegeben hat, so z. B. bei den
Hohenzollern, Hohenstaufen, Oraniern, Bourbonen u. s. w., und nicht
minder bei den römischen Cäsaren.
Das Biogenetische Grundgesetz in der Psychologie (1866). Der
Kausal-Zusammenhang der biontischen (individuellen) und
der phyletischen (historischen) Entwickelung, den ich schon in
der Generellen Morphologie als oberstes Gesetz an die Spitze aller
biogenetischen Untersuchungen gestellt hatte, besitzt ebenso allgemeine
Geltung für die Psychologie wie für die
Morphologie. Die besondere Bedeutung für den Menschen
beansprucht, habe ich (1874) im ersten Vortrage meiner Anthropogenie
ausgeführt: "Das Grundgesetz der organischen Entwickelung". Wie
bei allen anderen Organismen, so ist auch beim Menschen "die
Keimesgeschichte ein Auszug der Stammesgeschichte". Diese
gedrängte und abgekürzte Rekapitulation ist um so
vollständiger, je mehr durch beständige Vererbung die
ursprüngliche Auszugsentwickelung (Palingenesis)
beibehalten wird; hingegen wird sie um so unvollständiger, je
mehr durch wechselnde Anpassung die spätere
Störungsentwickelung (Cenogenesis) eingeführt
wird (Anthropogenie S. 11, 19).
Indem wir dieses Grundgesetz auf die Entwickelungsgeschichte der
Seele anwenden, müssen wir ganz besonderen Nachduck darauf
legen, daß stets beide Seiten desselben kritisch im Auge zu
behalten sind. Denn beim Menschen wie bei allen höheren Thieren
und Pflanzen haben im Laufe der phyletischen Jahr-Millionen so
beträchtliche Störungen oder Cenogenesen sich
ausgebildet, daß dadurch das ursprüngliche, reine Bild der
Palingenese oder des "Geschichts-Auszuges" stark getrübt
und verändert erscheint. Während einerseits durch die
Gesetze der gleichzeitigen und gleichörtlichen Vererbung die
palingenetische Rekapitulation erhalten bleibt, wird sie
andererseits durch die Gesetze der abgekürzten und vereinfachten
Vererbung wesentlich cenogenetisch verändert (Nat.
Schöpfgsg. S. 190). Zunächst ist das deutlich erkennbar in
der Keimesgeschichte der Seelen-Organe, des Nerven-Systems, der
Muskeln und dasselbe aber auch von ver Seelen-Thätigkeit, die
untrennbar an die normale Ausbildung dieser Organe gebunden ist. Die
Keimesgeschichte derselben ist beim Menschen, wie bei allen anderen
lebendig gebärenden Thieren, schon deshalb stark cenogenetisch
abgeändert, weil die volle Ausbildung des Keimes hier
längere Zeit innerhalb des mütterlichen Körpers
stattfindet. Wir müssen daher als zwei Hauptperioden der
individuellen Psychogenie unterscheiden; I. die embryonale und II. die
postembryonale Entwickelungsgeschichte der Seele.
Embryonale Psychogenie. Der menschliche Keim oder Embryo
entwickelt sich normaler Weise im Mutterleibe während des
Zeitraums von neun Monaten (oder 270 Tagen). Während dieses
Zeitraums ist er vollkommen von der Außenweilt abgeschlossen
und nicht allein durch die dicke Muskelwand des mütterlichen
Fruchtbehälters (Uterus) geschützt, sondern auch
durch die besonderen Fruchthüllen (Embryolemmen)
welche allen drei höheren Wirbelthier-Klassen gemeinsam
zukommen, den Reptilien, Vögeln und Säugethieren. Bei
allen drei Amnioten-Klassen entwickeln sich diese Fruchthüllen
(Amnion oder Wasserhaut und Serolemma oder
seröse Haut) genau in derselben Weise. Es sind das Schutz-Einrichtungen, welche von den ältesten Reptilien (Proreptilien),
den gemeinsamen Stammformen der Amnioten, erst in der Perm-Periode (gegen Ende des paläozoischen Zeitalters) erworben
wurden, als diese höheren Wirbelthiere sich an das
beständige Landleben und die Luftathmung gewöhnten. Ihre
vorhergehenden Ahnen, die Amphibien der Steinkohlen-Periode, lebten
und athmeten noch im Wasser, wie ihre älteren Vorfahren, die
Fische.
Bei diesen älteren und niederen wasserbewohnenden
Wirbelthieren besaß die Keimesgeschichte noch in viel
höherem Grade den palingenetischen Charakter, wie es auch noch
bei den meisten Fischen und Amphibien der Gegenwart der Fall ist. Die
bekannten Kaulquappen, die Larven der Salamander und Frösche,
bewahren noch heute in der ersten Zeit ihres freien Wasserlebens den
Körperbau ihrer Fisch-Ahnen; sie gleichen ihnen auch in der
Lebensweise, in der Kiemenathmung, in der Funktion ihrer Sinnes-Organe und ihrer anderen Seelen-Organe. Erst wenn die interessante
Metamorphose der schwimmenden Kaulquappen eintritt, und wenn sie
sich an das Landleben gewöhnen, verwandelt sich ihr
fischähnlicher Körper in das vierfüßige,
kriechende Amphibium; an die Stelle der Kiemen-Athmung im Wasser
tritt die ausschließliche Luftathmung durch Lungen, und mit der
veränderten Lebensweise erlangt auch der Seelen-Apparat,
Nervensystem und Sinnes-Organe, einen höheren Grad der
Ausbildung. Wenn wir die Psychogenie der Kaulquappen von Anfang bis
zu Ende vollständig verfolgen könnten, würden wir
das biogenetische Grundgesetz vielfach auf die Entwickelung ihrer Seele
anwenden können. Denn sie entwickeln sich unmittelbar unter
den wechselnden Bedingungen der Außenwelt und müssen
diesen frühzeitig ihre Empfindung und Bewegung anpassen. Die
schwimmende Kaulquappe besitzt nicht nur die Organization, sondern
auch die Lebensweise und Seelenthätigkeit des Fisches und
erlangt erst durch ihre Verwandlung diejenige des Frosches.
Beim Menschen wie bei allen anderen Amnioten ist das nicht der Fall;
ihr Embryo ist schon durch den Einschluß in die schützenden
Eihüllen dem direkten Einflusse der Außenwelt entzogen und
jeder Wechselwirkung mit derselben entwöhnt. Außerdem
aber bietet die besondere Brutpflege der Amnionthiere ihrem
Keime viel günstigere Bedingungen für cenogenetische
Abkürzung der palingenetischen Entwickelung. Vor Allem
gehört dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; sie
geschieht bei den Reptilien, Vögeln und Monotremen (bei
eierlegenden Säugethieren) durch den großen gelben
Nahrungsdotter, welcher dem Ei beigegeben ist, bei den übrigen
Mammalien hingegen (Beutelthieren und Zottenthieren) durch das Blut
der Mutter, welches durch die Blutgefäße des Dottersackes
und der Allantois dem Keime zugeführt wird. Bei den
höchstentwickelten Zottenthieren (Placentalia) hat
diese zweckmäßige Ernährungsform durch Ausbildung
des Mutterkuchens (Placenta) den höchsten Grad der
Vollkommenheit erreicht; daher ist der Embryo schon vor der Geburt
hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber befindet sich
während dieser ganzen Zeit im Zustande des Keimschlafes,
einem Ruhezustande, welchen Preyer mit Recht dem
Winterschlafe der Thiere verglichen hat. Einen gleichen, lange
dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzustande jener Insekten,
welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen (Schmetterlinge,
Immen, Fliegen, Käfer u. s. w.). Hier ist der Puppenschlaf,
während dessen die wichtigsten Umbildungen der Organe und
Gewebe vor sich gehen, um so interessanter, als der vorhergehende
Zustand der frei lebenden Larve (Raupe, Engerling oder Made) ein sehr
entwickeltes Seelenleben besitzt, und als dieses bedeutend unter
derjenigen Stufe steht, welche später (nach dem Puppenschlaf)
das vollendete, geflügelte und geschlechtsreife Insekt zeigt.
Postembryonale Psychogenie. Die Seelenthätigkeit des
Menschen durchläuft während seines individuellen Lebens,
ebenso wie bei den meisten höheren Thieren, eine Reihe von
Entwickelungsstufen; als die wichtigsten derselben können wir
wohl folgende fünf Haupt-Abschnitte unterscheiden: 1. die Seele
des Neugeborenen bis zum Erwachen des Selbstbewußtseins und
zum Erlernen der Sprache, 2. die Seele des Knaben und des
Mädchens bis zur Pupertät (zum Erwachen des
Geschlechtstriebes), 3. die Seele des Jünglings und der Jungfrau bis
zum Eintritt der sexuellen Verbindung (die Periode der "Ideale"), 4. der
Seele des erwachsenen Mannes und der reifen Frau (Periode der vollen
Reife und der Familien-Gründung, beim Manne meistens bis
ungefähr zum sechzigsten, beim Weibe bis zum fünfzigsten
Lebensjahre, bis zum Eintritt der Involution), 5. die Seele des Greises
und der Greisin (Periode der Rückbildung). Das Seelenleben des
Menschen durchläuft also dieselben Entwickelungsstufen der
aufsteigenden Fortbildung, der vollen Reife und der absteigenden
Rückbildung wie jede andere Lebensthätigkeit des
Organismus.
Neuntes Kapitel
Stammesgeschichte der Seele.
Monistische Studien über phylogenetische Psychologie.
Entwickelung des Seelenlebens in der thierischen Ahnenreihe des
Menschen.
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Inhalt: Stufenweise historische Entwickelung der Menschenseele
aus der Thierseele. Methoden der phylogenetischen Psychologie. Vier
Hauptstufen in der Stammesgeschichte der Seele. I. Zellseele
(Cytopsyche) der Protisten (Infusorien, Eizelle), Cellular-Psychologie. II.
Zellvereins-Seele oder Cönobial-Psyche (Cönopsyche).
Psychologie der Morula und der Blastula. III. Gewebe-Seele
(Histopsyche). Ihre Duplicität. Pflanzenseele. Seele von
nervenlosen niederen Thieren. Doppelseele der Siphonophoren
(Personal-Seele und Kormal-Seele). IV. Nervenseele (Neuropsyche) bei
höheren Thieren. Drei Bestandtheile ihres Seelen-Apparates:
Sinnesorgane, Muskeln und Nerven. Typische Bildung des
Nervenzentrums in den verschiedenen Thierstämmen.
Seelenorgan der Wirbelthiere: Markrohr oder Medullarohr (Gehirn und
Rückenmark). Seelen-Geschichte der Säugethiere.
Die Descendenz-Theorie in Verbindung mit der Anthropologie hat uns
überzeugt, daß unser menschlicher Organismus aus einer
langen Reihe thierischer Vorfahren durch allmähliche Umbildung
um Laufe vieler Jahr-Millionen langsam und stufenweise sich entwickelt
hat. Da wir nun das Seelenleben des Menschen von seinen übrigen
Seelenthätigkeiten nicht trennen können, vielmehr zu der
Ueberzeugung von der einheitlichen Entwickelung unseres ganzen
Körpers und Geistes gelangt sind, so ergiebt sich auch für die
moderne monistische Psychologie die Aufgabe, die historische
Entwickelung der Menschenseele aus der Thierseele stufenweise zu
verfolgen. Die Lösung dieser Aufgabe versucht unsere
"Stammesgeschichte der Seele" oder die Phylogenie der Psyche;
man kann sie auch, als Zweig der allgemeinen Seelenkunde, mit dem
Namen der phylogenetischen Psychologie oder - im Gegensatze
zur biontischen (individuellen) - als phyletische
Psychogenie bezeichnen. Obgleich diese neue Wissenschaft noch
kaum ernstlich in Angriff genommen ist, obgleich selbst ihre Existenz-Berechtigung von den meisten Fach-Psychologen bestritten wird,
müssen wir für sie dennoch die allerhöchste
Wichtigkeit und das größte Interesse in Anspruch nehmen.
Denn nach unserer festen Ueberzeugung ist sie vor Allem berufen, uns
das große "Welträthsel" vom Wesen und der Entstehung
unserer Seele zu lösen.
Methoden der phyletischen Psychogenie. Die Mittel und Wege,
welche zu dem weit entfernten, im Nebel der Zukunft für Viele
noch kaum erkennbaren Ziele der phylogenetischen Psychologie
hinführen sollen, sind von denjenigen anderer
stammesgeschichtlicher Forschungen nicht verschieden. Vor Allem ist
auch hier die vergleichende Anatomie, Physiologie und Ontogenie von
höchstem Werthe. Aber auch die Paläontologie liefert uns
eine Anzahl von sicheren Stützpunkten; denn die Reihenfolge, in
welcher die versteinerten Ueberreste der Vertebraten-Klassen nach
einander in den Perioden der organischen Erdgeschichte auftreten,
offenbart uns theilweise, zugleich mit deren phyletischem
Zusammenhang, auch die stufenweise Ausbildung ihrer
Seelenthätigkeit. Freilich sind wir hier, wie überall bei
phylogenetischen Untersuchungen, zur Bildung zahlreicher Hypothesen
gezwungen, welche die empfindlichen Lücken der empirischen
Stammesurkunden ausfüllen; aber dennoch werfen die letzteren
ein so helles und bedeutungsvolles Licht auf die wichtigsten
Abstufungen der geschichtlichen Entwickelung, daß wir eine
befriedigende Einsicht in deren allgemeinen Verlauf gewinnen
können.
Hauptstufen der phyletischen Psychogenie. Die vergleichende
Psychologie des Menschen und der höheren Thiere läßt
uns zunächst in den höchsten Gruppen der placentalen
Säugethiere, bei den Herrenthieren (Primates), die
wichtigen Fortschritte erkennen, durch welche die Menschen-Seele aus
der Psyche der Menschen-Affen (Anthropomorpha)
hervorgegangen ist. Die Phylogenie der Säugethiere und
weiterhin der niederen Wirbelthiere zeigt uns die lange Reihe der
älteren Vorfahren der Primaten, welche innerhalb dieses Stamms
seit der Silur-Zeit sich entwickelt haben. Alle diese Vertebraten
stimmen überein in der Struktur und Entwickelung ihres
charakteristischen Seelen-Organs, des Markrohrs. Daß dieses
"Medullar-Rohr" sich aus einem dorsalen Akroganglion oder
Scheitelhirn wirbelloser Vorfahren hervorgebildet hat, lehrt uns
die vergleichende Anatomie der Wurmthiere oder Vermalien.
Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende
Ontogenie, daß dieses einfache Seelenorgan aus der Zellenschicht
des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von
Platodarien entstanden ist; bei diesen ältesten
Plattenthieren, die noch kein gesndertes Nervensystem besitzen, wirkt
die äußere Hautdecke als universales Sinnes- und Seelen-Organ. Durch die vergleichende Keimesgeschichte überzeugen wir
uns endlich, daß diese einfachsten Metazoen durch Gastrulation aus
Blastäaden entstanden sind, aus Hohlkugeln, deren
Wand eine einfache Zellenschicht bildete, das Blastoderm;
zugleich lernen wir durch dieselbe mit Hülfe des biogenetischen
Grundgesetzes verstehen, wie diese Protozoen-Cönobien
ursprünglich aus einfachsten einzelligen Urthieren
hervorgegangen sind.
Durch kritische Deutung dieser verschiedenen Keimbildungen, deren
Entstehung aus einander wir unmittelbar durch mikroskopische
Beobachtung verfolgen können, erhalten wir mittelst
unseres biogenetischen Grundgesetzes die wichtigsten Aufschlüsse
über die Hauptstufen in der Stammesgeschichte unseres
Seelenlebens; wir können deren zunächst acht
unterscheiden: 1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellseele:
Infusorien; 2. vielzellige Protozoen mit Cönobial-Seele: Katallakten; 3. älteste Metazoen mit
Ephithelial-Seele: Platodarien; 3. wirbelose Ahnen mit
einfachem Scheitelhirn: Vermalien; 5. schädellose
Wirbelthiere mit einfachem Markrohr, ohne Gehirn;
Akranier; 6. Schädelthiere mit Gehirn (aus fünf
Hirnblasen entstanden): Kranioten; 7. Säugethiere mit
überwiegend entwickelter Großhirnrinde:
Placentalien; 8. höhere Menschen-Affen und Menschen, mit
Denkorganen (im Principalhirn): Anthropomorphen. Unter
diesen acht Hauptstufen in der Stammesgeschiche der menschlichen
Psyche lassen sich weiterhin noch eine Anzahl von untergeordneten
Entwickelungsstufen mit mehr oder weniger Klarheit unterscheiden.
Selbstverständlich sind wir aber bei deren Rekonstruktion auf
diejenigen lückenhaften Zeugnisse der empirischen Psychologie
angewiesen, welche uns die vergleichende Anatomie und Physiologie
der gegenwärtigen Fauna an die Hand giebt. Da die
Schädelthiere der sechsten Stufe, und zwar echte Fische, sich
schon im silurischen System versteinert finden, sind wir zu der Ansicht
gezwungen, daß die fünf vorhergehenden (der Versteinerung
nicht fähigen!) Ahnen-Stufen sich schon in früherer,
präsilurischer Zeit entwickelt haben.
I. Die Zellseele (Cytopsyche); erste Hauptstufe der
phyletischen Psychogenesis. Die ältesten Vorfahren des
Menschen, wie aller übrigen Thiere, waren einzellige
Urthiere (Protozoa). Diese Fundamental-Hypothese der
rationellen Phylogenie ergiebt sich nach dem biogenetischen
Grundgesetze aus der bekannten embryologischen Thatsache,
daß jeder Mensch, wie jedes andere Metazoon (jedes
vielzellige "Gewebethier"), im Beginne seiner individuellen Existenz eine
einfache Zelle ist, die "Stammzelle" (Cytula) oder die
"befruchtete Eizelle" (vergl. S. 80). Wie diese letztere schon von Anfang
an "beseelt" war, so auch jene entsprechende einzellige
Stammform, welche in der ältesten Ahnen-Reihe des
Menschen durch eine Kette von verschiedenen Protozoen
vertreten war.
Ueber die Seelenthätigkeit dieser einzelligen Organismen
unterrichtet uns die vergleichende Physiologie der heute noch lebenden
Protisten; sowohl genaue Beobachtung als sinnreiches Experiment haben
uns hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein neues
Gebiet voll höchst interessanter Erscheinungen eröffnet. Die
beste Darstellung derselben hat 1889 Max Verworn gegeben, in
seinen gedankenreichen, auf eigene originelle Versuche gestützten
"Psychophysiologischen Protisten-Studien". Auch die wenigen
älteren Beobachtungen über "das Seelenleben der Protisten"
sind darin zusammengestellt. Verworn gelangte zu der festen
Ueberzeugung, daß bei allen Protisten die psychischen
Vorgänge noch unbewußt sind, daß die
Vorgänge der Empfindung und Bewegung hier noch mit den
molekularen Lebensprocessen im Plasma selbst zusammenfallen, und
daß ihre letzten Ursachen in den Eigenschaften der Plasma-Moleküle (der Plastidule) zu suchen sind. "Die psychischen
Vorgänge im Protistenreich sind daher die Brücke, welche
die chemischen Processe in der unorganischen Natur mit dem
Seelenleben der höchsten Thiere verbindet; sie
repräsentiren den Keim der höchsten psychischen
Erscheinungen bei den Metazoen und dem Menschen."
Die sorgfältigen Beobachtungen und zahlreichen Experimente von
Verworn, im Verein mit denjenigen von Wilhelm
Engelmann, Wilhelm Preyer, Richard Hertwig und
anderen neueren Protisten-Forschern, liefern die bündigen
Beweise für meine monistische "Theorie der Zellseele"
(1866). Gestützt auf eigene langjährige Untersuchungen von
verschiedenen Protisten, besonders von Rhizopoden und Infusorien,
hatte ich schon vor 33 Jahren den Satz aufgestellt, daß jede
lebendige Zelle psychische Eigenschaften besitzt, und daß also auch
das Seelenleben der vielzelligen Thiere und Pflanzen nichts Anderes ist
als das Resultat der psychischen Funktionen der ihren Leib
zusammensetzenden Zellen. Bei den niederen Gruppen (z. B. Algen und
Spongien) sind alle Zellen des Körpers
gleichmäßig (oder mit geringen Unterschieden) daran
betheiligt; in den höheren Gruppen dagegen, entsprechend den
Gesetzen der Arbeitstheilung, nur ein auserlesener Theil derselben, die
"Seelenzellen". die bedeutungsvollen Konsequenzen dieser "Cellular-Psychologie" hatte ich theils 1876 in meiner Schrift über die
"Perigenesis der Pladistule" erörtert, theils 1877 in meiner
Münchener Rede "über die heutige Entwickelungslehre im
Verhältniß zur Gesammtwissenschaft". Eine mehr
populäre Darstellung derselben enthalten meine beiden Wiener
Vorträge (1878) "über Ursprung und Entwickelung der
Sinneswerkzeuge" und "über Zellseelen und Seelenzellen".
Die einfache Zellseele zeigt übrigens schon innerhalb des
Protistenreiches eine lange Reihe von Entwickelungsstufen, von ganz
einfachen, primitiven bis zu sehr vollkommenen und hohen Seelen-Zuständen. Bei den ältesten und einfachsten Protisten ist das
Vermögen der Empfindung und Bewegung gleichmäßig
auf das ganze Plasma des homogenen Körperchens vertheilt; bei
den höheren Formen dagegen sondern sich als physiologische
Organe derselben besondere "Zellwerkzeuge" oder Organelle.
Derartige motorische Zelltheile sind die Pseudopodien der Rhizopoden,
die Flimmerhaare, Geißeln und Wimpern der Infusorien. Als ein
inneres Central-Organ des Zellenlebens wird der Zellkern betrachtet,
welcher den ältesten und niedersten Protisten noch fehlt. In
physiologisch-chemischer Beziehung ist besonders hervorzuheben,
daß die ursprünglichsten und ältesten Protisten
Plasmodomen waren, mit pflanzlichem Stoffwechsel, also
Protophyten oder "Urpflanzen"; aus ihnen entstanden erst
sekundär durch Metasitismus, die ersten Plasmophagen,
mit thierischen Stoffwechsel, also Protozoen oder "Urthiere".
Dieser Metasitismus, die "Umkehrung des Stoffwechsels",
bedeutete einen wichtigen physiologischen Fortschritt; denn damit
begann die Entwickelung jener charakteristischen Vorzüge der
Thierseele, welche der Pflanzenseele noch fehlen.
Die höchste Ausbildung der thierischen Zellseele treffen wir in der
Klasse der Ciliaten oder Wimper-Infusorien. Wenn wir
dieselbe mit den entsprechenden Seelenthätigkeiten höherer
vielzelliger Thiere vergleichen, so scheint kaum ein psychologischer
Unterschied zu bestehen; die sensiblen und motorischen Organelle jener
Protozoen scheinen dasselbe zu leisten wie die Sinnesorgane, Nerven
und Muskeln dieser Metazoen. Man hat sogar in dem großen
Zellkern (Meganucleus) der Infusorien ein Central-Organ der
Seelenthätigkeit erblickt, welches in ihrem einzelligen Organismus
eine ähnliche Rolle spiele wie das Gehirn im Seelenleben
höherer Thiere. Indessen ist sehr schwer zu entscheiden, wie weit
diese Vergleiche berechtigt sind; auch gehen darüber die
Ansichten der speciellen Infusorien-Kenner weit auseinander. Die Einen
fassen alle spontanen Körperbewegungen derselben als
automatische oder impulsive, alle Reiz-Bewegungen als Reflexe auf; die
Anderen erblicken darin theilweise willkürliche und absichtliche
Bewegungen. Während die Letzteren den Infusorien bereits ein
gewisses Bewußtsein, eine einheitliche Ich-Vorstellung
zuschreiben, wird diese von den Ersteren geleugnet. Gleichviel, wie man
diese höchst schwierige Frage entscheiden will, so steht doch
soviel fest, daß uns diese einzelligen Protozoen eine
hochentwickelte Zellseele zeigen, welche für die richtige
Beurtheilung der Psyche unserer ältesten einzelligen Vorfahren
von höchstem Interesse ist.
II. Zellvereins-Seele oder Cönobial-Psyche
(Coenopsyche); zweite Hauptstufe der phyletischen
Psychogenesis. Die individuelle Entwickelung beginnt beim
Menschen wie bei allen anderen vielzelligen Thieren mit der
wiederholten Theilung einer einfachen Zelle. Die Stammzelle
(Cytula) oder die "befruchtete Eizelle" zerfällt durch den
Vorgang der gewöhnlichen indirekten Zelltheilung zunächst
in zwei Tochterzellen; indem dieser Vorgang sich wiederholt, entstehen
(bei der "äqualen Eifurchung") nach einander 4, 8, 16, 32, 64
gleiche "Furchungszellen oder Blastomeren". Gewöhnlich (d. h. bei
der Mehrzahl der Thiere) tritt an die Stelle dieser ursprünglichen,
gleichmäßigen Zelltheilung früher oder später
dasselbe: die Bildung eines (meist kugelförmigen) Haufens oder
Ballens von indifferenten (ursprünglich gleichartigen) Zellen. Wir
nennen diesen Zustand den Maulbeerkeim (Morula; vgl.
Anthropogenie S. 57). Gewöhnlich sammelt sich dann im Innern
dieses maulbeerförmigen Zellen-Aggregates Flüssigkeit an;
es verwandelt sich in Folge dessen in ein kugeliges Bläschen; alle
Zellen treten an dessen Oberfläche und ordnen sich in eine
einfache Zellenschicht, die Keimhaut (Blastoderma). Die so
entstandene Hohlkugel ist der bedeutungsvolle Zustand der
Keimblase (Blastula oder Blastosphaera,
Anthropogenie S. 57).
Die psychologischen Thatsachen, welche wir unmittelbar bei der
Bildung der Blastula beobachten können, sind theils Bewegungen,
theils Empfindungen dieses Zellvereins. Die Bewegungen zerfallen
in zwei Gruppen: 1. die inneren Bewegungen, welche überall in
wesentlich gleicher Weise beim Vorgange der gewöhnlichen
(indirekten) Zelltheilung sich wiederholen (Bildung der Kernspindel,
Mitose, Karyokinese u. s. w.); 2. die äußeren Bewegungen,
welche in der gesetzmäßigen Lage-Veränderung der
geselligen Zellen und ihrer Gruppirung bei Bildung des Blastoderms zu
Tage treten. Wir fassen diese Bewegungen als heredive und
unbewußte auf, weil sie überall in gleicher Weise durch
Vererbung von den älteren Ahnenreihen der Protisten bedingt
sind. Die Empfindungen können ebenfalls in zwei Gruppen
unterschieden werden: 1. die Empfindungen der einzelnen Zellen, welche
sich in der Behauptung ihrer individuellen Selbstständigkeit und
ihrem Verhalten gegen die Nachbar-Zellen äußern (mit denen
sie in Kontakt und theilweise durch Plasma-Brücken in direkter
Verbindung stehen); 2. die einheitliche Empfindung des ganzen
Zellvereins oder Cönobiums, welche in der individuellen
Gestaltung der Blastula als Hohlkugel zu Tage tritt
(Anthropogenie S. 491).
Das kausale Verständniß der Blastula-Bildung liefert
uns das biogenetische Grundgesetz, indem es die unmittelbar zu
beobachtenden Erscheinungen derselben durch die Vererbung
erklärt und auf entsprechende historische Vorgänge
zurückführt, welche sich ursprünglich bei der
Entstehung der ältesten Protisten-Cönobien, der
Blastäaden, vollzogen haben (Syst. Phyl. III, 22-26). Die
physiologische und psychologische Einsicht in diese wichtigen Prozesse
der ältesten Zellen-Associon gewinnen wir aber durch
Beobachtung und Experiment an den heute noch lebenden
Cönobien. Solche beständige Zellvereine oder
Zellhorden (auch als Zellkolonien, Zellgemeinden oder
Zellstöckchen bezeichnet) sind noch heute sehr verbreitet, sowohl
unter den plasmodomen Urpflanzen (z. B. Paulomeen, Diatomeen,
Volvocinen) als unter den plasmaphagen Urthieren (Infusorien
und Rhizopoden). In allen diesen Cönobien können wir
bereits neben einander zwei verschiedene Stufen der psychischen
Thätigkeit unterscheiden: I. die Zellseele der einzelnen Zell-Individuen (als "Elementar-Organismen") und II. die
Cönobialseele des ganzen Zellvereins.
III. Gewebe-Seele (Histopsyche); dritte Hauptstufe der
phyletischen Psychogenesis. Bei allen vielzelligen und
gewebebildenden Pflanzen (den Metaphyten oder Gewebe-Pflanzen) und ebenso bei den niedersten, nervenlosen Klassen der
Gewebethiere (Metazoen) haben wir zunächst zwei
verschiedene Formen der Seelenthätigkeit zu unterscheiden,
nämlich A. die Psyche der einzelnen Zellen, welche die
Gewebe zusammensetzen, und B. die Psyche der Gewebe selbst
oder des "Zellenstaates", welcher von diesen gebildet wird. Diese
Gewebe-Seele ist überall die höhere psychologische
Funktion, welche den zusammengesetzten vielzelligen Organismus als
einheitliches Bion oder "physiologisches Individuum", als
wirklichen "Zellenstaat" erscheinen läßt. Sie beherrscht alle
die einzelnen "Zellseelen" der socialen Zellen, welche als abhängige
"Staatsbürger" den einheitlichen Zellenstaat konstituiren. Diese
fundamentale Duplicität der Psyche bei den Metaphyten
und bei den niederen, nervenlosen Metazoen ist sehr wichtig; sie wird
durch unbefangene Beobachtung und passenden Versuch unmittelbar
bewiesen: erstens besitzt jede einzelne Zelle ihre eigene Empfindung und
Bewegung, und zweitens zeigt jedes Gewebe und jedes Organ, das aus
einer Zahl gleichartiger Zellen sich zusammensetzt, seine besondere
Reizbarkeit und psychische Einheit (z. B. Pollen und
Staubgefäße).
III. A. Die Pflanzen-Seele (Phytopsyche) ist für uns der
Inbegriff der gesammten psychischen Thätigkeit der
gewebebildenden, vielzelligen Pflanzen (Metaphyten, nach
Ausschluß der einzelligen Protophyten); sie ist Gegenstand
der verschiedensten Beurtheilung bis auf den heutigen Tag geblieben.
Früher fand man gewöhnlich einen Hauptunterschied
zwischen Pflanzen und Thieren darin, daß man den letzteren
allgemein eine "Seele" zuschrieb, den ersteren dagegen nicht. Indessen
führte unbefangene Vergleichung der Reizbarkeit und der
Bewegungen bei verschiedenen höheren Pflanzen und niederen
Thieren schon im Anfange des 19. Jahrhunderts einzelne Forscher zu der
Ueberzeugung, daß beide gleichmäßig beseelt sein
müßten. Später traten namentlich Fechner,
Leitgeb u. A. lebhaft für die Annahme einer "Pflanzen-Seele" ein. Tieferes Verständniß derselben wurde erst
erworden, nachdem durch die Zellentheorie (1838) die gleiche
Elementar-Struktur in Pflanzen und Thieren nachgewiesen, und
besonders seitdem durch die Plasma-Theorie von Max
Schultze (1859) das gleiche Verhalten des aktiven, lebendigen
Protoplasten in beiden erkannt worden war. Die neuere vergleichende
Physiologie (seit 30 Jahren) zeigte sodann, daß das physiologische
Verhalten gegen verschiedene Reize (Licht, Elektricität,
Wärme, Schwere, Reibung, chemische Einflüsse u. s. w.) in
den "empfindlichen" Körpertheilen vieler Pflanzen und
Thiere ganz ähnlich ist, und daß auch die Reflex-Bewegungen, die jene Reize hervorrufen, ganz ähnlichen
Verlauf haben. Wenn man daher diese Thätigkeiten bei den
niederen, nervenlosen Metazoen (Schwämmen, Polypen) einer
besondere "Seele" zuschrieb, so war man berechtigt, dieselbe auch bei
vielen (oder eigentlich allen) Metaphyten anzunehmen, mindestens bei
den sehr "empfindlichen" Sinnpflanzen (Mimosa), den
Fliegenfallen (Dionaea, Drosera) und den zahlreichen
rankenden Kletter- und Schlingpflanzen.
Allerdings hat nun die neuere Pflanzen-Physiologie viele dieser
"Reizbewegungen" oder Tropismen rein physikalisch
erklärt, durch besondere Verhältnisse des Wachsthums,
durch Turgor-Schwankungen u. s. w. Allein diese mechanischen
Ursachen sind nicht mehr und nicht minder psychophysisch als
die ähnlichen "Reflex-Bewegungen" bei Spongien, Polypen und
anderen nervenlosen Metazoen, selbst wenn der Mechanismus
derselben hier wesentlich verschieden ist. Der Charakter der
Histospyche oder Gewebe-Seele zeigt sich in beiden
Fällen gleichmäßig darin, daß die Zellen des
Gewebes (des gesetzmäßig geordneten Zellverbandes) die von
einem Theile empfangenen Reize fortleiten und dadurch Bewegungen
anderer Theile oder des ganzen Organs hervorrufen. Diese
Reizleitung kann hier ebenso als "Seelenthätigkeit"
bezeichnet werden wie die vollkommenere Form derselben bei den
Nerventhieren; sie erklärt sich anatomisch dadurch daß die
socialen Zellen des Gewebes oder Zellverbandes nicht (wie man
früher glaubte) getrennt an einander liegen, sondern überall
durch feine Plasmafäden oder Brücken
zusammenhängen. Wenn die empfindlichen Sinnpflanzen
(Mimosen) bei der Berührung oder Erschütterung ihre
ausgebreiteten Fiederblättchen schließen und die Blattstiele
herabsenken, wenn die reizbare Fliegenfalle (Dionaea) bei der
Berührung ihrer Blätter diese rasch zusammenklappt und
die Fliege fängt, so erscheint die Empfindung lebhafter, die
Reizleitung schneller und die Bewegung energischer als die Reflex-Reaktion des gereizten Badeschwammes und vieler anderer Spongien.
III. B. Die Seele nervenloser Metazoen. Von ganz besonderem
Interesse für die vergleichende Psychologie im Allgemeinen und
für die Phylogenie der Thierseele im Besonderen ist die
Seelenthätigkeit jener niederen Metazoen, welche zwar
Gewebe und oft bereits differenzirte Organe besitzen, aber weder
Nerven noch spezifische Sinnesorgane. Dahin gehören vier
verschiedene Gruppen von ältesten Cölenterien oder
Niederthieren, nämlich: 1. die Gasträaden, 2. die
Platodarien, 3. die Spongien und 4. die
Hydropolypen, die niedersten Formen der Nesselthiere.
Die Gasträaden oder Urdarmthiere bilden jene kleine
Gruppe von niedersten Cölenterien, welche als die gemeinsame
Stammgruppe aller Metazoen von höchster Wichtigkeit ist. Der
Körper dieser kleinen, schwimmenden Thierchen erscheint als ein
kleines (meist eiförmiges) Bläschen, welche eine einfache
Höhle mit einer Oeffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die
Wand der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen
Zellenschichten oder Epithelien gebildeet, von denen die innere
(Darmblatt) die vegetalen Thätigkeiten der Ernährung, und
die äußere (Hautblatt) die animalen Funktionen der
Bewegung und Empfindung vermittelt. Die gleichartigen sensiblen Zellen
dieses Hautblattes tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren
Schwingungen die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die
wenigen noch lebenden Formen der Gasträaden, die
Gastremarien (Trichoplaciden) und Cyemarien
(Orthonectiden), sind deshalb so interessant, weil sie zeitlebens
auf derselben Bildungsstufe stehen bleiben, welche die Keime aller
übrigen Metazoen (von den Spongien bis zum Menschen hinauf)
im Beginne ihrer Keimes-Entwickelung durchlaufen. Wie ich in meiner
Gasträa-Theorie (1872) gezeigt habe, entsteht bei
sämmtlichen Gewebethieren zunächst aus der vorher
betrachteten Blastula (S. 180) eine höchst charakteristische
Keimform, die Gastrula. Die Keimhaut (Blastoderma),
welche die Wand der Hohlkugel darstellt, bildet an einer Seite eine
grubenförmige Vertiefung, und diese wird bald zu einer so tiefen
Einstülpung, daß der innere Hohlraum der Keimblase
verschwindet. Die eingestülpte (innere) Hälfte der Keimhaut
legt sich an die äußere (nicht eingestülpte) Hälfte
innen an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere
Keimblatt (Ektoderm, Epiblast). Der neu entstandene
Hohlraum des becherförmigen Körpers ist die verdauende
Magenhöhle, der Urdarm (Progaster), seine Oeffnung
der Urmund (Prostoma). Das Hautblatt oder Ektoderm ist
bei allen Metazoen das ursprüngliche "Seelenorgan"; denn
aus ihm entwickeln sich bei sämmtlichen Nerventhieren nicht nur
die äußere Hautdecke und die Sinnesorgane, sondern auch
das Nervensystem. Bei den Gasträaden,welche letzteres noch nicht
besitzen, sind alle Zellen, welche die einfache Epithelschicht des
Ektoderm zusammensetzen, gleichmäßig Organe der
Empfindung und Bewegung; die Gewebe-Seele zeigt sich hier in
einfachster Form.
Dieselbe primitive Bildung scheinen auch noch die Platodarien zu
besitzen, die ältesten und einfachsten Formen der
Plattenthiere (Platodes). Einige von diesen
Kryptocölen (Convoluta u. s. w.) haben noch kein gesondertes
Nervensystem, während dasselbe bei ihren
nächstverwandten Epigonen, den Strudelwürmern
(Turbellaria), bereits von der Hautdecke sich abgesondert und ein
einfaches Scheitelhirn entwickelt hat.
Die Spongien oder Schwammthiere stellen einen
selbstständigen Stamm des Thierreichs dar, der sich von allen
anderen Metazoen durch seine eigenthümliche Organisation
unterscheidet; die sehr zahlreichen Arten desselben sitzen meistens auf
dem Meeresboden angewachsen. Die einfachste Form der
Schwämme, Olynthus, ist eigentlich nichts weiter als eine
Gastraea, deren Körperwand siebförmig von feinen
Poren durchbrochen ist, zum Eintritt des ernährenden
Wasserstromes. Bei den meisten Spongien (auch beim bekanntesten,
dem Badeschwamm) bildet der knollenförmige Körper eine
Stock oder Kormus, welcher aus Tausenden solcher Gasträaden
("Geißelkammern") zusammengesetzt und von einem
ernährenden Kanal-System durchzogen ist. Empfindung und
Bewegung sind bei den Schwammthieren nur in äußerst
geringem Maße entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln
fehlen. Es war daher sehr natürlich, daß man diese
festsitzenden, unförmigen und unempfindlichen Thiere
früher allgemein als "Gewächse" betrachtete. Ihr
Seelenleben (für welches keine besonderen Organe differenzirt
sind) steht tief unter demjenigen der Mimosen und anderer
empfindlicher Pflanzen.
Die Seele der Nesselthiere (Cnidaria) ist für die
vergleichende und phylogenetische Psychologie von ganz
hervorragender Bedeutung. Denn in diesem formenreichen Stamm der
Cölenterien vollzieht sich vor unseren Augen die historische
Entstehung der Nervenseele aus der Gewebeseele. Es
gehören zu diesem Stamme die vielgestaltigen Klassen der
festsitzenden Polypen und Korallen, der schwimmenden Medusen und
Siphonophoren. Als gemeinsame hypothetische Stammform aller
Nesselthiere läßt sich mit voller Sicherheit ein einfachster
Polyp erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden
Süßwasser-Polypen (Hydra) im Wesentlichen gleich
gebaut war. Nun besitzen aber diese Hydra und ebenso die
festsitzenden, nahe verwanten Hydropolypen noch keine Nerven
und höheren Sinnesorgane, obgleich sie sehr empfindlich sind.
Dagegen die frei schwimmenden Medusen, welche sich aus
letzteren entwickeln (und noch heute mit ihnen durch
Generationswechsel verknüpft sind), besitzen bereits ein
selbstständiges Nerven-System und gesonderte Sinnesorgane. Wir
können also hier den historischen Ursprung der
Nervenseele (Neurospyche) aus der Gewebeseele
(Histospyche) unmittelbar ontogenetisch beobachten und
phylogenetisch verstehen lernen. Diese Erkenntniß ist um so
interessanter, als jene bedeutungsvollen Vorgänge
polyphyletisch sind, d. h. sich mehrmals (mindestens zweimal)
unabhängig von einander vollzogen haben. Wie ich nachgewiesen
habe, sind die Hydromedusen (oder Kraspedoten) entstanden aus
den Skyphopolypen; der Knospungsvorgang ist bei den letzteren
terminal, bei den ersteren lateral. Auch zeigen beide Gruppen
charakterische erbliche Unterschiede im feineren Bau ihrer Seelen-Organe. Sehr interessant ist für die Psychologie auch die Klasse der
Staatsquallen (Siphonophorae). An diesen prächtigen,
frei schwimmenden Thierstöcken, welche von Hydromedusen
abstammen, können wir eine Doppelseele beobachten: die
Einzelseele (Personal-Seele) der zahlreichen Personen, die ihn
zusammensetzen, und die gemeinsame, einheitlich thätige Psyche
des ganzen Stockes (Kormal-Seele). Vergl. "Zellseelen und
Seelenzellen" (Gem. Vortr. 1902, I.).
IV. Die Nerven-Seele (Neuropsyche); vierte Hauptstufe
der phyletischen Psychogenesis. Das Seelenleben aller
höheren Thiere wird, ebenso wie beim Menschen, durch einen
mehr oder minder komplicirten "Seelen-Apparat" vermittelt, und
dieser besteht immer aus drei Hauptbestandtheilen: die Sinnes-Organe bewirken die verschiedenen Empfindungen, die
Muskeln dagegen die Bewegungen; die Nerven stellen die
Verbindung zwischen ersteren und letzteren durch ein besonderes
Central-Organ her: Gehirn oder Ganglion (Nervenknoten).
Die Einrichtung und Thätigkeit dieses Seelen-Apparates pflegt
man mit einem elektrischen Telegraphen-System zu vergleichen; die
Nerven sind die Leitungsdrähte, das Gehirn die Central-Station, die
Muskeln und Sensillen die untergeordneten Lokal-Stationen. Die
motorischen Nervenfasern leiten die Willens-Befehle oder Impulse
centrifugal von diesem Nervencentrum zu den Muskeln und bewirken
durch deren Kontraktion Bewegungen; die sensiblen Nervenfasern
dagegen leiten die verschiedenen Empfindungen centripetal von den
peripheren Sinnesorganen zum Gehirn und statten Bericht ab von den
empfangenen Eindrücken der Außenwelt. Die Ganglienzellen
oder "Seelenzellen", welche das nervöse Central-Organ
zusammensetzen, sind die vollkommensten von allen organischen
Elementar-Theilen; denn sie vermitteln nicht nur den Verkehr zwischen
den Muskeln und Sinnesorganen, sondern auch die höchsten von
allen Leistungen der Thierseele, die Bildung von Vorstellungen und
Gedanken, an der Spitze von Allem das Bewußtsein.
Die großen Fortschritte der Anatomie und Physiologie, der
Histologie und Ontogenie haben in der Neuzeit unsere tiefere
Kenntniß des Seelen-Apparates mit einer Fülle der
interessantesten Entdeckungen bereichert. Wenn die spekulative
Philosophie auch nur die wichtigsten von diesen bedeutungsvollen
Erwerbungen der empirischen Biologie in sich aufgenommen hätte,
müßte sie heute schon eine ganz andere Physiognomie
zeigen, als es leider der Fall ist. Da eine eingehende Besprechung
derselben uns hier zu weit führen würde, beschränke
ich mich darauf, nur das Wichtigste hervorzuheben.
Jeder der höheren Thierstämme besitzt sein
eigenthümliches Seelen-Organ; in jedem ist das Central-Nervensystem durch eine besondere Gestalt, Lage und
Zusammensetzung ausgezeichnet. Unter den strahlig gebauten
Nesselthieren (Cnidaria) zeigen die Medusen einen
Nervenring am Schirmrande, meistens mit vier oder acht Ganglien
ausgestattet. Bei den fünfstrahligen Sternthieren
(Echinoderma) ist der Mund von einem Nervenring umgeben, von
welchem fünf Nervenstämme ausstrahlen. Die zweiseitig-symmetrischen Plattenthiere (Platodes) und
Wurmthiere (Vermalia) besitzen ein Scheitelhirn oder
Akroganglion, zusammengesetzt aus ein paar dorsalen, oberhalb des
Mundes gelegenen Ganglien; von diesen "oberen Schlundknoten" gehen
zwei seitliche Nerven-Stämme an die Haut und die Muskeln. Bei
einem Theile der Vermalien und bei den Weichthieren
(Mollusca) treten dazu noch ein paar ventrale "untere
Schlundknoten", welche sich mit den ersteren durch einen den Schlund
umfassenden Ring verbinden. Dieser "Schlundring" kehrt auch bei den
Gliederthieren (Articulata) wieder, setzt sich aber hier auf
der Bauchseite des langgestreckten Körpers in ein "Bauchmark"
fort, einen strickleiterförmigen Doppelstrang, welcher in jedem
Gliede zu einem Doppel-Ganglion anschwillt. Ganz entgegengesetzte
Bildung des Seelen-Organs zeigen die Wirbelthiere
(Vertebrata); hier findet sich allgemein auf der Rückenseite
des innerlich gegliederten Körpers ein Rückenmark
entwickelt; aus einer Anschwellung seines vorderen Theiles entsteht
später das charakteristische blasenförmige Gehirn.
Obgleich nun so die Seelen-Organe der höheren
Thierstämme in Lage, Form und Zusammensetzung sehr
charakteristische Verschiedenheiten zeigen, ist doch die vergleichende
Anatomie im Stande gewesen, für die meisten einen gemeinsamen
Ursprung nachzuweisen, aus dem Scheitelhirn der
Platoden und Vermalien; und allen gemeinsam ist die
Entstehung aus der äußersten Zellenschicht des Keimes, aus
dem "Hautsinnesblatt" (Ektoderm). Ebenso finden wir in
allen Formen der nervösen Centralorgane dieselbe wesentliche
Struktur wieder, die Zusammensetzung aus Ganglien-Zellen oder
"Seelenzellen" (den eigentlichen aktiven Elementar-Organen der
Psyche) und aus Nervenfasern, welche den Zusammenhang
und die Leitung der Aktion vermitteln.
Seelen-Organ der Wirbelthiere. Die erste Thatsache, welche
uns in der vergleichenden Psychologie der Vertebraten entgegentritt,
und welche der empirische Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen
Seelenlehre des Menschen sein sollte, ist der charakteristische Bau ihres
Central-Nervensystems. Wie dieses centrale Seelen-Organ in jedem der
höheren Thierstämme eine besondere, diesem
eigenthümliche Lage, Gestalt und Zusammensetzung zeigt, so ist es
auch bei den Wirbelthieren der Fall. Ueberall finden wir hier ein
Rückenmark vor, einen starken cylindrischen
Nervenstrang, welcher in der Mittellinie des Rückens
verläuft, oberhalb der Wirbelsäule (oder der sie
vertretenden Chorda). Ueberall gehen von diesem Rückenmark
zahlreiche Nervenstämme in regelmäßiger, segmentaler
Vertheilung ab, je ein Paar an jedem Segment oder Wirbelgliede.
Ueberall entsteht dieses "Medullar-Rohr" im Embryo auf gleiche Weise:
in der Mittellinie der Rückenhaut bildet sich eine feine Furche
oder Rinne; die beiden parallelen Ränder dieser Markrinne oder
Medullar-Rinne erheben sich, krümmen sich gegen
einander und verwachsen in der Mittellinie zu einem Rohre.
Das lange dorsale, so entstandene cylindrische Nervenrohr oder
Medullar-Rohr ist durchaus für die Wirbelthiere
charakteristisch, in der frühen Embryonal-Anlage überall
dasselbe und die gemeinsame Grundlage aller der verschiedenen
Formen des Seelen-Organs, die sich später daraus entwickeln. Nur
eine einzige Gruppe von wirbellosen Thieren zeigt eine ähnliche
Bildung; das sind die seltsamen meerbewohnenden Mantelthiere
(Tunicata), die Kopelaten, Ascidien und
Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen
Eigenthümlichkeiten des Körperbaues (besonders in der
Bildung der Chorda und des Kiemendarmes) auffallende Unterschiede zu
den übrigen Wirbellosen und Uebereinstimmung mit den
Wirbelthieren. Wir nehmen daher jetzt an, daß beide
Thierstämme, Vertebraten und Tunikaten, aus einer
gemeinsamen älteren Stammgruppe von Vermalien
hervorgegangen sind, aus den Prochordoniern. Ein wichtiger
Unterschied beider Stämme besteht darin, daß der
Körper der Mantelthiere ungegliedert bleibt und eine sehr
einfache Organisation behält (die meisten sitzen später auf
dem Meeresboden fest und werden rückgebildet). Bei den
Wirbelthieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteristische
innere Gliederung des Körpers ein, die
"Urwirbelbildung" (Vertebratio). Diese vermittelt die weit
höhere morphologische und physiologische Ausbildung ihres
Organismus, welche zuletzt im Menschen die höchste Stufe der
Vollkommenheit erreicht. Sie prägt sich auch frühzeitig
schon in der feineren Struktur ihres Markrohres aus, in der
Entwickelung zahlreicher segmentaler Nervenpaare, die als
Rückenmarks-Nerven oder "Spinal-Nerven" an die einzelnen
Körpersegmente gehen.
Phyletische Bildungsstufen des Medullar-Rohrs. Die lange
Stammesgeschichte unserer "Wirbelthier-Seele" beginnt mit der Bildung
des einfachsten Medullar-Rohrs bei den ältesten
Schädellosen; sie führt uns durch einen Zeitraum von vielen
Millionen Jahren langsam und allmählich bis zu jenem
komplicirten Wunderbau des menschlichen Gehirns hinauf, welcher
diese höchstentwickelte Primaten-Form zu einer vollkommenen
Ausnahme-Stellung in der Natur zu berechtigen scheint. Da eine klare
Vorstellung von diesem langsamen und stetigen Gange unserer
phyletischen Psychogenie die erste Vorbedingung einer wirklich
naturgemäßen Psychologie ist, erscheint es
zweckmäßig, jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von
Stufen oder Hauptabschnitten einzutheilen; in jedem derselben hat sich
gleichmäßig mit der Struktur des Nervencentrums auch seine
Funktion, die "Psyche" vervollkommnet. Ich unterscheide acht solche
Perioden in der Phylogenie des Medullar-Rohrs, charakterisirt
durch acht verschiedene Hauptgruppen der Wirbelthiere; nämlich
I. die Schädellosen (Acrania), II. die Rundmäuler
(Cyclostoma), III. die Fische (Pisces), IV. die Lurche
(Amphibia), V. die implacentalen Säugethiere
(Monotrema und Marsupialia), VI. die älteren
placentalen Säugethiere, besonders die Halbaffen
(Prosimiae), VII. die jüngeren Herrenthiere, die echten
Affen (Simiae), VIII. die Menschenaffen und der Mensch
(Anthropomorpha).
I. Erste Stufe: Schädellose (Acrania), heute nur noch
vertreten durch den Lanzelot (Amphioxus); das Seelenorgan bleibt
auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs stehen und stellt ein
gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn.
II. Zweite Stufe: Rundmäuler (Cyclostoma), die
älteste Gruppe der Schädelthiere (Craniota), heute
noch vertreten durch die Pricken (Petromyzontes) und die Inger
(Myxinoides); das Vorderende des Markrohrs schwillt zu einer
Blase an, welche sich in fünf hinter einander liegende Hirnblasen
sondert (Großhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn);
diese fünf Hirnblasen bilden die gemeinsame Grundlage, aus
welcher sich das Gehirn sämmtlicher Schädelthiere
entwickelt, von den Pricken bis zum Menschen hinauf. III. Dritte Stufe;
Urfische (Selachii), ähnlich den heutigen Haifischen;
bei diesen ältesten Fischen, von denen alle Kiefermäuler
Gnathostoma) abstammen beginnt die stärkere Sonderung
der fünf gleichartigen Hirnblasen. IV. Vierte Stufe: Lurche
(Amphibia). Mit dieser ältesten Klasse der
landbewohnenden Wirbelthiere, die zuerst in der Steinkohlen-Periode
erscheinen, beginnt die characteristische Körperbildung der
Vierfüßer (Tetrapoda) und eine entsprechende
Umbildung des Fischgehirns; sie schreitet weiter fort in ihren
permischen Epigonen, den Reptilien, deren älteste
Vertreter, die Stammreptilien (Tocosauria), die gemeinsamen
Stammformen aller Amnioten sind (der Reptilien und Vögel
einerseits, der Säugethiere andererseits). V. bis VIII. Fünfte
bis achte Stufe: Säugethiere (Mammalia).
Die Bildungsgeschichte unseres Nervensystems und die damit
verknüpfte Stammesgeschichte unserer Seele habe ich in meiner
"Anthropogenie" ausführlich behandelt und durch
zahlreiche Abbildungen erläutert (V. Aufl., 24. Vortrag). Ich
muß daher hier darauf verweisen, sowie auf die Anmerkungen, in
denen ich einige der wichtigsten Thatsachen besonders hervorgehoben
habe. Dagegen lasse ich hier noch einige Bemerkungen über den
letzten und interessantesten Theil derselben folgen, über die
Entwickelung der Seele und ihrer Organe innerhalb der
Säugethier-Klasse: ich erinnere dabei besonders daran,
daß der monophyletische Ursprung dieser Klasse, die
Abstammung aller Säugethiere von einer gemeinsamen
Stammform (der Trias-Periode), jetzt sicher festgestellt. ist.
Seelen-Geschichte der Säugethiere. Der wichtigste
Folgeschluß, welcher sich aus dem monophyletischen Ursprung der
Säugethiere ergiebt, ist die nothwendige Ableitung der
Menschen-Seele aus einer langen Entwickelungs-Reihe von
anderen Mammalien-Seelen. Eine gewaltige anatomische und
physiologische Kluft trennt den Gehirnbau und das davon
abhängige Seelenleben der höchsten und der niedersten
Säugethiere, und dennoch wird diese tiefe Kluft durch eine lange
Reihe von vermittelnden Zwischen-Stufen vollständig
aufgefüllt. Der Zeitraum von mindestens vierzehn (nach anderen
Berechnungen mehr als hundert!) Millionen Jahren, welcher seit Beginn
der Trias-Periode verfloß, genügt aber vollständig,
selbst die größten psychologischen Fortschritte zu
ermöglichen. Die allgemeinsten Ergebnisse der wichtigen,
neuerdings hier tief eingedrungenen Forschungen sind folgende: I. Das
Gehirn der Säugethiere unterscheidet sich von demjenigen der
übrigen Vertebraten durch gewisse Eigenthümlichkeiten,
welche allen Gliedern der Klasse gemeinsam sind, vor Allem die
überwiegenden Ausbildung der ersten und vierten Blase, des
Großhirns und Kleinhirns, während die dritte Blase, das
Mittelhirn, ganz zurücktritt. II. Trotzdem schließt sich die
Hirnbildung der niedersten und ältesten Mammalien
(Monotremen, Marsupialien, Prochoriaten) noch eng
an diejenige ihrer paläozoischen Vorfahren an, der karbonischen
Amphibien (Stegocephalen) und der permischen Reptilien
(Tocosaurier). III. Erst während der Tertiär-Zeit
erfolgt die typische volle Ausbildung des Großhirns, welche die
jüngeren Säugethiere so auffallend vor den älteren
auszeichnet. IV. Die besondere (quantitative und qualitative)
Ausbildung des Großhirns, welche den Menschen so hoch erhebt,
und welche ihn zu seinen vorzüglichen psychischen Leistungen
befähigt, findet sich außerdem nur bei einem There der
höchstentwickelten Säugethiere der jüngeren
Tertiär-Zeit, vor Allen bei den Menschen-Affen
(Anthropoiden). I. Die Unterschiede, welche im Gehirnbau und
Seelenleben des Menschen und der Menschen-Affen existiren, sind
geringer als die entsprechenden Unterschiede zwischen diesen letzteren
und den niederen Primaten (den ältesten Affen und Halbaffen).
IV. Demnach muß die historische stufenweise Entwickelung der
Menschenseele aus einer langen Kette von höheren und niederen
Mammalien-Seelen - unter Anwendung der Descendenz-Theorie - als
eine fundamentale, durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie
wissenschaftlich bewiesene Thatsache gelten.
Zehntes Kapitel
Bewußtsein der Seele.
Monistische Studien über bewußtes und unbewußtes
Seelenleben. Entwickelungsgeschichte und Theorie des
Bewußtseins.
------
Inhalt: Das Bewußtsein als Naturerscheinung. Begriff
desselben. Schwierigkeiten der Beurtheilung. Sein Verhältniß
zum Seelenleben. Unser menschliches Bewußtsein. Verschiedene
Theorien: I. Anthropistische Theorie (Descartes). II. Neurologische
Theorie (Darwin). III Animalische Theorie (Schopenhauer). IV.
Biologische Theorie (Fechner). V. Cellulare Theorie (Fritz Schultze). IV.
Atomistische Theorie. Monistische und dualistische Theorie.
Transcendenz des Bewußtseins. Ignorabimus (Du Bois-Reymond).
Physiologie des Bewußtseins. Entdeckung der Denkorgane
(Flechsig). Pathologie. Doppeltes und intermittirendes Bewußtsein.
Ontogenie des Bewußtseins; Veränderung in den
verschiedenen Lebensaltern. Phylogenie des Bewußtseins. Begriffs-Bildung.
Unter allen Aeußerungen des Seelenlebens giebt es keine, die so
wunderbar erscheint und so verschieden beurtheilt wird wie das
Bewußtsein. Nicht allein über das eigentliche Wesen
dieser Seelenthätigkeit und über ihr Verhältniß
zum Körper, sondern auch über ihre Verbreitung in der
organischen Welt, über ihre Entstehung und Entwickelung stehen
sich noch heute, wie seit Jahrtausenden, die widersprechendsten
Ansichten gegenüber. Mehr als jede andere psychische Funktion
hat das Bewußtsein zu der irrthümlichen Vorstellung eines
"immatierellen Seelenwesens" und im Anschluß daran zu dem
Aberglauben des "persönlichen Unsterblichkeit" Veranlassung
gegeben; viele der schwersten Irrthümer, die unser modernes
Kultur-Leben noch heute beherrschen, sind darauf
zurückzuführen. Ich habe daher schon früher das
Bewußtsein als das "psychologische Central-Mysterium"
bezeichnet; es ist die feste Citadelle aller mystischen und dualistischen
Irrthümer, an deren gewaltigen Wällen alle Angriffe der
bestgerüsteten Vernunft zu scheitern drohen. Schon diese
Thatsache allein rechtfertigt es, daß wir hier dem Bewußtsein
eine besondere kritische Betrachtung von unserem monistischen
Standpunkte aus widmen. Wir werden sehen, daß das
Bewußtsein nicht mehr und nicht minder wie jede andere
Seelenthätigkeit eine Natur-Erscheinung ist, und daß
es gleich allen anderen Natur-Erscheinungen dem Substanz-Gesetz unterworfen ist.
Begriff des Bewußtseins. Schon über den
elementaren Begriff dieser Seelenthätigkeit, über seinen
Inhalt und Umfang, gehen die Ansichten der angesehensten Philosophen
und Naturforscher weit aus einander. Vielleicht am besten bezeichnet
man den Inhalt des Bewußtseins als innere Anschauung und
vergleicht diese einer Spiegelung. Als zwei Hauptbezirke
desselben unterscheiden wir das objektive und subjektive
Bewußtsein, das Weltbewußtsein und Selbstbewußtsein.
Bei Weitem der größte Theil aller bewußten
Seelenthätigkeit betrifft, wie schon Schopenhauer richtig
erkannte, das Bewußtsein der Außenwelt, der "anderen
Dinge"; dieses Weltbewußtsein umfaßt alle
möglichen Erscheinungen der Außenwelt, welche
überhaupt unserer Erkenntniß zugänglich sind. Viel
beschränkter ist unser Selbstbewußtsein, die innere
Spiegelung unserer eigenen gesammten Seelenthätigkeit, aller
Vorstellungen, Empfindungen und Strebungen oder
Willensthätigkeiten.
Bewußtsein und Seelenleben. Viele und angesehene
Denker, namentlich unter den Physiologen (z.B. Wundt und
Ziehen), halten die Begriffe des Bewußtseins und der
psychischen Funktionen für identisch: "alle
Seelenthätigkeit ist bewußte"; das Gebiet des psychischen
Lebens reicht nur so weit als dasjenige des Bewußtseins. Nach
unserer Ansicht erweitert diese Definition die Bedeutung des letzteren
in ungebührlicher Weise und giebt Veranlassung zu zahlreichen
Irrthümern und Mißverständnissen. Wir theilen
vielmehr die Ansicht anderer Philosophen (z.B. Romanes, Fritz
Schultze, Paulsen), daß auch die unbewußten
Vorstellungen, Empfindungen und Strebungen zum Seelenleben
gehören; in der That ist sogar das Gebiet der unbewußten
psychischen Aktionen (der Reflexthätigkeit u. s. w.) viel
ausgedehnter als dasjenige der bewußten. Beide Gebiete stehen
übrigens im engsten Zusammenhang und sind durch keine scharfe
Grenze getrennt; jeder Zeit kann uns eine unbewußte Vorstellung
plötzlich bewußt werden; wird unsere Aufmerksamkeit
darauf durch ein anderes Objekt gefesselt, so kann sie ebenso rasch
wieder unserem Bewußtsein völlig entschwinden.
Bewußtsen des Menschen. Die einzige Quelle unserer
Erkenntniß des Bewußtseins ist dieses selbst, und hierin liegt
in erster Linie die außerordentliche Schwierigkeit seiner
wissenschaftlichen Untersuchung und Deutung. Subjekt und
Objekt fallen hier in Eins zusammen; das erkennende Subjekt
spiegelt sich in seinem eigenen inneren Wesen, welches Objekt der
Erkenntniß sein soll. Auf das Bewußtsein anderer Wesen
können wir also niemals mit voller objektiver Sicherheit
schließen, sondern immer nur durch Vergleichung seiner Seelen-Zustände mit unseren eigenen. Soweit diese Vergleichung sich nur
auf normale Menschen erstrekt, können wir allerdings auf
deren Bewußtsein gewisse Schlüsse ziehen, deren Richtigkeit
Niemand bezweifelt. Aber schon bei abnormen
Persönlichkeiten (bei genialen und excentrischen, stumpfsinnigen
und geisteskranken Menschen) sind diese Analogie-Schlüsse
entweder unsicher oder falsch. In noch höherem Grade gilt das,
wenn wir das Bewußtsein des Menschen mit demjenigen der
Thiere (zunächst der höheren, weiterhin der niederen
Thiere) in Vergleich stellen. Da ergeben sich alsbald so große
thatsächliche Schwierigkeiten, daß die Ansichten der
hervorragendsten Physiologen und Philosophen himmelweit aus
einander gehen. Wir wollen hier nur die wichtigsten Anschauungen
darüber kurz einander gegenüberstellen.
I. Anthropistische Theorie des Bewußtseins: es ist dem
Menschen eigenthümlich. Die weitverbreitete Anschauung,
daß Bewußtsein und Denken ausschließliches Eigenthum
des Menschen seien, und daß auch ihm allein eine "unsterbliche
Seele" zukomme, ist auf Descartes zurückzuführen
(1643). Dieser geistreiche französische Philosoph und
Mathematiker (erzogen in einem Jesuiten-Kollegium!)
begründete eine vollkommene Scheidewand zwischen der
Seelenthätigkeit des Menschen und der Thiere. Die Seele des
Menschen als denkendes, immaterielles Wesen ist nach ihm vom
Körper, als ausgedehntem, materiellem Wesen, vollständig
getrennt. Trotzdem soll sie an einem Punkte des Gehirns (an der
Zirbeldrüse!) mit dem Körper verbunden sein, um hier
Einwirkungen der Außenwelt aufzunehmen und ihrerseits auf den
Körper auszuüben. Die Thiere dagegen, als nicht
denkende Wesen, sollen keine Seele besitzen und reine
Automaten sein, kunstvoll gebaute Maschinen, deren Empfinden,
Vorstellen und Wollen rein mechanisch zu Stande kommt und nach
physikalischen Gesetzen verläuft. Für die Psychologie des
Menschen vertrat demnach Descartes den reinen
Dualismus, für diejenige der Thiere den reinen
Monismus. Dieser offenkundige Widerspruch bei einem so klaren
und scharfsinnigen Denker muß höchst auffallen erscheinen;
zur Erklärung desselben darf man wohl mit Recht annehmen,
daß er seine wahre Ueberzeugung verschwieg und deren
Erkenntniß den selbstständigen Denken überließ.
Als Zögling der Jesuiten war Descartes schon
frühzeitig dazu erzogen, wider bessere Einsicht die Wahrheit zu
verleugnen; vielleicht fürchtete er auch die Macht der Kirche und
ihre Scheiterhaufen. Ohnehin hatte ihm seine skeptische Forderung,
daß jedes reine Erkenntnißstreben vom Zweifel am
überlieferten Dogma ausgehen müse, fanatische Anklagen
wegen Skepticismus und Atheismus zugezogen. Die mächtige
Wirkung, welche Descartes auf die nachfolgende Philosophie
ausübte, war sehr merkwürdig und seiner "doppelten
Buchführung" entsprechend. Die Materialisten des 17. und
18. Jahrhunderts beriefen sich für ihre monistische Psychologie
auf die cartesianische Theorie von der Thierseele und ihrer
mechanischen Maschinenthätigkeit. Die Spiritualisten
umgekehrt behaupteten, daß ihr Dogma von der Unsterblichkeit
der Seele und ihrer Unabhängigkeit vom Körper durch die
cartesianische Theorie der Menschenseele unwiderleglich
begründet sei. Diese Ansicht ist auch heute noch im Lager der
Theologen und der dualistischen Metapysiker die herrschende. Die
Naturwissenschaftliche Anschauung des 19. Jahrhunderts hat sie mit
Hülfe der empirischen Fortschritte im Gebiete der physiologischen
und vergleichenden Psychologie völlig überwunden.
II. Neurologische Theorie des Bewußtseins: es kommt
nur dem Menschen und jenen höheren Thieren zu, welche ein
centralisiertes Nerven-System und Sinnesorgane besitzen. Die
Ueberzeugung, daß ein großer Theil der Thiere - zum
mindesten die höheren Säugethiere - ebenso eine denkende
Seele und also auch Bewußtsein besitzt, wie der Mensch,
beherrscht die Kreise der modernen Zoologie, der exakten Physiologie
und der monistischen Psychologie. Die großartigen Fortschritte der
Neuzeit in mehreren Gebieten der Biologie haben uns
übereinstimmend zu der Anerkennung dieser bedeutungsvollen
Erkenntniß geführt. Wir beschränken uns bei ihrer
Würdigung zunächst auf die höheren
Wirbelthiere und vor Allem auf die Säugethiere. Daß
die intelligentesten Vertreter dieser höchst entwickelten
Vertebraten - Allen voran die Affen und Hunde - in ihrer gesammten
Seelenthätigkeit sich dem Menschen höchst ähnlich
verhalten, ist seit Jahrtausenden bekannt und bewundert. Ihre
Vorstellungs- und Sinnes-Thätigkeit, ihr Empfinden und Begehren
ist dem menschlichen so ähnlich, daß wir keine Beweise
dafür anzuführen brauchen. Aber auch die höhere
Associons-Thätigkeit ihres Gehirns, die Bildung von Urtheilen und
deren Verbindung zu Schlüssen, das Denken und das
Bewußtsein im engeren Sinne, sind bei ihnen ähnlich
entwickelt wie beim Menschen - nur dem Grade, nicht der Art nach
verschieden. Ueberdies lehrt uns die vergleichende Anatomie und
Histologie, daß die verwickelte Zusammensetzung des Gehirns
(sowohl die feinere als die gröbere Struktur) bei diesen
höheren Säugethieren im Wesentlichen dieselbe wie
beim Menschen ist. Dasselbe zeigt uns die vergleichende Ontogenie
bezüglich der Entstehung dieser Seelen-Organe. Die vergleichende
Physiologie lehrt, daß die verschiedenen Zustände des
Bewußtseins sich bei diesem höchstentwickelten
Placentalthieren ganz ähnlich wie beim Menschen verhalten, und
das Experiment beweist, daß sie auch auf äußere
Eingriffe ebenso reagiren. Man kann höhere Thiere durch Alkohol,
Chloroform, Aether u. s. w. ebenso betäuben, durch geeignete
Behandlung ebenso hypnotisiren u s. w. wie den Menschen. Dagegen ist
es nicht möglich, die Grenze scharf zu bestimmen, wo auf
den niederen Stufen des Thierlebens das Bewußtsein zuerst als
solches erkennbar wird. Die einen Zoologen setzen dieselbe sehr hoch
oben an, die anderen sehr tief unten. Darwin, der die
verschiedenen Abstufungen des Bewußtseins, der Intelligenz und
des Gemüths bei den höheren Thieren sehr genau
unterscheidet und durch zunehmende Entwickelung erklärt, weit
zugleich darauf hin, wie schwer oder eigentlich wie unmöglich es
ist, die ersten Anfänge diese höchsten
Seelenthätigkeiten bei den niederen Thieren zu bestimmen. Nach
meiner persönlichen Auffassung dünkt mir unter den
verschiedenen widersprechenden Theorien am wahrscheinlichsten die
Annahme, daß das Zustandekommen des Bewußtseins an die
Centralisation des Nervensystems gebunden ist, die den niederen
Thierklassen noch fehlt. Die Anwesenheit eines nervösen
Centralorgans, hoch entwickelte Sinnesorgane und eine weit
ausgebildete Associon der Vorstellungs-Gruppen scheinen mir
erforderlich, um das einheitliche Bewußtsein zu
ermöglichen.
III Animalische Theorie des Bewußtseins: es findet
sich bei allen Thieren und nur bei diesen. Hiernach wurde ein
scharfer Unterschied im Seelenleben der Thiere und Pflanzen bestehen;
ein solcher wurde schon von vielen alten Autoren angenommen und von
Linné scharf formulirt in seinem grundlegenden "Systema
naturae" (1735); die beiden großen Reiche der organischen
Natur unterscheiden sich nach ihm dadurch, daß die Thiere
Empfindung und Bewußtsein haben, die Pflanzen nicht.
Später hat besonders Schopenhauer diesen Unterschied
scharf betont: "Das Bewußtsein ist bei uns schlechthin nur als
Eigenschaft animaler Wesen bekannt. Auch nachdem es sich
durch die gnaze Thierreihe, bis zum Menschen und seiner Vernunft,
gesteigert hat, bleibt die Bewußtlosigkeit der Pflanze, von der er
ausging, noch immer die Grundlage. Die untersten Thiere haben
bloß eine Dämmerung desselben." Die Unhaltbarkeit dieser
Ansicht wurde schon um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts klar,
als man das Seelenleben der niederen Cölenteraten
(Schwämme und Nesselthiere) näher kennen lernte: echte
Thiere, die ebenso wenig Spuren von klarem Bewußtsein besitzen
wie die meisten Pflanzen. Noch mehr wurde der Unterschied zwischen
den beiden Reichen verwischt, als man die einzelligen Lebensformen
genauer untersuchte. Die plasmophagen Urthiere (Protozoa)
und die plasmodomen Urpflanzen (Protophyta) zeigen
keine psychologischen Unterschiede, auch nicht in Beziehung auf ihr
fragliches Bewußtsein.
IV. Biologische Theorie des Bewußtseins: es ist allen
Organismen gemeinsan, es findet sich bei allen Thieren und
Pflanzen, während es den anorganischen Naturkörpern
(Krystallen u. s. w.) fehlt. Diese Annahme wird gewöhnlich mit der
Ansicht verknüpft, daß alle Organismen (im Gegensatz zu den
Anorganen) beseelt sind; die drei Begriffe: Leben, Seele und
Bewußtsein, fließen dann gewöhnlich zusammen. Eine
andere Modifikation dieser Anschauung ist, daß diese drei
Grunderscheinungen des organischen Lebens zwar untrennbar
verknüpft sind, daß aber das Bewußtsein nur ein
Theil der psychischen Thätigkeit ist, wie diese selbst ein
Theil der Lebensthätigkeit. Das die Pflanzen in demselben
Sinne wie die Thiere eine "Seele" besitzen, hat namentlich
Fechner sich zu zeigen bemüht, und Manche schreiben der
Pflanzen-Seele ein Bewußtsein von ähnlicher Art zu wie der
Thier-Seele. In der That sind ja bei sehr empfindlichen
"Sinnpflanzen" (Mimosa, Drosera, Dionea) die
auffallenden Reizbewegungen der Blätter, bei manchen anderen
(Klee und Sauerklee, besonders aber Hedysarum) die autonomen
Bewegungen bei "schlafenden Pflanzen" (auch vorzugsweise
Papilionaceen) die Schlafbewegungen u. s. w. auffallend
ähnlich denjenigen vieler niederen Thiere; wer den letzteren
Bewußtsein zuschreibt, darf es ganz gewiß auch den ersteren
nicht absprechen.
V. Cellulare Theorie des Bewußtseins: es ist eine
Lebens-Eigenschaft jeder Zelle. Die Anwendung der Zellen-Theorie
auf alle Zweige der Biologie verlangt auch ihre Verknüpfung mit
der Psychologie. Mit demselben Rechte, mit dem man in der Anatomie
und Physiologie die lebendige Zelle als den "Elementar-Organismus"
behandelt und das ganze Verständniß des höheren,
vielzelligen Thier- und Pflanzen-Körpers daraus ableitet, mit
demselben Rechte kann man auch die "Zellseele" als das
psychologische Element betrachten und die zusammengesetzte
Seelenthätigkeit der höheren Organismen als das Resultat
aus dem vereinigten Seelenleben der Zellen, die sie zusammensetzen.
Ich habe die Grundzüge dieser Cellular-Psychologie schon
1866 in meiner "Generellen Morphologie" entworfen und sie
später weiter ausgeführt in meinem Aufsatz über
"Zellseelen und Seelenzellen". Zum tieferen Eindringen in diese
"Elementar-Psychologie" wurde ich durch meine langjährige
Beschäftigung mit den einzelligen Lebensformen geführt.
Viele von diesen kleinen (meist mikroskopischen) Protisten zeigen
ähnliche Aeußerungen von Empfindung und Willen,
ähnliche Instinkte und Bewegungen wie höhere Thiere:
besonders gilt das von den sehr empfindlichen und lebhaft beweglichen
Infusorien. Sowohl in dem Verhalten dieser reizbaren Zellinge
gegenüber der Außenwelt, wie in vielen anderen
Lebensäußerungen derselben (z.B. in dem wunderbaren
Gehäuse-Bau der Rhizopoden, der Thalamophoren und Infusorien)
könnte man deutliche Spuren bewußter
Seelenthätigkeit zu erkennen glauben. Wenn man nun die
biologische Theorie des Bewußtseins acceptiert (Nr. IV), und wenn
man jede psychische Funktion mit einem Bewußtseins-Antheil
ausstattet, dann wird man auch jeder selbstständigen Protisten-Zelle Bewußtsein zuschreiben müssen. Die materielle
Grundlage desselben wäre dann entweder das ganze
Plasma der Zelle oder deren Kern oder ein Theil desselben. In
der Psychaden-Theorie von Fritz Schultze verhält sich
das Elementar-Bewußtsein der Psychade zur einzelnen Zelle
ähnlich wie im höheren Thiere und im Menschen das
persönliche Bewußtsein zum vielzelligen Organismus der
Person. Definitiv widerlegen läßt sich diese Annahme, die ich
früher vertrat, nicht. Ich muß aber jetzt Max Verworn
zustimmen, welcher in seinen ausgezeichneten "Psychologischen
Protisten-Studien" annimmt, daß wohl sämmtlichen Protisten
ein entwickeltes "Ichbewußtsein" fehlt, und daß ihre
Empfindungen und Bewegungen den Charakter des
"Unbewußten" tragen.
VI. Atomistische Theorie des Bewußtseins: es ist eine
Elementar-Eigenschaft aller Atome. Unter allen verschiedenen
Anschauungen über die Verbreitung des Bewußtseins geht
diese atomistische Hypothese am weitesten. Sie ist wohl
hauptsächlich der Schwierigkeit entsprungen, welche manche
Philosophen und Biologen bei der Frage nach der ersten Entstehung des
Bewußtseins empfinden. Diese Erscheinung trägt ja
einen so eigenartigen Charakter, daß ihre Ableitung aus anderen
psychischen Funktionen höchst bedenktlich erscheint; man glaubte
daher dieses Hinderniß am leichtesten dadurch zu
überwinden, daß man sie als eine Elementar-Eigenschaft aller
Materie annahm, gleich der Massen-Anziehung oder der chemischen
Wahlverwandtschaft. Es würde danach so viele Formen des
Elementar-Bewußtseins geben, als es chemische Elemente giebt;
jedes Aton Wasserstoff würde sein hydrogeness Bewußtsein
haben, jedes Atom Kohlenstoff sein karbonisches Bewußtsein u. s.
w. Auch den alten vier Elementen des Empedokles, deren
Mischung durch "Lieben und Hassen" das Werden der Dinge bewirkt,
schrieben manche Philosophen Bewußtsein zu.
Ich selbst habe diese Hypothese des Atombewußtseins
niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier besonders
hervorzuheben, weil E. Du Bois-Reymond mir diese Ansicht
fälschlicherweise untergeschoben hat. In der scharfen Polemik,
welche derselbe (1880) in seiner Rede über "die sieben
Welträthsel" gegen mich führt, bekämpft er meine
"verderbliche falsche Natur-Philosophie" auf das Heftigste und
behauptet, ich hätte in meinem Aufsatz über die Perigenesis
der Plastidule die "Annahme, daß die Atome einzeln
Bewußtsein haben, als metaphysisches Axiom hingestellt". Ich habe
vielmehr ausdrücklich betont, daß ich mir die elementaren
psychischen Thätigkeiten der Empfindung und des Willens, die
man den Atomen zuschreiben kann, unbewußt vorstelle,
ebenso unbewußt, wie das elementare Gedächtniß,
welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten Physiologen
Ewald Hering (1870) als "eine allgemeine Funktion der
organisirten Materie" (besser der lebendigen Substanz") betrachte. Du
Bois-Reymond verwechselt hier in auffälliger Weise "Seele"
und "Bewußtsein"; ich will dahin gestellt sein lassen, ob er diese
Konfusion nur aus Versehen begeht. Da er selbst das Bewußtsein
für eine transcendente Erscheinung erklärt, einen Theil der
anderen Seelen-Funktionen (z.B. Sinnes-Thätigkeit) aber nicht,
muß ich annehmen, daß er beide Begriffe für
verschieden hält. Aus anderen Stellen seiner eleganten Reden geht
freilich das Gegentheil hervor, wie denn überhaupt dieser
berühmte Rhetor sich gerade in Bezug auf wichtige Principien-Fragen oft auffallend widerspricht. Ich betone hier nochmals, daß
für mich das Bewußtsein nur einen Theil der Seelen-Erscheinungen bildet, die wir am Menschen und den höheren
Thieren beobachten, während der weitaus größere
Theil derselben unbewußt abläuft.
Monistische und dualistische Theorie des Bewußtseins.
Soweit auch die verschiedenen Ansichten über die Natur und die
Entstehung des Bewußtseins aus einander gehen, so lassen sich
doch alle schließlich - bei klarer und konsequenter logischer
Behandlung - auf zwei entgegengesetzte Grund-Anschauungen
zurückführen, auf die transcendente
(dualistische) und die physiologische (monistische).
Ich selbst habe von jeher diese letztere Aufassung, und zwar im Lichte
der Entwickelungslehre, vertreten, und sie wird
gegenwärtig von einer großen Anzahl hervorragender
Naturforscher getheilt, wenn auch bei weitem nicht von allen. Die erste
Ansicht dagegen ist die ältere und die weitaus verbreitetere; sie
ist in neuerer Zeit vor Allem durch Emil du Bois-Reymond wieder
zu hohem Ansehen gelangt und durch seine berühmte
"Ignorabimus-Rede" zu einem der meistbesprochenen
Gegenstände in den modernen "Welträthsel-Diskussionen"
geworden. Bei der außerordentlichen Bedeutung dieser Grundfrage
können wir nicht umhin, hier nochmals auf den Kern derselben
kurz einzugehen.
Transcendenz des Bewußtseins. In dem berühmten
Vortrage "über die Grenzen des Naturerkennens", welchen E. Du
Bois-Reymond am 14. August 1872 auf der Naturforscher-Versammlung in Leipzig hielt, stellte derselbe zwei verschiedene
"unbedingte Grenzen" unseres Naturerkennens auf, welche der
menschliche Geist auch bei vorgeschrittenster Natur-Erkenntniß
niemals überschreiten werde - niemals, wie das oft citirte
Schlußwort des Vortrags emphatisch betont: "Ignorabimus!" Das
eine absolut unlösbare "Welt-Räthsel" ist der
"Zusammenhang von Materie und Kraft" und das eigentliche Wesen
dieser fundamentalen Natur-Erscheinungen; wir werden dieses
"Substanz-Problem" im zwölften Kapitel eingehend
behandeln. Das zweite unübersteigliche Hinderniß der
Philosophie soll das Problem des Bewußtseins bilden, die
Frage: wie unsere Geistesthätigkeit aus materiellen Bedingungen,
bezüglich Bewegungen zu erklären ist, wie die (der Materie
und Kraft zu Grunde liegende) "Substanz unter bestimmten Bedingungen
empfindet, begehrt und denkt".
Der Kürze halber, und zugleich um das Wesen des Leipziger
Vortrages mit einem Schlagworte zu charakterisieren, habe ich dieselbe
als "Ignorabimus-Rede" bezeichnet; es ist dies um so mehr
gestattet, als E. Du Bois-Reymond selbst acht Jahre später
(in der Rede über die sieben Welträthsel, 1880) den
außerordentlichen Erfolg derselben mit berechtigtem Stolze
rühmen und dabei sagen konnte; "Die Kritik schlug alle Töne
vom freudig zustimmenden Lobe bis zum wegwerfendsten Tadel an, und
das Wort 'Ignorabimus', in welchem meine Untersuchung gipfelte,
ward förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth."
Thatsächlich erschollen die lauten "Töne des freudig
zustimmenden Lobes" aus den Hörsälen der dualistischen
und spiritualistischen Philosophie und besonders aus dem Heerlager der
Ecclesia militans (der "schwarzen Internationale"); aber auch alle
Spiritualisten und alle gläubigen Gemüther, welche durch
das 'Ignorabimus' die Unsterblichkeit ihrer theuren "Seele"
gerettet wähnten, waren davon entzückt. Den
"wegwerfendsten Tadel erfuhr die glänzende Ignorabimus-Rede
dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Naturforscher und
Philosophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig über
hinreichende naturphilosophische Kenntnisse und über den
erforderlichen moralischen Muth verfügten, um den dogmatischen
Machtsprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators
der Berliner Akademie der Wissenschaften entgegenzutreten.
Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der Redner
selbst später gelegentlich als unberechtigt und übertrieben
bezeichnet hat!) erklärt sich aus zwei Gründen, einem
äußeren und einem inneren. Aeußerlich betrachtet war
dieselbe unzweifelhaft "ein bedeutungsvolles rhetorisches Kunstwerk,
eine schöne Predigt von hoher Vollendung der Form und
überraschendem Wechsel naturphilosophischer Bilder. Bekanntlich
beurtheilt aber die Mehrheit - und besonders das "schöne
Geschlecht"! - eine schöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte, sondern nach dem ästhetischen Unterhaltungswerthe"
(Monismus S. 44). Innerlich analysirt dagegen enthält die
Ignorabimus-Rede das entschiedene Programm des metaphysischen
Dualismus: die Welt ist "doppelt unbegreiflich": einmal die
materielle Welt, in welcher "Materie und Kraft" ihr Wesen treiben, und
gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt des "Geistes", in
welcher "Denken und Bewußtsein nicht aus materiellen
Bedingungen erklärbar" sind, wie bei der ersteren. Es war ganz
naturgemäß, daß der herrschende Dualismus und
Mysticismus diese Anerkennung der zwei verschiedenen Welten mit
Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menschen und die
Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Der Jubel der Spiritualisten
darüber war um so heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender principieller Vertreter des
wissenschaftlichen Materialismus gegolten hatte; und das war und blieb
er auch (trotz seiner "schönen Reden"!), ebenso wie alle anderen
sachkundigen, klaren und konsequent denkenden Naturforscher
der Gegenwart.
Allerdings hat der Verfasser der Ignorabimus-Rede am Schlusse
derselben kurz auf die Frage hingewiesen, ob nicht jene beiden
gegenüberstehenden "Welträthsel", das allgemeine
Substanz-Problem und besondere Bewußtseins-Problem,
zusammenfallen. Er sagt: "Freilich ist diese Vorstellung die einfachste
und der vorzuziehen, wonach die Welt doppelt unbegreiflich erscheint.
Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch in diesem
Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden
darüber bleibt müßig." - Dieser letzteren Ansicht bin
ich von Anfang an entschieden entgegengetreten und habe mich zu
zeigen bemüht, daß jene beiden großen Fragen nicht
zwei verschiedene Welträthsel sind. "Das neurologische
Problem des Bewußtseins ist nur ein besonderer Fall von dem
allumfassende kosmologischen Problem, der Substanz-Frage."
(Monismus, 1892, S. 23).
Es ist hier nicht der Ort, um nochmals auf die betreffende Polemik und
die sehr umfangreiche, darüber entstandene Literatur einzugehen.
Ich habe schon vor 30 Jahren, im Vorwort zur ersten Auflage meiner
Anthropogenie, gegen die Ignorabimus-Rede, ihre dualistischen
Principien und ihre metaphysischen Trugschlüsse entschiedenen
Protest erhoben, und ich habe denselben ausführlich
begründet in meiner Schrift über "Freie Wissenschaft und
freie Lehre" (Stuttgart 1878, s. 78, 82 etc.). Auch in "Monismus" habe ich
denselben wieder berührt (S. 23, 44). Du Bois-Reymond,
welcher dadurch an seiner empfindlichsten Stelle getroffen war,
antwortete sehr gereizt in verschiedenen Reden; auch diese sind, wie die
meisten seiner vielgelesenen Reden, blendend durch den eleganten
französischen Stil und fesselnd durch den Bilderreichthum und die
überraschenden Redewendungen. Aber eine wesentliche
Förderung der Welterkenntniß liefert ihre
oberflächliche Betrachtungsweise nicht. Am wenigsten gilt das
vom Darwinismus, als dessen Anhänger sich der Berliner
Physiologe später bedingungsweise bekennt, obgleich er nie das
Geringste zu seiner Förderung gethan hat; seine
absprechenden Bemerkungen über das biogenetische Grundgesetz,
seine Verwerfung der Stammesgeschichte u. s. w. bekunden
hinlänglich, daß derselbe weder mit den empirschen
Thatsachen der vergleichenden Morphologie und
Entwickelungsgeschichte hinreichend vertraut, noch zu der
philosophischen Würdigung ihrer hohen theoretischen Bedeutung
befähigt war.
Physiologie des Bewußtseins. Die eigenartige Natur-Erscheinung des Bewußtseins ist nicht, wie Du Bois-Reymond und die dualistische Philosophie behauptet, ein
völlig und "durchaus transcendentes Problem"; sondern sie ist, wie
ich schon seit 33 Jahren behauptet habe, ein physiologisches
Problem, und als solches auf die Erscheinungen im Gebiete der
Physik und Chemie zurückzuführen. Ich habe dasselbe
später noch bestimmter als ein neurologisches Problem
bezeichnet, weil ich der Ansicht bin, daß wahres Bewußtsein
(Denken und Vernunft) nur bei jenen höheren Thieren zu finden
ist, welche ein centralisiertes Nerven-System und Sinnes-Organe
von einer gewissen Höhe der Ausbildung besitzen. Mit voller
Sicherheit läßt sich das für die höheren
Wirbelthiere behaupten, und vor Allem für die placentalen
Säugethiere, aus deren Stamm das Menschen-Geschlecht selbst
entsprossen ist. Das Bewußtsein der höchstentwickelten
Affen, Hunde, Elephanten u. s. w. ist von demjenigen des Menschen nur
dem Grade, nicht der Art nach verschieden, und die graduellen
Unterschiede im Bewußtsein dieser "vernünftigsten"
Zottenthiere und der niedersten Menschen-Rassen (Weddas,
Australneger u. s. w.) sind geringer als die entsprechenden Unterschiede
zwischen letzteren und den höchst entwickelten Vernunft-Menschen (Spinoza, Goethe, Lamark, Darwin
u. s. w.). Das Bewußtsein ist mithin nur ein Theil der
höheren Seelenthätigkeit, und als solche abhängig
von der normalen Struktur des betreffenden Seelen-Organs, des
Gehirns.
Physiologische Beobachtung und Experiment haben seit zwanzig Jahren
den sicheren Beweis geführt, daß derjenige engere Bezirk des
Säugethier-Gehirns, den man in diesem Sinne als "Sitz"
(besser als "Organ") des Bewußtseins bezeichnet, ein Theil
des Großhirns ist, und zwar jener spät entstandene
"graue Mantel" oder die "Großhirnrinde", welche aus dem konvexen
Dorsal-Theil der primären Hirnblase, des Vorderhirns, sich
entwickelt. Aber auch die morphologische Begründung
dieser physiologischen Erkenntniß ist den
bewunderungswürdigen Fortschritten der mikroskopischen
Gehirn-Anatomie gelungen, welche wir den vervollkommneten
Forschungs-Methoden der neuesten Zeit verdanken
(Kölliker, Flechsig, Golgi, Edinger,
Weigert u. s. w.).
Wohl die wichtigste von diesen Erkenntnissen ist die Entdeckung der
Denkorgane durch Paul Flechsig in Leipzig; er wies nach,
daß in der grauen Rindenzone des Hirnmantels vier Gebiete der
centralen Sinnesorgane oder "innere Enpfindungssphären" liegen,
die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die
Riechsphäre im Stirnlappen, die Sehsphäre im
Hinterhauptslappen, die Hörsphäre im Schläfenlappen.
Zwischen diesen vier "Sinnesherden" liegen die vier großen
"Denkherde" oder Associons-Centren, die realen Organe des
Geisteslebens; sie sind jene höchsten Werkzeuge der
Seelenthätigkeit, welche das Denken und das
Bewußtsein vermitteln: vorn das Stirnhirn oder das frontale
Associons-Centrum, hinten oben das Scheitelhirn oder parietale
Associons-Centrum, hinten das Principalhirn oder das "große
occipito-temporaleAssocions-Centrum" (das wichtigste von allen!) und
endlich tief unten, im Innern versteckt, das Inselhirn oder "die Reilsche
Insel", das insulare Associons-Centrum. Dieser vier Denkherde, durch
eigenthümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor
den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren
"Denkorgane", die einzigen Organe unseres Bewußtseins. In
neuester Zeit hat Flechsig nachgewiesen, daß in einem Theile
derselbe sich beim Menschen noch ganz besonders verwickelte
Strukturen finden, welche den übrigen Säugethieren fehlen,
und welche die Ueberlegenheit des menschlichen Bewußtseins
erklären.
Pathologie des Bewußtseins. Die bedeutungsvolle
Erkenntniß der modernen Physiologie, daß das Großhirn
beim Menschen und den höheren Säugethieren das Organ
des Geisteslebens und des Bewußtseins ist, wird einleuchtend
bestätigt durch die Pathologie, durch die Kenntniß
seinerErkrankungen. Wenn die betreffenden Theile der
Großhirnrinde durch Krankheit zerstört werden, erlischt ihre
Funktion, und zwar läßt sich hier die Lokalisation der
Gehirn-Funktionen sogar partiell nachweisen; wenn einzelne Stellen
jenes Gebietes erkranken, verschwindet auch der Theil des Denkens und
des Bewußtseins, welcher an die betreffende Stelle gebunden ist.
Dasselbe Ergebniß liefert das pathologische Experiment;
Zerstörung eier solchen bekannten Stelle (z.B. im Sprach-Centrum)
vernichtet deren Funktion (die Sprache). Uebrigens genügt ja der
Hinweis auf die bekanntesten alltäglichen Erscheinungen im
Gebiete des Bewußtseins, um die völlige Abhängigkeit
desselben von den chemischen Veränderungen der Gehirn-Substanz zu beweisen. Viele Genußmittel (Kaffee, Thee) regen
unser Denkvermögen an; andere (Wein, Bier) stimmen unser
Gemüth heiter; Moschus und Kampfer als "Excitantia"
beleben das erlöschende Bewußtsein; Aether und Chloroform
betäuben dasselbe u. s. w. Wie wäre das Alles möglich,
wenn das Bewußtsein ein immaterielles Wesen, unabhängig
von jenen anatomisch nachgewiesenen Organen wäre? Und worin
besteht das Bewußtsein der "unsterblichen Seele", wenn sie nicht
mehr jene Organe besitzt?
Alle diese und andere bekannte Thatsachen beweisen, daß das
Bewußtsein beim Menschen - und genau ebenso bei den
nächstverwandten Säugethieren - veränderlich
ist, und daß seine Thätigkeit jederzeit abgeändert
werden kann durch innere Ursachen (Stoffwechsel, Blutkreislauf) und
äußere Ursachen (Verletzung des Gehirns, Reizung u s. w.).
Sehr lehrreich sind auch die merkwürdigen Zustände des
alternirenden oder doppelten Bewußtseins, welche an einen
"Generationswechsel der Vorstellungen" erinnern; derselbe Mensch zeigt
an verschiedenen Tagen, unter veränderten Umständen ein
ganz verschiedenes Bewußtsein; er weiß heute nicht mehr,
was er gestern gethan hat; gestern konnte er sagen; Ich bin Ich; - heute
muß er sagen; Ich bin ein Anderer. Solche Intermissionen des
Bewußtseins können nicht bloß Tage, sondern Monate
und Jahre dauern, sie können selbst bleibend werden.
Ontogenie des Bewußtseins. Wie jedermann weiß, ist
das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewußtsein, und wie
Preyer gezeigt hat, entwickelt sich dasselbe erst spät,
nachdem das kleine Kind zu sprechen angefangen hat; es spricht von
sich lange Zeit in der dritten Person. Erst in dem bedeutungsvollen
Momente, in welchem es zum ersten Male "Ich" sagt, in welchem
das "Ichgefühl" klar wird, beginnt sein
Selbstbewußtsein zu keimen und damit auch der Gegensatz zur
Außenwelt. Die schnellen und tiefgreifenden Fortschritte der
Erkenntniß, welche das Kind durch den Unterricht der Eltern und
der Schule in den ersten zehn Lebensjahren macht, und später
langsamer im zweiten Decennium bis zur vollendeten geistigen Reife,
sind eng verknüpft mit unzähligen Fortschritten im
Wachsthum und in der Entwickelung des Bewußtseins und
mit derjenigen seines Organs, des Gehirns. Aber auch wenn der
Schüler das "Zeugniß der Reife" erlangt hat, so ist in Wahrheit
sein Bewußtsein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erst recht,
in vielseitiger Berührung mit der Außenwelt, das
"Weltbewußtsein" sich zu entwickeln. Jetzt erst reift im
dritten Decennium jene volle Ausbildung des vernünftigen
Denkens und damit des Bewußtseins, welche dann bei normaler
Entwickelung in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen
Früchte trägt. Gewöhnlich mit Beginn des siebenten
Decenniums (bald früher, bald später) beginnt dann jene
langsame und allmähliche Rückbildung der höheren
Geistesthätigkeit, welche das Greisenalter charakterisirt.
Gedächtniß, Receptions-Fähigkeit und Interesse an
speciellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt die
Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewußtsein und das
philosophische Interesse an allgemeinen Beziehungen, oft noch lange
erhalten. Die individuelle Entwickelung des Bewußtseins in
früher Jugend beweist die allgemeine Geltung des
biogenetischen Grundgesetzes; aber auch in späteren Jahren
ist dieselbe noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die
Ontogenese des Bewußtseins aufs Klarste von der Thatsache,
daß dasselbe kein "immaterielles Wesen", sondern eine
physiologische Funktion des Gehirns ist, und daß es also auch keine
Ausnahme vom Substanz-Gesetze bildet.
Phylogenie des Bewußtseins. Die Thatsache, daß das
Bewußtsein, gleich allen anderen Seelenthätigkeiten, an die
normale Ausbildung bestimmter Organe gebunden ist, und daß sich
dasselbe beim Kinde, in Zusammenhang mit diesen Gehirn-Organen,
allmählich entwickelt, läßt schon von vornherein
schließen, daß dasselbe auch innerhalb der Thierreihe sich
stufenweise historisch entwickelt hat. So sicher wir aber auch eine
solche natürliche Stammesgeschichte des Bewußtseins
im Princip behaupten müssen, so wenig sind wir doch leider im
Stande, tiefer in dieselbe einzudringen und specielle Hypothesen
darüber aufzustellen. Indessen liefert uns die Paläontologie
doch einige interessante Anhaltspunkte, die nicht ohne Bedeutung sind.
Auffallend ist z. B. die bedeutende, quantitative und qualitative
Entwickelung des Gehirns der placentalen Säugethiere innerhalb
der Tertiär-Zeit. An vielen fossilen Schädeln
derselben, ist die innere Schädelhöhle genau bekannt und
liefert uns sichere Aufschlüsse über die Größe
und theilweise auch über den Bau des davon umschlossenen
Gehirns. Da zeigt sich denn innerhalb einer und derselben Legion (z.B.
der Hufthiere, der Raubthiere, der Herrenthiere) ein gewaltiger
Fortschritt von den älteren eocänen und oligocänen zu
den jüngeren miocänen und pliocänen Vertretern
desselben Stammes; bei den letzteren ist das Gehirn (im
Verhältniß zur Körpergröße) 6-8 mal so
groß als bei den ersteren.
Auch jene höchste Entwickelungsstufe des Bewußtseins,
welche nur der Kulturmensch erreicht, hat sich erst
allmählich und stufenweise - eben durch den Fortschritt der
Kultur selbst - aus niederen Zuständen entwickelt, wie wir sie
noch heute bei primitiven Naturvölkern antreffen. Das zeigt uns
schon die Vergleichung ihrer Sprachen, welche mit derjenigen
der Begriffe eng verknüpft ist. Je höher sich beim
denkenden Kultur-Menschen die Begriffs-Bildung entwickelt, je mehr er
fähig wird, aus zahlreichen verschiedenen Einzelheiten die
gemeinsamen Merkmale zusammenzufassen und unter allgemeine
Begriffe zu bringen, desto klarer und tiefer wird damit sein
Bewußtsein.
Elftes Kapitel
Unsterblichkeit der Seele.
Monistische Studien über Thanatismus und Athanismus.
Kosmische und persönliche Unsterblichkeit. Aggregatszustand der
Seelen-Substanz
------
Inhalt: Die Citadelle des Aberglaubens. Athanismus und
Thanatismus. Individueller Charakter des Todes. Unsterblichkeit der
Einzelligen (Protisten). Kosmische und persönliche Unsterblichkeit.
Primärer Thanatismus (bei Naturvölkern). Sekundärer
Thanatismus (bei älteren und neueren Philosophen). Athanismus
und Religion. Entstehung des Unsterblichkeitsglaubens. Christlicher
Athanismus. Das ewige Leben. Das jüngste Gericht. Metaphysischer
Athanismus. Seelen-Substanz. Aether-Seele. Luft-Seele. Flüssige
und feste Seelen. Unsterblichkeit der Thierseele. Beweise für und
gegen den Athanismus. Athanistische Illusionen.
Indem wir uns von der genetischen Betrachtung der Seele zu der
großen Frage ihrer "Unsterblichkeit" wenden, betreten wir jenes
höchste Gebiet des Aberglaubens, welches gewissermaßen
die unzerstörbare Citadelle aller mystischen und dualistischen
Vorstellungs-Kreise bildet. Denn bei dieser Kardinal-Frage knüpft
sich an die rein philosophischen Vorstellungen mehr als bei jedem
anderen Problem das egoistische Interesse der menschlichen Person,
welche um jeden Preis ihre individuelle Fortdauer über den Tod
hinaus garantirt haben will. Dieses "höhere Gemüths-Bedürfniß" ist so mächtig, daß es alle logischen
Schlüsse der kritischen Vernunft über den Haufen wirft.
Bewußt oder unbewußt werden bei den meisten Menschen
alle übrigen allgemeinen Ansichten, also auch die ganze
Weltanschauung, von dem Dogma der persönlichen Unsterblichkeit
beeinflußt, und an diesen theoretischen Irrthum knüpfen
sich praktische Folgerungen von weistestreichender Wirkung. Es wird
daher unsere Aufgabe sein, alle Seiten dieses wichtigen Dogmas kritisch
zu prüfen und seine Unhaltbarkeit gegenüber den
empirischen Erkenntnissen der modernen Biologie nachzuweisen.
Athanismus und Thanatismus. Um einen kurzen und
bequemen Ausdruck für die beiden entgegengesetzen
Grundanschauungen über die Unsterblichkeitslage zu haben,
bezeichnen wir den Glauben an die "persönliche Unsterblichkeit
des Menschen" als Athanismus (abgeleitet von Athanes
oder Athanatos = unsterblich). Dagegen nennen wir
Thanatismus) abgeleitet von Thanatos = Tod) die
Ueberzeugung, daß mit dem Tode des Menschen nicht nur alle
übrigen physiologischen Lebensthätigkeiten erlöschen,
sondern auch die "Seele" verschwindet, d. h. jene Summe von
Gehirn-Funktionen, welche der psychsiche Dualismus als ein eigenes
"Wesen", unabhängig von den übrigen Lebens-Aeußerungen des lebendigen Körpers, betrachtet.
Indem wir hier das physiologische Problem des Todes
berühren, betonen wir nochmals den individuellen
Charakter dieser organischen Natur-Erscheinung. Wir verstehen unter
Tod ausschließlich das definitive Aufhören der
Lebensthätigkeit des organischen Individuums, gleichviel
welcher Kategorie oder welcher Stufenfolge der Individualität das
betreffende Einzelwesen angehört. Der Mensch ist todt, wenn seine
Person stirbt, gleichviel ob er gar keine Nachkommenschaft hinterlassen
hat, oder ob er Kinder erzeugt hat, deren Nachkommen sich durch viele
Generationen fruchtbar fortpflanzen. Man sagt ja in gewissem Sinne,
daß der "Geist" großer Männer (z. B. in einer Dynastie
hervorragender Herrscher, in einer Familie talentvoller Künstler)
durch Generationen fortlebt; und ebenso sagt man, daß die "Seele"
ausgezeichneter Frauen oft in den Kindern und Kindeskindern sich
forterhält. Allein in diesen Fällen handelt es sich stets um
verwickelte Vorgänge der Vererbung, bei welchen eine
abgelöste mikroskopische Zelle (die Spermazelle des Vaters, die
Eizelle der Mutter) gewisse Eigenschaften der Substanz auf die
Nachkommen überträgt. Die einzelnen Personen,
welche jene Geschlechtszellen zu Tausenden produciren, bleiben
trotzdem sterblich, und mit ihrem Tode erlischt ihre individuelle Seelen-Thätigkeit ebenso wie jede andere physiologische Funktion.
Unsterblichkeit der Einzelligen. Neuerdings ist von mehreren
namhaften Zoologen - am eingehendsten 1882 von Weismann -
die Ansicht vertheidigt worden, daß nur die niedersten einzelligen
Organismen, die Protisten, unsterblich seien, im
Gegensatze zu allen vielzelligen Thieren und Pflanzen, deren
Körper aus Geweben zusammengesetzt ist. Besonders wurde diese
seltsame Auffassung dadurch begründet, daß die meisten
Protisten sich vorwiegend auf ungeschlechtlichem Wege vermehren,
durch Theilung oder Sporenbildung. Dabei zerfällt der ganze
Körper des einzelligen Organismus in zwei oder mehr
gleichwerthige Stücke (Tochterzellen), und jedes dieser
Stücke ergänzt sich wieder durch Wachstum, bis es der
Mutterzelle an Größe unf Form gleich geworden ist. Allein
durch den Theilungs-Proceß selbst ist ja bereits die
Individualität des einzelligen Organismus vernichtet,
ebenso die physiologische wie die morphologische Einheit. Der Begriff
des Individuums selbst, des "Untheilbaren", widerlegt logisch die
Auffassung von Weismann: denn er bedeutet ja eine
Einheit, die man nicht theilen kann, ohne ihr Wesen aufzuheben.
In diesem Sinne sind die einzelligen Urpflanzen (Protophyta) und
die einzelligen Urthiere (Protozoa) zeitlebens ebenso
Bionten oder physiologische Individuen, wie die Thiere.
Auch bei den letzteren kommt ungeschlechtliche Fortpflanzung durch
einfache Theilung vor (z. B. bei manchen Nesselthieren, Korallen,
Medusen u. A.); das Mutterthier, aus dessen Theilung die beiden
Tochterthiere hervorgehen, hat auch hier mit der Trennung
aufgehört zu existiren. Weismann behauptet: "Es giebt
keine Individuen und keine Generationen bei den Protozoen im
Sinne der Metazoen". Ich muß diesen Satz entschieden
bestreiten. Da ich selbst zuerst (1872) den Begriff der Metazoen
aufgestellt und diese vielzelligen, gewebebildenden Thiere den
einzelligen Protozoen (Infusorien, Rhizopoden u. s. w.)
gegenübergestellt habe, da ich selbst ferner zuerst den
principiellen Unterschied in der Entwickelung Beider (dort aus
Keimblättern, hier nicht) begründet habe, muß ich um
so mehr betonen, daß ich die Protozoen im physiologischen
(also auch im psychologischen Sinne!) ebenso für sterblich halte
wie die Metazoen; unsterblich ist in beiden Gruppen weder der
Leib noch die Seele. Die übrigen irrthümlichen Folgerungen
Weismanns sind bereits (1884) durch Moebius widerlegt
worden, der mit Recht hervorhebt, daß "Alles in der Welt
periodisch geschieht", und daß es "keine Quelle giebt, aus
welcher unsterbliche organische Individuen hätten entspringen
können".
Kosmische und persönliche Unsterblichkeit. Wenn man
den Begriff der Unsterblichkeit ganz allgemein auffaßt und auf die
Gesammtheit der erkennbaren Natur ausdehnt, so gewinnt er
wissenschaftliche Bedeutung; er erscheint dann der monistischen
Philosophie nicht nur annehmbar, sondern selbstverständlich.
Denn die These von der Unzerstörbarkeit und ewigen Dauer alles
Seienden fällt dann zusammen mit unserm höchsten Natur-Gesetze, dem Substanz-Gesetz (12. Kapitel). Da wir diese
kosmische Unsterblichkeit später, bei Begründung der Lehre
von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes, ausführlich
erörtern werden, halten wir uns hier nicht weiter damit auf.
Vielmehr wenden wir uns sogleich zur Kritik jenes "Unsterblichkeits-Glaubens", der gewöhnlich allein unter diesem Begriffe verstanden
wird, der Immortalität der persönlichen Seele. Wir
untersuchen zunächst die Verbreitung und Entstehung dieser
mystischen und dualistischen Vorstellung und betonen dabei besonders
die weite Verbreitung ihres Gegentheils, des monistischen
empirisch begründeten Thanatismus. Ich unterscheide hier
als zwei wesentlich verschiedene Erscheinungen desselben den
primären und den sekundären Thanatismus;
bei ersterem ist der Mangel des Unsterblichkeits-Dogmas ein
ursprünglicher (bei primitiven Naturvölkern); der
sekundäre Thanatismus dagegen ist das späte
Erzeugniß vernunftgemäßer Natur-Erkenntniß bei
hoch entwickelten Kulturvölkern.
Primärer Thanatismus (ursprünglicher Mangel der
Unsterblichkeits-Idee). In vielen philosophischen und besonders
theologischen Schriften lesen wir noch heute die Behauptung, daß
der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit der menschlichen
Seele allen Menschen - oder doch allen "vernünftigen Menschen" -
ursprünglich gemeinsam sei. Das ist falsch. Dieses Dogma ist weder
eine urspüngliche Vorstellung der menschlichen Vernunft, noch
hat es jemals allgemeine Verbreitung gehabt. In dieser Beziehung ist vor
Allem wichtig die sichere, erst neuerdings durch die vergleichende
Ethnologie festgestellte Thatsache, daß mehrere Naturvölker
der ältesten und primitivsten Stufe ebenso wenig von einer
Unsterblichkeit als von einem Gotte irgend eine Vorstellung haben. Das
gilt namentlich von den Weddas auf Ceylon, jenen primitiven
Pygmäen, die wir auf Grund der ausgezeichneten Forschungen der
Herren Sarafin für einen Ueberrest der ältesten
indischen "Urmenschen" halten; ferner von mehreren ältesten
Stämmen der Australneger. Ebenso kennen mehrere der
primitivsten Urvölker der amerikanichen Rasse, im inneren
Brasilien, am oberen Amazonen-Strom u. s. w., weder Götter noch
Unsterblichkeit. Dieser primäre Mangel des
Unsterblichkeits- und Gottes-Glaubens ist eine wichtige Thatsache; er ist
selbstverständlich wohl zu unterscheiden von dem
sekundären Mangel desselben, welchen erst der
höchstentwickelte Kultur-Mensch auf Grund kritisch-philosophischer Studien spät und mühsam gewonnen hat.
Sekundärer Thanatismus (erworbener Mangel der
Unsterblichkeits-Idee). Im Gegensatze zu dem primären
Thanatismus, der sicher bei den ältesten Urmenschen
ursprünglich bestand und immer eine weite Verbreitung
besaß, ist der sekundäre Mangel des Immortalitäts-Glaubens erst spät entstanden; er ist erst die reife Frucht
eingehenden Nachdenkens über "Leben und Tod", also ein Produkt
echter und unabhängiger Reflexion. Als socher tritt er uns schon
im sechsten Jahrhundert vor Chr. bei einem Theile der ionischen
Naturphilosophen entgegen, später bei den Gründern der
alten materialistischen Philosophie, bei Demokritos und
Empedokles, aber auch bei Simonides und Epikur,
bei Seneca und Plinius, am meisten durchgebildet bei
Lucretius Carus. Als dann nach dem Untergange des klassichen
Alterthums das Christenthum sich ausbreitete, gewann mit ihm der
Athanismus, als einer seiner wichtigsten Glaubens-Artikel, die
höchste Bedeutung.
Während der langen Geistesnacht des christlichen Mittelalters
wagte begreiflicher Weise nur selten ein kühner Freidenker seine
abweichende Ueberzeugung zu äußern; die Beispiele von
Galilei, von Giordano Bruno und anderen
unabhängigen Philosophen, welche von den "Nachfolgern Christi"
der Tortur und dem Scheiterhaufen überliefert wurden,
schreckten genügend jedes freie Bekenntniß ab. Dieses wurde
erst wieder möglich, nachdem die Reformation und die
Renaissance die Allmacht des Papismus gebrochen hatten. Die Geschichte
der neueren Philosophie zeigt die mannigfaltigen Wege, auf denen die
gereifte menschliche Vernunft dem Aberglauben der Unsterblichkeit zu
entrinnen versuchte. Immerhin verlieh demselben trotzdem die enge
Verknüpfung mit dem christlichen Dogma auch in den freieren
protestantischen Kreisen solche Macht, daß selbst die meisten
überzeugten Freidenker ihre Meinung still für sich
behielten. Nur selten wagten einzelne hervorragende Männer ihre
Ueberzeugung von der Unmöglichkeit der Seelen-Fortdauer nach
dem Tode frei zu bekennen. Besonders geschah dies in der zweiten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich von
Voltaire, Danton, Mirabeau u. A., ferner von den
Hauptvertretern des damaligen Materialismus, Holbach,
Lamettrie u. A. Dieselbe Ueberzeugung vertrat auch der
geistreiche Freund der Letzteren, der größte aller
Hohenzollern-Fürsten, der monistische "Philosoph von Sans-Souci".
Was würde Friedrich der Große, dieser
"gekrönte Thanatist und Atheist", sagen, wenn er heute
seine monistischen Ueberzeugungen mit denjenigen seiner Nachfolger
vergleichen könnte!
Unter den denkenden Aerzten ist die Ueberzeugung, daß mit
dem Tode des Menschen auch die Existenz seiner Seele aufhöre,
wohl seit Jahrhunderten sehr verbreitet gewesen; aber auch sie
hüteten sich meistens wohl, dieselbe auszusprechen. Auch blieb
immerhin noch im 18. Jahrhundert die empirische Kenntniß des
Gehirns so unvollkommen, daß die "Seele" als ein
räthselhafter Bewohner desselben ihre freie Existenz fortfristen
konnte. Endgültig beseitigt wurde dieselbe erst durch die
Riesenfortschritte der Biologie im 19. Jahrhundert, und besonders in
dessen zweiter Hälfte. Die Begründung der Descendenz-Theorie und der Zellen-Theorie, die überraschenden Entdeckungen
der Ontogenie und der Experimental-Physiologie, vor Allem aber die
bewunderswürdigen Fortschritte der mikroskopischen Gehirn-Anatomie entzogen dem Athanismus allmählich jeden Boden, so
daß jetzt nur selten ein fachkundiger und ehrlicher Biologe noch
für die Unsterblichkeit der Seele eintritt. Die monistischen
Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts (Strauß,
Feuerbach, Büchner, Rau, Spencer u. s.
w.) sind sämmtlich überzeugte Thanatisten.
Athanismus und Religion. Die weiteste Verbreitung und die
höchste Bedeutung hat das Dogma der persönlichen
Unsterblichkeit erst durch seine innige Verbindung mit den
Glaubenslehren des Christenthums gefunden; und diese hat auch
zu der irrhümlichen, heute noch sehr verbreiteten Ansicht
geführt, daß dasselbe überhaupt einen wesentlichen
Grundbestandteil jeder geläuterten Religion bilde. Das ist
durchaus nicht der Fall! Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele
fehlt vollständig den meisten höher entwickelten
orientalischen Religionen; er fehlt dem Buddhismus, der noch
heute über 30 Prozent der gesammten menschlichen
Bevölkerung der Erde beherrscht; er fehlt ebenso der alten Volks-Religion der Chinesen wie der reformirten, später an deren Stelle
getretenen Religion des Confucius; und was das Wichtigste ist, er
fehlt der älteren und reineren jüdischen Religion; weder in
den fünf Büchern Moses noch in jenen älteren
Schriften des Alten Testaments, welche vor dem babylonischen Exil
geschrieben wurden, ist die Lehre von der individuellen Fortdauer nach
dem Tode zu finden.
Entstehung der Unsterblichkeits-Glaubens. Die mystische
Vorstellung, daß die Seele des Menschen nach seinem Tode
fortdauere und unsterblich weiterlebe, ist sicher polyphyletisch
entstanden; sie fehlte dem ältesten, schon mit Sprache begabten
Urmenschen (dem hypothetischen Homo primigenius
Asiens) gewiß ebenso wie seinen Vorfahren, dem
Pithecanthropus und Prothylobates, und wie seinen
modernen, wenig entwickelten Nachkommen, den Weddas von Ceylon,
den Seelongs von Indien und anderen weit entfernt wohnenden Natur-Völkern. Erst bei zunehmender Vernunft, bei eingehenderem
Nachdenken über Leben und Tod, über Schlaf und Traum,
entwickelten sich bei verschiedenen älteren Menschen-Rassen -
unabhängig von einander - mysthische Vorstellungen über
die dualistische Komposition unseres Organismus. Sehr verschiedene
Motive werden bei diesem polyphyletischen Vorgange
zusammengewirkt haben: Ahnen-Kultus, Verwandten-Liebe, Lebenslust
und Wunsch der Lebens-Verlängerung, Hoffnung auf bessere
Lebens-Verhältnisse im Jenseits, Hoffnung auf Belohnung der
guten und Bestrafung der schlechten Thaten u. s. w. Die vergleichende
Psychologie hat uns neuerdings eine große Anzahl von sehr
verschiedenen derartigen Glaubens-Dichtungen kennen gelehrt;
großentheils hängen dieselben eng zusammen mit den
ältesten Formen des Gottesglaubens und der Religion
überhaupt. In den meisten modernen Religionen ist der
Athanismus eng verknüpft mit dem Theismus, und
die materialistische Vorstellung, welche sich die meisten
Gläubigen von ihrem "persönlichen Gott" bilden,
übertragen sie auf ihre "unsterbliche Seele". Das gilt vor Allem von
der herrschenden Weltreligion der modernen Kulturvölker, vom
Christenthum. (Vergl. Adalbert Svoboda, Gestalten des Glaubens.
1897).
Christlicher Unsterblichkeits-Glaube. Wie allgemein bekannt,
hat das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele in der christlichen
Religion schon lange diejenige feste Form angenommen, welche sich in
dem Glaubens-Artikel ausspricht; "Ich glaube an die Auferstehung des
Fleisches und ein ewiges Leben." Wie am Osterfest Christus selbst von
den Todten auferstanden ist und nun in Ewigkeit als "Gottes Sohn,
sitzend zur rechten Hand Gottes", gedacht wird, gedacht wird,
versinnlichen uns unzählige Bilder und Legenden. In gleicher
Weise wrid auch der Mensch "am jüngsten Tage auferstehen" und
seinen Lohn für die Führung seines einstigen Erdenlebens
empfangen. Dieser ganze christliche Vorstellungskreis ist durch und
durch materialistisch und anthropistisch; er erhebt sich nicht viel
über die entsprechenden Vorstellungen vieler niederer
Naturvölker. Daß die "Auferstehung des Fleisches"
unmöglich ist, weiß eigentlich Jeder, der einige Kenntnisse in
Anatomie und Physiologie besitzt. Die Auferstehung Christi, welche von
Millionen gläubiger Christen an jedem Osterfeste gefeiert wird, ist
ebenso ein reiner Mythus wie die "Auferweckung von den Todten",
welche derselbe mehrfach ausgeführt haben soll. Für die
reine Vernunft sind diese mystischen Glaubens-Artikel ebenso
unannehmbar wie die damit verknüpfte Hypothese eines "ewigen
Lebens".
Das ewige Leben. Die phantastischen Vorstellungen, welche die
christliche Kirche über die ewige Fortdauer der unsterblichen
Seele nach dem Tode des Leibes lehrt, sind ebenso rein materialistisch
wie das damit verknüpfte Dogma von der "Auferstehung des
Fleisches". Sehr richtig bemerkt in dieser Beziehung Savage in
seinem interessanten Werke "Die Religion im Lichte der Darwinschen
Lehre" (1880): "Eine der stehenden Anklagen der Kirche gegen die
Wissenschaft lautet, daß letztere materialistisch sei. Ich
möchte im Vorbeigehen darauf aufmerksam machen, daß
die ganze kirchliche Vorstellung vom zukünftigen leben von
jeher und noch jetzt der reinste Materialismus war und ist. Der
materielle Leib soll auferstehen und in einem materiellen Himmel
wohnen". Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man nur
unbefangen eine der unzähligen Predigten oder auch der
phrasenreichen, neuerdings sehr beliebten Tischreden zu lesen, in denen
die Herrlichkeit des ewigen Lebens als höchstes Gut des Christen
und der Glaube daran als Grundlage der Sittenlehre gepriesen wird. Da
erwarten den frommen spiritualistischen Gläubigen im "Paradiese"
alle Freuden des hochentwickelten geselligen Kultur-Lebens,
während die gottlosen Materialisten vom "liebenden Vater" durch
ewige Höllenqualen gemartert werden.
Metaphysischer Unsterblichkeits-Glaube. Gegenüber
dem materialistischen Athanismus, welcher in der christlichen und
mohammedanischen Kirche herrschend ist, vertritt scheinbar eine
reinere und höhere Glaubensform der metaphysische
Athanismus, wie ihn die meisten dualistischen und spiritualistischen
Philosophen lehren. Als der bedeutendste Begründer desselben ist
Plato zu betrachten; er lehrte schon im vierten Jahrhundert vor
Christus jenen vollkommenen Dualismus zwischen Leib und Seele,
welcher dann in der christlichen Glaubenslehre zu einem der theoretisch
wichtigsten und praktisch wirkungsvollsten Artikel wurde. Der Leib ist
sterblich, materiell, physisch; die Seele unsterblich, immateriell,
metaphysisch. Beide sind nur während des individuellen Lebens
vorübergehend verbunden. Da Plato ein ewiges Leben der
autonomen Seele sowohl vor als nach dieser zeitweiligen Verbindung
annimmt, ist er auch Anhänger der "Seelenwanderung"; die
Seelen existieren als solche, als "ewige Ideen", schon bevor sie in den
menschlichen Körper eintraten. Nachdem sie denselben verlassen,
suchen sie sich als Wohnort einen anderen Körper aus, der ihrer
Beschaffenheit am meisten angemessen ist; die Seelen von grausamen
Tyrannen schlüpfen in den Körper von Wölfen und
Geiern, diejenigen von tugendhaften Arbeitern in den Leib von Bienen
und Ameisen u. s. w. Die kindlichen und naiven Anschauungen dieser
platonischen Seelenlehre liegen auf der Hand; bei weiterem Eindringen
erscheinen sie völlig unvereinbar mit den sichersten
psychologischen Erkenntnissen, welche wir der modernen Anatomie und
Physiologie, der fortgeschrittenen Histologie und Ontogenie verdanken;
wir erwähnen sie hier nur, weil sie trotz ihrer Absurdität
den größten kulturhistorischen Einfluß erlangten. Denn
einerseits knüpfte an die platonische Seelenlehre die Mystik der
Neuplatoniker an, welche in das Christenthum Eingang gewann;
andererseits wurde sie später zu einem Hauptpfeiler der
spitualistischen und idealistischen Philosophie. Die platonische
"Idee" verwandelte sich später in den Begriff der Seelen-Substanz, die allerdings ebenso unfaßbar und metaphysisch
ist, aber doch oft einen physikalischen Anschein gewann.
Seelen-Substanz. Die Auffassung der Seele als
"Substanz" ist bei vielen Psychologen sehr unklar; bald wird
dieselbe in abstraktem und idealistischem Sinne als ein "immaterielles
Wesen" von ganz eigenthümlicher Art betrachtet, bald in
konkretem und realistischen Sinne, bald als ein unklares Mittelding
zwischen beiden. Halten wir an dem monistischen Substanz-Begriffe
fest, wie wir ihn (im 12. Kapitel) als einfachste Grundlage unserer
gesammten Weltanschauung entwickeln, so ist in demselben
Energie und Materie untrennbar verbunden. Dann
müssen wir an der "Seelen-Substanz" die eigentliche, uns allein
bekannte psychische Energie unterscheiden (Empfinden,
Vorstellung, Wollen) und die psychische Materie, durch welche
allein dieselbe zur Wirkung gelangen kann, also das lebendige
Plasma. Bei den höheren Thieren bildet dann der
"Seelenstoff" einen Theil des Nerven-Systems, bei den niederen
nervenlosen Thieren und den Pflanzen einen Theil ihres vielzelligen
Plasma-Körpers, bei den einzelligen Protisten einen Theil ihres
plasmatischen Zellen-Körpers. Somit kommen wir wieder auf die
Seelen-Organe und gelangen zu der naturgemäßen
Erkenntniß, daß diese materiellen Organe für die
Seelenthätigkeit unentbehrlich sind; die Seele selbst aber ist
aktuell, ist die Summe ihrer physiologischen Funktionen.
Ganz andes gestaltet sich der Begriff der specifischen Seelen-Substanz
bei jenen dualistischen Philosophen, welche eine solche annehmen. Die
unsterbliche "Seele" soll dann zwar materiell sein, aber doch unsichtbar
und ganz verschieden von dem sichtbaren Körper, in welchem sie
wohnt. Die Unsichtbarkeit der Seele wird dabei als ein sehr
wesentliches Attribut derselben betrachtet. Einige vergleichen dabei die
Seele mit dem Aether und betrachten sie gleich diesem als einen
äußerst feinen und leichten, höchst beweglichen Stoff
oder ein imponderables Agens, welches überall zwischen den
wägbaren Theilchen des lebendigen Organismus schwebt. Andere
hingegen vergleichen die Seele mit dem wehenden Winde und schreiben
ihr also einen gasförmigen Zustand zu; und dieser Vergleich ist ja
auch derjenige, welcher zuerst bei den Naturvölkern zu der
später so allgemein gewordenen dualistischen Auffassung
führte. Wenn der Mensch starb, blieb der Körper als todte
Leiche zurück; die unsterbliche Seele aber "entfloh mit dem
letzten Athemzuge".
Aether-Seele. Die Vergleichung der menschlichen Seele mit
dem physikalischen Aether als qualitativ ähnlichem Gebilde hat in
neuerer Zeit eine konkretere Gestalt gewonnen durch die
großartigen Fortschritte der Optik und der Elektrizität
(besonders im letzten Decennium); denn diese haben uns mit der
Energie des Aethers bekannt gemacht und damit zugleich gewisse
Schlüsse auf die materielle Natur dieses raumerfüllenden
Wesens gestattet. Da ich diese wichtigen Verhältnisse später
(im 12. Kapitel) besprechen werde, will ich mich hier nicht weiter dabei
aufhalten, sondern nur kurz darauf hinweisen, daß dadurch die
Annahme einer Aether-Seele vollkommen unhaltbar geworden
ist. Eine solche "ätherische Seele", d. h. eine Seelen-Substanz, welche dem physikalischen Aether ähnlich ist und gleich
ihm zwischen den wägbaren Theilchen des lebendigen Plasma
oder den Gehirn-Molekeln schwebt, kann unmöglich individuelles
Seelenleben hervorbringen. Weder die mystischen Anschauungen,
welche darüber um die Mitte unseres Jahrhunderts lebhaft
diskutirt wurden, noch die Versuche des modernen
Neovitalismus, die mystische "Lebenskraft" mit dem
physikalischen Aether in Beziehung zu setzen, sind heute mehr der
Widerlegung bedürftig.
Luft-Seele. Viel allgemeiner verbreitet und auch heute noch in
hohem Ansehen steht jene Anschauung, welche der Seelen-Substanz
eine gasförmige Beschaffenheit zuschreibt. Uralt ist die
Vergleichung des menschlichen Athemzuges mit dem wehenden
Windhauche; beide wurden ursprünglich für identisch
gehalten und mit demselben Namen belegt. Anemos und
Psyche der Griechen, Anima und Spiritus der
Römer sind ursprünglich Bezeichnungen für den
Lufthauch des Windes; sie wurden von diesem auf den Athemhauch des
Menschen übertragen. Später wurde dann dieser "lebendige
Oden" mit der "Lebenskraft" identificirt und zuletzt als das Wesen der
Seele selbst angesehen oder in engerem Sinne als deren höchste
Aeußerung der "Geist". Davon leitete dann weiterhin wieder die
Phantasie die mystische Vorstellung der individuellen Geister ab, der
"Gespenster" ("Spirits"); auch diese werden ja heute noch
meistens als "luftförmige Wesen" - aber begabt mit den
physiologischen Funktionen des Organismus! - vorgestellt; in machen
berühmten Spiritisten-Kreisen weden dieselben freilich trotzdem
fotographiert!.
Flüssige und feste Seele. Der Experimental-Physik ist es in
den letzten Decennien des 19. Jahrhunderts gelungen, alle
gasförmigen Körper in den tropfbar-flüssigen - und
die meisten auch in den festen - Aggregat-Zustand
überzuführen. Es bedarf dazu weiter nichts als geeigneter
Apparate, welche unter sehr hohem Druck und bei sehr niederer
Temperatur die Gase sehr stark komprimieren. Nicht allein die
luftförmigen Elemente, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, sondern
auch zusammengesetzte Gase (Kohlensäure) und Gas-Gemenge
(atmosphärische Luft) sind so aus dem luftförmigen in den
flüssigen Zustand versetzt worden. Dadurch sind aber jene
unsichtbaren Körper für Jedermann sichtbar
und in gewissem Sinne "handgreiflich" geworden. Mit dieser Aenderung
der Dichtigkeit ist der mystische Nymbus verschwunden, welcher
früher das Wesen der Gase in der gemeinen Anschauung
verschleierte, als unsichtbare Körper, die doch sichtbare
Wirkungen ausüben. Wenn nun die Seelen-Substanz wirklich, wie
viele "Gebildete" noch heute glauben, gasförmig wäre, so
müßte man auch im Stande sein, sie durch Anwendung von
hohem Druck und sehr niederer Temperatur in den flüssigen
Zustand überzuführen. Man könnte dann die Seele,
welche im Momente des Todes "ausgehaucht" wird, auffangen, unter
sehr hohem Druck bei niederer Temperatur kondensiren und in einer
Glasflasche als "unsterbliche Flüssigkeit" aufbewahren
(Fluidum animae immortale). Durch weitere Abkühlung und
Kondensation müßte es dann auch gelingen, die flüssige
Seele in den festen Zustand überzuführen ("Seelen-Schnee").
Bis jetzt ist das Experiment nicht gelungen.
Unsterblichkeit der Thierseele. Wenn der Athanismus wahr
wäre, wenn wirklich die "Seele" des Menschen in alle Ewigkeit
fortlebte, so müßte man ganz dasselbe auch für die
Seele der höheren Thiere behaupten, mindestens für
diejenige der nächststehenden Säugethiere (Affen, Hunde u.
s. w.). Denn der Mensch zeichnet sich vor diesen letzteren nicht durch
eine besondere Art oder eine eigenthümliche, nur ihm
zukommende Funktion der Psyche aus, sondern lediglich durch einen
höheren Grad der psychischen Thätigkeit, durch eine
vollkommenere Stufe ihrer Entwicklung. Besonders ist bei vielen
Menschen (aber durchaus nicht bei allen!) das Bewußtsein
höher entwickelt als bei den meisten Thieren, die Fähigkeit
der Ideen-Associon, des Denkens und der Vernunft. Indessen ist dieser
Unterschied bei Weitem nicht so groß, als man gewöhnlich
annimmt; und er ist in jeder Beziehung viel geringer als der
entsprechende Unterschied zwischen den höheren und niederen
Thierseelen oder selbst als der Unterschied zwischen den höchsten
und tiefsten Stufen der Menschenseele. Wenn man also der letzteren
"persönliche Unsterblichkeit" zuschreibt, so muß man sie
auch den höheren Thieren zugestehen.
Diese Ueberzeugung von der individuellen Unsterblichkeit der Thiere ist
denn auch ganz naturgemäß bei vielen Völkern alter
und neuer Zeit zu finden; aber auch jetzt noch bei vielen denkenden
Menschen, welche für sich selbst ein "ewiges Leben" in Anspruch
nehmen und gleichzeitig eine gründliche empirische Kenntniß
des Seelenlebens der Thiere besitzen. Ich kannte einen alten
Oberförster, der frühzeitig verwitwet und kinderlos, mehr
als dreißig Jahre einsam in einem herrlichen Walde von
Ostpreußen gelebt hatte. Seinen einzigen Umgang bildeten einige
Dienstleute, mit denen er nur die nöthigsten Worte wechselte, und
eine große Meute der verschiedensten Hunde, mit denen er im
innigsten Seelen-Verkehr lebte. Durch vieljährige Erziehung und
Dressur derselben hatte sich dieser feinsinnige Beobachter und
Naturfreund tief in die individuelle Psyche seiner Hunde eingelebt, und
er war von deren persönlicher Unsterblichkeit ebenso fest
überzeugt, wie von seiner eigenen. Einzelne seiner intelligentesten
Hunde standen nach seinem objektiven Vergleiche auf einer
höheren psychischen Stufe als seine alte, stumpfsinnige Magd und
der rohe, einfältige Knecht. Jeder unbefangene Beobachter, der
Jahre lang das bewußte und intelligente Seelenleben
ausgezeichneter Hunde studirt, der aufmerksam die physiologischen
Vorgänge ihres Denkens, Urtheilens, Schließens verfolgt hat,
wird zugeben müssen, daß sie mit gleichem Rechte die
"Unsterblichkeit" für sich in Anspruch nehmen können wie
der Mensch.
Beweise für den Athanismus. Die Gründe, welche
man seit zweitausend Jahren für die Unsterblichkeit der Seele
anführt, und welche auch heute noch dafür geltend gemacht
werden, entspringen zum größten Theile nicht dem Streben
nach Erkenntniß der Wahrheit, sondern vielmehr dem sogenannten
"Bedürfniß des Gemüthes", d. h. dem Phantasieleben
und der Dichtung. Um mit Kant zu reden, ist die Unsterblichkeit
der Seele nicht ein Erkenntniß-Objekt der reinen Vernunft,
sondern ein "Postulat der praktischen Vernunft". Diese letztere
und die mit ihr zusammenhängenden "Bedürfnisse des
Gemüthes, der moralischen Erziehung" u. s. w. müssen wir
aber ganz aus dem Spiele lassen, wenn wir ehrlich und unbefangen zur
reinen Erkenntniß der Wahrheit gelangen wollen; denn
diese ist einzig und allein durch empirisch begründete und logisch
klare Schlüsse der reinen Vernunft möglich. Es gilt also hier
von Athanismus dasselbe, wie vom Theismus; beide sind
nur Gegenstände der mystischen Dichtung, des transcendenten
"Glaubens", nicht der vernünftig schließenden
Wissenschaft.
Wollten wir alle die einzelnen Gründe analysiren, welche für
den Unsterblichkeits-Glauben geltend gemacht worden sind, so
würde sich ergeben, daß nicht ein einziger derselben wirklich
wissenschaftlich ist; kein einziger verträgt sich mit den
klaren Erkenntnissen, welche wir duch die physiologische Psychologie
und die Entwickelungs-Theorie in den letzten Decennien gewonnen
haben. Der theologische Beweis, daß ein persönlicher
Schöpfer dem Menschen eine unsterbliche Seele (meistens als
Theil seiner eigenen Gottes-Seele betrachtet) eingehaucht habe, ist
reiner Mythus. Der kosmologische Beweis, daß die "sittliche
Weltordnung" die ewige Fortdauer der menschlichen Seele erfordere, ist
unbegründetes Dogma. Der teleologische Beweis, daß
die "höhere Bestimmung" des Menschen eine volle Ausbildung
seiner mangelhaften irdischen Seele im Jenseits erfordere, beruht auf
einem falschen Anthropismus. Der moralische Beweis, daß
die Mängel und die unbefriedigten Wünsche des irdischen
Daseins durch eine "ausgleichende Gerechtigkeit" im Jenseits befriedigt
werden müssen, ist ein frommer Wunsch, weiter nichts. Der
ethnologische Beweis, daß der Glaube an die Unsterblichkeit
ebenso wie an Gott eine angeborene, allen Menschen gemeinsame
Wahrheit sei, ist ein thatsächlicher Irrthum. Der
ontologische Beweis, daß die Seele als ein "einfaches,
immaterielles und untheilbares Wesen" unmöglich mit dem Tode
verschwinden könne, beruht auf einer ganz falschen Auffassung
der psychischen Erscheinungen; sie ist ein spiritualistischer Irrthum.
Alle diese und andere ähnliche "Beweise für den
Athanismus" sind hinfällig geworden; sie sind durch die
wissenschaftliche Kritik der letzten Decennien definitiv
widerlegt.
Beweise gegen den Athanismus. Gegenüber den
angeführten, sämmtlich unhaltbaren Gründen
für die Unsterblichkeit der Seele ist es bei der hohen
Bedeutung dieser Frage wohl zweckmäßig, die
wohlbegründeten, wissenschaftlichen Beweise gegen
dieselbe hier kurz zusammenzufassen. Der physiologische Beweis
lehrt uns, daß die menschliche Seele ebenso wie die der
höheren Thiere kein selbstständiges, immaterielles Wesen
ist, sondern der Kollektiv-Begriff für eine Summe von Gehirn-Funktionen; diese sind ebenso wie alle anderen
Lebensthätigkeiten durch physikalische und chemische Processe
bedingt, also auch dem Substanz-Gesetze unterworfen. Der
histologische Beweis gründet sich auf den höchst
verwickelten mikroskopischen Bau des Gehirns und lehrt uns in den
Ganglien-Zellen desselben die wahren "Elementar-Organe der Seele"
kennen. Der experimentelle Beweis überzeugt uns, daß
die einzelnen Seelenthätigkeiten an einzelne Bezirke des Gehirns
gebunden sind; werden diese Bezirke zerstört, so erlischt damit
auch deren Funktion; insbesondere gilt dies von den "Denkorganen", den
einzigen centralen Werkzeugen des "Geisteslebens". Der
pathologische Beweis ergänzt den physiologischen; wenn
bestimmte Gehirn-Bezirke (Sprach-Centrum, Sehsphäre,
Hörsphäre) durch Krankheit zerstört werden, so
verschwindet auch deren Arbeit (Sprechen, Sehen, Hören); die
Natur selbst führt hier das entscheidende physiologische
Experiment aus. Der ontogenetische Beweis führt uns
unmittelbar die Thatsachen der individuellen Entwickelung der Seele
vor Augen; wir sehen, wie die Kindesseele ihre einzelnen
Fähigkeiten nach und nach entwickelt; der Jüngling bildet
sich zur vollen Blüte, der Mann zur reifen Frucht aus im Greisen-Alter findet allmähliche Rückbildung der Seele statt,
entsprechend der senilen Degeneration des Gehirns. Der
phylogenetische Beweis stützt sich auf die
Paläontologie, die vergleichende Anatomie und Physiologie des
Gehirns; in ihrer gegenseitigen Ergänzung begründen diese
Wissenschaften vereinigt die Gewißheit, daß das Gehirn des
Menschen (und also auch dessen Funktion, die Seele) sich stufenweise
und allmählich aus demjenigen der Säugethiere und
weiterhin der niederen Wirbelthiere entwickelt hat.
Athanistische Illusionen. Die vorhergehenden Untersuchungen,
die durch viele andere Egebnisse der modernen Wissenschaft
ergänzt werden könnten, haben das alte Dogma von der
"Unsterblichkeit der Seele" als völlig unhaltbar nachgewiesen;
dasselbe kann im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr Gegenstand
ernster wissenschaftlicher Forschung, sondern nur noch des
transcendenten Glaubens sein. Die "Kritik der reinen Vernunft"
weist aber nach, daß dieser hochgeschätzte Glaube, bei Licht
betrachtet, der reine Aberglaube ist, ebenso wie der oft damit
verknüpfte Glaube an den "persönlichen Gott". Nun halten
aber noch heute Millionen von "Gläubigen" - nicht nur aus den
niederen, ungebildeten Volksmassen, sondern aus den höheren
und höchsten Bildungskreisen - diesen Aberglauben für ihr
theuerstes Besitzthum, für ihren "kostbaren Schatz". Es wird daher
nöthig sein, in den damit verknüpften Vorstellungs-Kreis
noch etwas tiefer einzugehen und - seine Wahrheit vorausgesetzt -
seinen wirklichen Werth einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Da ergiebt sich denn für den objektiven Kritiker die Einsicht,
daß jener Werth zum größten Theile auf Einbildung
beruht, auf Mangel an klarem Urtheil und an folgerichtigem Denken. Der
definitive Verzicht auf diese "athanistischen Illusionen"
würde nach meiner festen und ehrlichen Ueberzeugung für
die Menschheit nicht nur keinen schmerzlichen Verlust, sondern
einen unschätzbaren positiven Gewinn bedeuten.
Das menschliche "Gemüths-Bedürfniß" hält
den Unsterblichkeits-Glauben besonders aus zwei Gründen fest,
erstens in der Hoffnung auf ein besseres zukünftiges Leben im
Jenseits, und zweitens in der Hoffnung auf ein Wiedersehen der theuren
Lieben und Freunde, welche uns der Tod hier entrissen hat. Was
zunächst die erste Hoffnung betrifft, so entspricht sie einem
natürlichen Vergeltungs-Gefühl, das zwar subjektiv
berechtigt, aber objektiv ohne jeden Anhalt ist. Wir erheben
Ansprüche auf ein Entschädigung für die zahllosen
Mängel und traurigen Erfahrungen dieses irdischen Daseins, ohne
irgend eine reale Aussicht oder Garantie dafür zu besitzen. Wir
verlangen eine unbegrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir
nur Lust und Freude, keine Unlust und keinen Schmerz erfahren wollen.
Die Vorstellungen der meisten Menschen über dieses "selige Leben
im Jenseits" sind höchst seltsam und um so sonderbarer, als darin
die "immaterielle Seele" sich an höchst materiellen Genüssen
erfreut. Die Phantasie jeder gläubigen Person gestaltet sich diese
permanente Herrlichkeit entsprechend ihren persönlichen
Wünschen. Der amerikanische Indianer, dessen Athanismus
Schiller in seiner nadowessischen Todtenklage so anschaulich
schildert, hofft in seinem Paradiese die herrlichsten Jagdgründe zu
finden, mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der
Eskimo erwartet dort sonnenbestrahlte Eisflächen mit einer
unerschöpflichen Fülle von Eisbären, Robben und
anderen Polarthieren; der sanfte Singhalese gestaltet sich sein
jenseitiges Paradies entsprechend dem wunderbaren Insel-Paradiese
Ceylon mit seinen herrlichen Gärten und Wäldern; nur setzt
er voraus, daß jederzeit unbegrenzte Mengen von Reis und Curry,
von Kokosnüssen und anderen Früchten bereit stehen; der
mohammedanische Araber ist überzeugt, daß in seinem
Paradiese blumenreiche, schattige Gärten sich ausdehnen,
durchrauscht von kühlen Quellen und bevölkert mit den
schönsten Mädchen; der katholische Fischer in Sicilien
erwartet dort täglich einen Ueberfluß der köstlichsten
Fische und der feinsten Maccaroni, und ewigen Ablaß für alle
Sünden, die er auch im ewigen Leben noch täglich begehen
kann; der evangelische Nordeuropäer hofft auf einen
unermeßlichen gothischen Dom, in welchem "ewige
Lobgesänge auf den Herrn der Heerscharen" ertönen. Kurz,
jeder Gläubige erwartet von seinem ewigen Leben in Wahrheit
eine direkte Fortsetzung seines individuellen Erden-Daseins, nur in einer
bedeutend "vermehrten und verbesserten Auflage".
Besonders muß hier noch die durchaus materialistische
Grundanschauung des christlichen Athanismus betont werden,
die mit dem absurden Dogma von der "Auferstehung des Fleisches" eng
zusammenhängt. Wie uns Tausende von Oelgemälden
berühmter Meister versinnlichen, gehen die "auferstandenen
Leiber" mit ihren "wiedergeborenen Seelen" droben im Himmel gerade
so spazieren, wie hier im Jammerthal der Erde; sie schauen Gott mit
ihren Augen, sie hören seine Stimme mit ihren Ohren, sie singen
Lieder zu seien Ehren mit ihrem Kehlkopf u. s. w. Kurz, die modernen
Bewohner des christlichen Paradieses sind ebenso Doppelwesen von
Leib und Seele, ebenso mit allen Organen des irdischen Leibes
ausgestattet, wie unsere Altvorderen in Odins Saal zu Walhalla, wie die
"unsterblichen" Türken und Araber in Mohammeds lieblichen
Paradies-Gärten, wie die altgriechischen Halbgötter und
Helden an Zeus Tafel im Olymp, im Genusse von Nektar und
Ambrosia.
Man mag sich dieses "ewige Leben" im Paradiese aber noch so herrlich
ausmalen, so muß dasselbe auf die Dauer unendlich langweilig
werden. Und nun gar "Ewig!" Ohne Unterbrechung diese ewig
individuelle Existenz fortführen! Der tiefsinnige Mythus vom
"Ewigen Juden", das vergebliche Ruhesuchen des unseligen
Ahasverus sollte uns über den Werth eines solchen "ewigen
Lebens" aufklären! Das Beste, was wir uns nach einem
tüchtigen, nach unserem besten Gewissen gut angewandten Leben
wünschen können, ist der ewige Friede des Grabes: "Herr,
schenke ihnen die ewige Ruhe!"
Jeder vernünftige Gebildete, der die geologische
Zeitrechnung kennt und der über die lange Reihe der
Jahrmillionen in der organischen Erdgeschichte nachgedacht hat,
muß bei unbefangenem Urtheil zugeben, daß der banale
Gedanke des "ewigen Lebens" auch für den besten Menschen kein
herrlicher Trost, sondern eine furchtbare Drohung ist. Nur
Mangel an klarem Urtheil und folgerichtigem Denken kann dies
bestreiten.
Den besten und den am meisten berechtigten Grund für den
Athanismus giebt die Hoffnung, im "ewigen Leben" die theueren
Angehörigen und Freunde wieder zu sehen, von denen uns hier
auf Erden ein grausames Schicksal früh getrennt hat. Aber auch
dieses vermeintliche Glück erweist sich bei näherer
Betrachtung als Illusion; und jedenfalls würde es stark durch die
Aussicht getrübt, dort auch allen den weniger angenehmen
Bekannten und den widerwärtigen Feinden zu begegnen, die hier
unser Dasein getrübt haben. Selbst die nächsten Familien-Verhältnisse dürften dann doch manche Schwierigkeiten
bereiten! Viele Männer würden gewiß gern auf alle
Herrlichkeiten des Paradieses verzichten, wenn sie die Gewißheit
hätten, dort "ewig" mit ihrer "besseren Hälfte" oder
gar mit ihrer Schwiegermutter zusammen zu sein. Auch ist es fraglich,
ob dort König Heinrich VIII von England mit seinen sechs Frauen
sich dauernd wohl fühlte; oder gar König August der Starke
von Polen, der seine Liebe über 100 Frauen schenkte und mit
ihnen 352 Kinder zeugte! Da derselbe mit dem Papste, als dem
"Statthalter Gottes", auf dem besten Fuße stand, müßte
auch er das Paradies bewohnen, trotz aller seiner Mängel und
trotzdem seine thörichten Kriegs-Abenteuer mehr als
hunderttausend Sachsen das Leben kosteten.
Unlösbare Schwierigkeiten bereitet auch den gläubigen
Athanisten die Frage, in welchem Stadium ihrer individuellen
Entwickelung die abgeschiedene Seele ihr "ewiges Leben"
fortführen soll? Sollen die Neugeborenen erst im Himmel ihre
Seele entwickeln, unter demselben harten "Kampf ums Dasein", der den
Menschen hier auf der Erde erzieht? Soll der talentvolle Jüngling,
der dem Massen-Morde des Krieges zu Opfer fällt, erst in Walhalla
seine reichen, ungenutzten Geistesgaben entwickeln? Soll der
altersschwache, kindisch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt
mit dem Ruhm seiner Thaten erfüllte, ewig als
rückgebildeter Geist fortleben? Oder soll er sich gar in ein
früheres Blüthe-Stadium zurück entwickeln? Wenn
aber die unsterblichen Seelen im Olymp als vollkommene Wesen
verjüngt fortleben sollen, dann ist auch der Reiz und das Interesse
der Persönlichkeit für sie ganz verschwunden.
Ebenso unhaltbar erscheint uns heute im Lichte der reinen Vernunft der
anthropistische Mythus vom "jüngsten Gericht", von der
Scheidung aller Menschen-Seelen in zwei große Haufen, von denen
der eine zu den ewigen Freuden des Paradieses, der andere zu
den ewigen Qualen der Hölle bestimmt ist - und das von
einem persönlichen Gotte, welcher "der Vater der Liebe" ist! Hat
doch dieser liebende Allvater selbst die Bedingungen der Vererbung
und Anpassung "geschaffen", unter denen sich einerseits die
bevorzugten Glücklichen nothwendig zu straflosen Seligen,
andererseits die unglücklichen Armen und Elenden ebenso
nothwendig zu strafwürdigen Verdammten entwickeln
mußten.
Eine kritische Vergleichung der unzähligen bunten Phantasie-Gebilde, welche der Unsterblichkeits-Glaube der verschiedenen
Völker und Religionen seit Jahrtausenden erzeugt hat,
gewährt das merkwürdigste Bild; eine hochinteressante, auf
ausgedehnte Quellen-Studien gegründete Darstellung derselben
hat Adalbert Svoboda gegeben in seinen ausgezeichneten
Werken: "Seelenwahn" (1886) und "Gestalten des Glaubens" (1897). Wie
absurd uns auch die meisten dieser Mythen erscheinen mögen,
wie unvereinbar sie sämmtlich mit der vorgeschrittenen Natur-Erkenntniß der Gegenwart sind, so spielen sie dennoch auch heute
eine höchst wichtige Rolle und üben trotzdem als "Postulante
der praktischen Vernunft" den größten Einfluß auf die
Lebensanschauungen der Individuen und die Geschicke der
Völker.
Die idealistische und spiritualistische Philosophie der Gegenwart wird
nun freilich zugeben, daß diese herrschenden materialistischen
Formen des Unsterblichkeits-Glaubens unhaltbar seien, und sie wird
behaupten, daß an ihre Stelle die geläuterte Vorstellung von
einem immateriellen Seelen-Wesen, von einer platonischen Idee oder
einer transcendenten Seelen-Substanz treten müsse. Allein mit
diesen unfaßbaren Vorstellungen kann die realistische Natur-Anschauung der Gegenwart absolut Nichts anfangen; sie befriedigen
weder das Kausalitäts-Bedürfniß unsers Verstandes,
noch die Wünsche unsers Gemüthes. Fassen wir Alles
zusammen, was vorgeschrittene Anthropologie, Psychologie und
Kosmologie der Gegenwart über den Athanismus ergründet
haben, so müssen wir zu dem bestimmten Schlusse kommen: "Der
Glaube an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist ein Dogma,
welches mit den sichersten Erfahrungs-Sätzen der modernen
Naturwissenschaften in unlösbarem Widerspruche steht."
Zwölftes Kapitel
Das Substanz-Gesetz.
Monistische Studien über das kosmologische Grundgesetz.
Erhaltung der Materie und der Energie. Kinetischer und pyknotischer
Substanz-Begriff.
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Inhalt: das chemische Grundgesetz von der Erhaltung des Stoffes
(Konstanz der Materie). Das physikalische Grundgesetz von der
Erhaltung der Kraft (Konstanz der Energie). Verbindung beider
Grundgesetze im Substanz-Gesetz. Kinetischer, pyknotischer und
dualistischer Substanz-Begriff. Monismus der Materie. Masse oder
Körperstoff (Ponderable Materie). Atome und Elemente.
Wahlverwandtschaft der Elemente. Atom-Seele (Fühlung und
Strebung der Masse). Existenz und Wesen des Aethers. Aether und
Masse. Kraft und Energie. Spannkraft und lebendige Kraft. Einheit der
Naturkräfte. Allmacht des Substanz-Gesetzes.
Als das oberste und allumfassende Naturgesetz betrachte ich das
Substanz-Gesetz, das wahre und einzige kosmologische
Grundgesetz; seine Entdeckung und Feststellung ist die
größte Geistesthat des 19. Jahrhunderts, insofern alle
anderen erkannten Naturgesetze sich ihm unterordnen. Unter dem
Begriffe "Substanz-Gesetz" fasse ich zwei höchste
allgemeine Gesetze verschiedenen Ursprungs und Alters zusammen, das
ältere chemische Gesetz von der "Erhaltung des Stoffes" und
das jüngere physikalische Gesetz von der "Erhaltung der
Kraft" (Monismus, 1892, S. 14, 39). Daß diese beiden Grundgesetze
der exakten Naturwissenschaft im Wesen unzertrennlich sind, wird
vielen Lesern wohl selbstverständlich erscheinen und ist von den
meisten Naturforschern der Gegenwart anerkannt. Indessen wird diese
fundamentale Ueberzeugung doch von anderer Seite noch heute vielfach
bestritten und muß jedenfalls erst bewiesen werden. Wir
müssen daher zunächst einen kurzen Blick auf diese beiden
Gesetze werfen.
Gesetz von der Erhaltung des Stoffes (oder der "Konstanz der
Materie", Lavoisier, 1789). Die Summe des Stoffes, welche den
unendlichen Weltraum erfüllt, ist unveränderlich. Wenn
ein Körper zu verschinden scheint, wechselt er nur seine Form;
wenn die Kohle verbrennt, verwandelt sie sich durch Verbindung mit
dem Sauerstoff der Luft in gasförmige Kohlensäure; wenn
ein Zuckerstück sich im Wasser löst, geht seine feste Form in
die tropfbar flüssige über. Ebenso wechselt die Materie nur
ihre Form, wenn ein neuer Naturkörper zu entstehen scheint;
wenn es regnet, wird der Wasserdampf der Luft in Tropfenform
niedergeschlagen; wenn das Eisen rostet, verbindet sich die
oberflächliche Schicht des Metalles mit Wasser und dem
Sauerstoff der Luft und bildet so Rost oder Eisen-Oxyd-Hydrat. Nirgends
in der Natur sehen wir, daß neue Materie entsteht oder
"geschaffen" wird; nirgends finden wir, daß vorhandene Materie
verschwindet oder in Nichts zerfällt. Dieser Erfahrungssatz gilt
heute als erster und unerschütterlicher Grundsatz der Chemie und
kann jederzeit mittelst der Waage unmittelbar bewiesen werden.
Es war aber das unsterbliche Verdienst des großen
französischen Chemikers Lavoisier, diesen Beweis durch die
Waage zuerst geführt zu haben. Heute sind alle Naturforscher,
welche sich Jahre lang mit dem denkenden Studium der Natur-Erscheinungen beschäftigt haben, so fest von der absoluten
Konstanz der Materie überzeugt, daß sie sich das Gegentheil
gar nicht mehr vorstellen können.
Gesetz von der Erhaltung der Kraft (oder der "Konstanz der
Energie", Robert Mayer, 1842) Die Summe der Kraft, welche in
dem unendlichen Weltraum thätig ist und alle Erscheinungen
bewirkt, ist unveränderlich. Wenn die Lokomotive den
Eisenbahn-Zug fortführt, verwandelt sich die Spannkraft des
erhitzten Wasserdampfes in die lebendige Kraft der mechanischen
Bewegung; wenn wir die Pfeife der Lokomotive hören, werden die
Schallschwingungen der bewegten Luft durch unser Trommelfell und
die Kette der Gehörknochen zum Labyrinth unseres inneren Ohres
fortgeleitet und von da durch den Hörnerv zu den akustischen
Ganglienzellen, welche die Hörsphäre im
Schläfenlappen unserer Großhirnrinde bilden. Die ganze
wunderbare Gestaltenfülle, welche unseren Erdball belebt, ist in
letzter Instanz umgewandeltes Sonnenlicht. Allbekannt ist, wie
gegenwärtig die bewunderungswürdigen Fortschritte der
Technik dazu geführt haben, die verschiedenen Naturkräfte
in einander zu verwandeln: Wärme wird in Massenbewegung,
diese wieder in Licht oder Schall, diese wiederum in Elektrizität
übergeführt oder umgekehrt. Die genaue Messung
der Kraftmenge, welche bei dieser Verwandlung thätig ist, hat
ergeben, daß auch sie konstant bleibt. Kein Theilchen der
bewegenden Kraft im Weltall geht je verloren; kein Theilchen kommt
neu hinzu. Der großen Entdeckung dieser fundamentalen Thatsache
hatte sich schon 1837 Friedrich Mohr in Bonn sehr
genähert; sie geschah 1842 durch den geistreichen
schwäbischen Arzt Robert Mayer in Heilbronn;
unabhängig von ihm kam fast gleichzeitig der berühmte
Physiologe Hermann Helmholtz auf die Erkenntniß
desselben Princips; er wies fünf Jahre später seine
allgemeine Anwendbarkeit und Fruchtbarkeit auf allen Gebieten der
Physik nach. Wir würden heute sagen müssen,
daß es auch das gesammte Gebiet der Physiologie - d. h. der
"organischen Physik!" - beherrsche, wenn dagegen nicht entschiedener
Widerspruch von Seiten der vitalistischen Biologen, sowie der
dualistischen und spiritualistischen Philosophen erhoben würde.
Diese erblicken in den eigenthümlichen "Geisteskräften" des
Menschen eine Gruppe von "freien", dem Energie-Gesetz nicht
unterworfenen Kraft-Erscheinungen; besonders gestützt wird
diese dualistische Auffassung durch das Dogma von der Willensfreiheit.
Wir haben schon bei deren Besprechung (S. 55) gesehen, daß
dieselbe unhaltbar ist. In neuester Zeit hat die Physik den Begriff der
"Kraft" und der "Energie" getrennt; für unsere
vorliegende allgemeine Betrachtung ist diese Unterscheidung
gleichgültig.
Einheit des Substanz-Gesetzes. Von größter
Wichtigkeit für unsere monistische Weltanschauung ist die feste
Ueberzeugung, daß die beiden großen kosmologischen
Grundlehren, das chemische Grundgesetz von der Erhaltung des Stoffes
und das physikalische Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft,
untrennbar zusammengehören; beide Theorien sind ebenso innig
verknüpft, wie ihre beiden Objekte, Stoff und Kraft,
oder Materie und Energie. Vielen monistisch denkenden Naturforschern
und Philosophen wird diese fundamentale Einheit beider Gesetze
selbstverständlich erscheinen, da ja beide nur zwei verschiedene
Seiten eines und desselben Objektes, des "Kosmos", betreffen;
indessen ist diese naturgemäße Ueberzeugung weit entfernt,
sich allgemeiner Anerkennung zu erfreuen. Sie wird vielmehr energisch
bekämpft von der gesammten dualistischen Philosophie, von der
vitalistischen Biologie, der parallelistischen Psychologie; ja sogar von
vielen (inkonsequenten!) Monisten, welche im "Bewußtsein" oder in
der höheren Geistesthätigkeit des Menschen, oder auch in
anderen Erscheinungen des "freien Geisteslebens" einen Gegenbeweis zu
finden glauben.
Ich betone daher ganz besonders die fundamentale Bedeutung des
einheitlichen Substanz-Gesetzes als Ausdruck des untrennbaren
Zusammenhanges jener beiden begrifflich getrennten Gesetze. Daß
dieselben ursprünglich nicht zusammengefaßt und nicht in
dieser Einheit erkannt wurden, ergiebt sich ja schon aus der Thatsache
ihrer verschiedenen Entdeckungs-Zeit. Das ältere und näher
liegende chemische Grundgesetz von der "Konstanz der Materie" wurde
von Lavoisier schon 1789 erkannt und durch allgemeine
Anwendung der Waage zur Basis der exakten Chemie erhoben. Hingegen
wurde das jüngere und viel verborgenere Grundgesetz von der
"Konstanz der Energie" erst 1842 von Robert Mayer entdeckt und
erst von Helmholtz als Grundlage der exakten Physik hingestellt.
Die Einheit beider Grundgesetze, welche noch heute vielfach bestritten
wird, drücken viele überzeugte Naturforscher in der
Benennung aus: "Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes".
Um einen kürzeren und bequemeren Ausdruck für diesen
fundamentalen, aus neun Worten zusammengesetzten Begriff zu haben,
habe ich schon vor längerer Zeit vorgeschlagen, dasselbe das
"Substanz-Gesetz" oder das "kosmologische Grundgesetz" zu
nennen; man könnte es auch das Universal-Gesetz oder
Konstanz-Gesetz nennen, oder auch das "Axiom von der Konstanz des
Universum"; im Grunde genommen folgt dasselbe nothwendig aus
dem Princip der Kausalität (Monismus, S. 14, 39).
Substanz-Begriff. Der erste Denker, der den reinen
monistischen "Substanz-Begriff" in die Wissenschaft
einführte und seine fundamentale Bedeutung erkannte, war der
große Philosoph Baruch Spinoza; sein Hauptwerk erschien
kurz nach seinem frühzeitigen Tode, 1677, gerade hundert Jahre
bevor Lavoisier vermittelst des chemischen Hauptinstruments,
der Waage, die Konstanz der Materie experimentell bewies. In seiner
großartigen pantheistischen Weltanschauung fällt der Begriff
der Welt (Universum, Kosmos) zusammen mit dem
allumfassenden Begriff Gott; sie ist gleichzeitig der reinste und
vernünftigste Monismus, und der geklärteste und
abstrakteste Monotheismus. Diese Universal-Substanz oder
dieses "göttliche Weltwesen" zeigt uns zwei verschiedene Seiten
seines wahren Wesens, zwei fundamentale Attribute; die
Materie (der unendliche ausgedehnte Substanz-Stoff) und
der Geist (die allumfassende denkende Substanz-Energie).
Alle Wandlungen, die später der Substanz-Begriff gemacht hat,
kommen bei konsequenter Analyse auf diesen höchsten
Grundbegriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe
für einen der erhabensten, tiefsten und wahrsten Gedanken aller
Zeiten halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unserer
Erkenntniß zugänglich sind, alle individuellen Formen des
Daseins, sind nur besondere vergängliche Formen der Substanz,
Accidenzen oder Moden. Diese Modi sind
körperliche Dinge, materielle Körper, wenn wir sie unter
dem Attribut der Ausdehnung (der "Raumerfüllung")
betrachten, dagegen Kräfte oder Ideen, wenn wir sie unter dem
Attribut des Denkens (der "Energie") betrachten. Auf diese
Grundvorstellung von Spinoza kommt auch unser gereinigter
Monismus nach 200 Jahren zurück; auch für uns sind
Materie (der raumerfüllende Stoff) und Energie (die
bewegende Kraft) nur zwei untrennbare Attribute der einen
Substanz.
Der kinetische Substanz-Begriff. (Urprincip der Schwingung
oder Vibration.) Unter den verschiedenen Modifikationen, welche der
fundamentale Substanz-Begriff in der neueren Physik, in Verbindung
mit der herrschenden Atomistik angenommen hat, mögen hier nur
zwei extrem divergirende Theorien kurz beleuchtet werden, die
kinetische und pyknotische. Beide Substanz-Theorien stimmen darin
überein, daß es gelungen ist, alle verschiedenen
Naturkräfte auf eine gemeinsame Urkraft
zurückzuführen; Schwere und Chemismus, Electricität
und Magnetismus, Licht und Wärme u. s. w. sind nur verschiedene
Aeußerungsweisen, Kraftformen oder Dynamoden einer
einzigen Urkraft (Prodynamis). Diese gemeinsame alleinige
Urkraft wird meistens als eine schwingende Bewegung der kleinsten
Massentheilchen gedacht, als eine Vibration der Atome. Die
Atome selbst sind dem gewöhnlichen "kinetischen Substanz-Begriff" zufolge todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren
Raum schwingen und in die Ferne wirken. Der eigentliche
Begründer und angesehenste Vertreter dieser kinetischen
Substanz-Theorie ist der große Mathematiker Newton, der
berühmte Entdecker des Gravitations-Gesetzes. In seinem
Hauptwerke "Philosophiae naturalis principia mathematica"
(1687) wies er nach, daß im ganzen Weltall ein und dasselbe
Grundgesetz der Massenanziehung, dieselbe
unveränderliche Gravitations-Konstante herrscht; die Anziehung
von je zwei Massentheilchen steht im geraden Verhältniß
ihrer Massen und im umgekehrten Verhältniß des Quadrats
ihrer Entfernungen. Diese allgemeine "Schwerkraft" bewirkt
ebenso die Bewegung des fallenden Apfels und die Fluthwelle des
Meeres, wie den Umlauf der Planeten um die Sonne und die kosmischen
Bewegungen aller Weltkörper. Das unsterbliche Verdienst von
Newton war, dieses Gravitations-Gesetz endgültig
festzustellen und dafür eine unanfechtbare mathematische Formel
zu finden. Aber diese todte mathematische Formel, auf welche
die meisten Naturforscher hier, wie in vielen anderen Fällen, das
größte Gewicht legen, giebt uns bloß die
quantitative Beweisführung für die Theorie, sie
gewährt uns nicht die mindeste Einsicht in das qualitative
Wesen der Erscheinungen. Die unvermittelte Fernwirkung,
welche Newton aus seinem Graviations-Gesetz ableitete und
welche zu einem der wichtigsten und gefährlichesten Dogmen der
späteren Physik wurde, giegt uns nicht den mindesten
Aufschluß über die eigentlichen Ursachen der Massen-Anziehung; vielmehr versperrt sie uns den Weg zu deren
Erkenntniß. Ich vermuthe, daß die fortgesetzten
Spekulationen über seine mysteriöse Fernwirkung nicht
wenig dazu beigetragen haben, den scharfsinnigen englischen
Mathematiker später in das dunkle Labyrinth mystischer
Träumerei und theistischen Aberglaubens zu verführen, in
dem er die letzten 34 Jahre seines Lebens wandelte; er stellte zuletzt
sogar metaphysische Hypothesen über die Wahrsagerei des
Propheten Daniel auf und über die widersinnigen Phantastereien
der Offenbarung Sankt Johannis!
Der pyknotische Substanz-Begriff (Ursprinzip der Verdichtung
oder Pyknose). In principiellem Gegensatze zu der herrschenden
Vibrations-Lehre oder der kinetischen Substanz-Theorie steht die
moderne Densations-Lehre oder die pyknotische Substanz-Theorie. Dieselbe ist am eingehendsten von J. G. Vogt (in Leipzig)
begründet, in seinem ideenreichen Werke über "Das Wesen
der Electricität und des Magnetismus auf Grund eines
einheitlichen Substanz-Begriffes" (1891). Vogt nimmt als die
gemeinsame Urkraft des Weltalls, als die universelle Prodynamis,
nicht die Schwingung oder Vibration der bewegten
Massentheilchen im leeren Raume an, sondern die individuelle
Verdichtung oder Densation einer einheitlichen Substanz, welche
den ganzen unendlichen Weltraum kontinuirlich, d. h. lückenlos
und ununterbrochen, erfüllt; die einzige derselben innewohnende
mechanische Wirkungsform (Agens) besteht darin, daß durch das
Verdichtungs- oder Kontraktions-Bestreben unendlich kleine
Verdichtungs-Centren entstehen, die zwar ihren Dichtegrad und damit
ihr Volumen ändern können, aber an und für sich
beständig sind. Diese individuellen kleinsten Theilchen der
universalen Substanz, die Verdichtungs-Centren, die man
Pyknatome nennen könnte, entsprechen im allgemeinen
den Uratomen oder letzten diskreten Massentheilchen des kinetischen
Substanz-Begriffes; sie unterscheiden sich aber sehr wesentlich dadurch,
daß sie Empfindung und Streben (oder Willensbewegung
einfachster Art) besitzen, also im gewissen Sinne beseelt sind -
ein Anklang an des alten Empedokles Lehre vom "Lieben und
Hassen der Elemente". Auch schweben diese "beseelten Atome" nicht im
leeren Raume, sondern in der kontinuirlichen, äußerst
dünnen Zwischensubstanz, welche den nicht verdichteten Theil
der Ursubstanz darstellt. Durch gewisse "Konstellationen",
Störungszentren oder Deformirungs-Systeme", treten große
Massen von Verdichtungscentren rasch in gewaltiger Ausdehnung
zusammen und erlangen ein Uebergewicht über die umlagernden
Massen. Dadurch scheidet oder differenzirt sich die Substanz, die im
ursprünglichen Ruhezustand überall die gleiche mittlere
Dichte besitzt, in zwei Hauptbestandteile: die Störungs-Centren,
welche die mittlere Dichte durch Pyknose positiv
überschreiten, bilden die wägbaren Massen der
Weltkörper (die sogenannte "ponderable Materie"); die
dünnere Zwischensubstanz dagegen, welche zwischen ihnen den
Raum erfüllt und die mittlere Dichte negativ
überschreitet, bildet den Aether (die "imponderable
Materie"). Die Folge dieser Scheidung zwischen Masse und Aether ist ein
ununterbrochener Kampf dieser beiden antagonistischen Substanz-Theile; und dieser Kampf ist die Ursache aller physikalischen Processe
Die positive Masse, der Träger des Lustgefühls, strebt
immer mehr, den begonnenen Verdichtungs-Proceß zu vollenden,
und sammelt die höchsten Werthe potentieller Energie; der
negative Aether umgekehrt sträubt sich in gleichem
Maße gegen jede weitere Steigerung seiner Spannung und des
damit verknüpften Unlustgefühls; er sammelt die
höchsten Werthe aktueller Energie.
Es würde hier viel zu weit führen, wollte ich näher auf
die sinnreiche Verdichtungs-Theorie von J. G. Vogt eingehen; der
Leser, der sich dafür interessirt, muß die Vorstellungs-Gruppen, deren Schwierigkeit im Gegenstande selbst liegt, in dem klar
geschriebenen, populären Auszug aus dem zweiten Bande des
citirten Werkes zu erfassen suchen. Ich selbst bin zu wenig mit Physik
und Mathematik vertraut, um die Licht- und Schattenseiten derselben
kritisch sondern zu können; ich glaube jedoch, daß dieser
pyknotische Substanz-Begriff für jeden Biologen, der von
der Einheit der Natur überzeugt ist, in mancher Hinsicht
annehmbarer erscheint, als der gegenwärtig in der Physik
herrschende kinetische Substanz-Begriff. Ein
Mißverständniß kann leicht dadurch entstehen,
daß Vogt seinen Weltproceß der Verdichtung in
principiellen Gegensatz stellt zu dem allgemeinen Vorgang der
Bewegung - er meint damit die Schwingung im Sinne der
modernen Physik. Auch seine hypothetische "Verdichtung" (Pyknosis)
ist ebenso durch Bewegung des Substanz bedingt, wie die
hypothetische "Schwingung" (Vibration); nur ist die Art der Bewegung
und das Verhalten der bewegten Substanz-Theilchen nach der ersteren
Hypothese ganz anders als nach der letzteren. Uebrigens wird durch die
Verdichtungslehre keineswegs die gesammte Schwingungslehre
beseitigt, sondern nur ein wichtiger Theil derselben.
Die moderne Physik hält gegenwärtig zum
größten Theile noch zäh an der älteren
Vibrations-Theorie fest, an der Vorstellung der unvermittelten
Fernwirkung und der ewigen Schwingung todter Atome im leeren
Raume; sie verwirft daher die Pyknose-Theorie. Wenn diese letztere nun
auch keineswegs vollendet sein mag; und wenn Vogts originelle
Spekulationen auch mehrfach irre gehen, so erblicke ich doch ein
großes Verdienst dieses Naturphilosophen darin, daß er jene
unhaltbaren Principien der kinetischen Substanz-Theorien eliminirt.
Für meine eigene Vorstellung, wie für diejenige vieler
anderer denkender Naturforscher, muß ich die folgenden, in
Vogts pyknotischer Substanz-Theorie enthaltenen
Grundsätze als unentbehrlich für eine wirklich
monistische, das ganze organische und anorganische Naturgebiet
umfassende Substanz-Ansicht hinstellen: I. Die beiden
Hauptbestandtheile der Substanz, Masse und Aether, sind nicht todt und
nur durch äußere Kräfte beweglich, sondern sie
besitzen Empfindung und Willen (natürlich niedersten Grades!);
sie empfinden Lust bei Verdichtung, Unlust bei Spannung; sie streben
nach der ersteren und kämpfen gegen letztere. II. Es giebt keinen
leeren Raum; der Theil des unendlichen Raumes, welchen nicht die
Massen-Atome einnehmen, ist von Aether erfüllt. III. Es giebt
keine unvermittelte Fernwirkung durch den leeren Raum; alle Wirkung
der Körpermassen auf einander ist entweder durch unmittelbare
Berührung, durch Kontakt der Massen bedingt, oder sie wird
durch den Aether vermittelt.
Der dualistische Substanz-Begriff. Die beiden Substanz-Theorien,
die wir vorstehend einander gegenüber gestellt haben, sind beide
im Princip monistisch, da der Gegensatz zwischen den beiden
Hauptbestandtheilen der Substanz, Masse und Aether, kein
ursprünglicher ist; auch muß eine beständige direkte
Berührung und Wechselwirkung beider Substanzen auf einander
angenommen werden. Ganz anders verhält es sich mit den
dualistischen Substanz-Theorien, welche noch heute in der
idealistischen und spiritualistischen Philosophie herrschend sind; diese
werden auch von der einflußreichen Theologie gestützt,
soweit sich dieselbe überhaupt auf solche metaphysische
Spekulationen einläßt. Hiernach sind zwei ganz verschiedene
Hauptbestandtheile der Substanz zu unterschieden, materielle
und immaterielle. Die materielle Substanz bildet die
"Körperwelt", deren Erforschung Objekt der Physik und
Chemie ist; hier allein gilt das Gesetz von der Erhaltung der Materie und
Energie (soweit man nicht überhaupt an deren "Erschaffung aus
Nichts" und andere Wunder glaubt!). Die immaterielle Substanz
hingegen bildet die "Geisterwelt", in welcher jenes Gesetz nicht
gilt; hier gelten die Gesetze der Physik und Chemie entweder gar nicht,
oder sie sind der "Lebenskraft" unterworfen, oder dem "freien Willen",
oder der "göttlichen Allmacht", oder anderen solchen Gespenstern,
von denen die kritische Wissenschaft nichts weiß. Eigentlich
bedürfen diese principiellen Irrthümer heute keiner
Widerlegung mehr; denn die Erfahrung hat uns bis auf den heutigen Tag
keine einzige immaterielle Substanz kennen gelehrt, keine einzige
Kraft, welche nicht an den Stoff gebunden ist, keine einzige Form der
Energie, welche nicht durch Bewegungen der Materie vermittelt wird,
sie es nun der Masse oder des Aethers oder beider Bestandtheile. Auch
die komplicirtesten und vollkommensten Energie-Formen, welche wir
kennen, das Seelenleben höherer Thiere, Denken und Vernunft
der Menschen, beruhen auf materiellen Vorgängen, auf
Veränderungen im Neuroplasma der Ganglienzellen; sie sind ohne
dieselben nicht denkbar. Daß die physiologische Hypothese einer
besonderen immateriellen "Seelen-Substanz" unhaltbar ist, habe ich
schon früher nachgewiesen (im elften Kapitel).
Masse oder Körperstoff (Ponderable Materie). Die
Erkenntniß dieses wägbaren Theiles der Materie ist in
erster Linie Gegenstand der Chemie. Allbekannt sind die
erstaunlichen theoretischen Fortschritte, welche diese Wissenschaft im
Laufe des neunzehnten Jahrhunderts gemacht hat, und der ungeheure
Einfluß, welchen sie auf alle Seiten des praktischen Kultur-Lebens
gewonnen hat. Wir begnügen uns daher mit wenigen
Bemerkungen über die wichtigsten principiellen Fragen von der
Natur der Masse. Der analytischen Chemie ist es bekanntlich gelungen,
alle die unzähligen vorschiedenen Naturkörper durch
Zerlegung auf eine geringe Anzahl von Urstoffen oder Elementen
zurückuführen, d. h. auf einfache Körper, welche nicht
weiter zerlegt werden können. Die Zahl dieser Elemente
beträgt ungefähr siebenzig. Nur der kleinere Theil derselben
(eigentlich nur vierzehn) ist allgemein auf der Erde verbreitet und von
höher Bedeutung; die größere Hälfte besteht aus
seltenen und weniger wichtigen Elementen (meistens Metallen). Die
gruppenweise Verwandtschaft dieser Elemente und die
merkwürdigen Beziehungen ihrer Atomgewichte, welche Lothar
Meyer und Mendelejeff in ihrem "Periodischen System der
Elemente" nachgewiesen haben, machen es sehr wahrscheinlich,
daß dieselben keine absoluten Species der Masse, keine
ewig unveränderlichen Größen sind. Man hat nach
jenem System die 70 Elemente auf acht Hauptgruppen vertheilt und
innerhalb derselben nach der Größe ihrer Atomgewichte
geordnet, so daß die chemisch ähnlichen Elemente Familien-Reihen bilden. Die gruppenweisen Beziehungen im natürlichen
System der Elemente erinnern einerseits an ähnliche
Verhältnisse der mannigfach zusammengesetzten Kohlenstoff-Verbindungen, andererseits an die Beziehungn paralleler Gruppen, wie
sie im natürlichen System der Thier- und Pflanzen-Arten sich
zeigen. Wie nun in diesen letzteren Fällen die "Verwandtschaft"
der ähnlichen Gestalten auf Abstammung von gemeinsamen
einfachen Stammformen beruht, so ist es sehr wahrscheinlich, daß
auch dasselbe für die Familien und Ordnungen der Elemente gilt.
Wir dürfen daher annehmen, daß die jetzigen "empirischen
Elemente" keine wirklich einfachen und unveränderlichen
"Species der Masse" sind, sondern ursprünglich
zusammengesetzt aus gleichartigen einfachen Uratomen in
verschiedener Zahl und Lagerung. Neuerdings haben die Spekulationen
von Gustav Wendt , Wilhelm Preyer, W. Crookes u.
A. gezeigt, in welcher Weise man sich die Sonderung der Elemente aus
einem einzigen ursprünglichen Urstoff, dem Prothyl,
etwa vorstellen kann.
Atome und Elemente. Die moderne Atomlehre, wie sie
heute der Chemie als unentbehrliches Hülfsmittel erscheint, ist
wohl zu unterscheiden von dem alten philosophischen
Atomismus, wie er schon vor mehr als zweitausend Jahren von
hervorragenden monistischen Philosophen des Alterthums gelehrt
wurde, von Leukippos, Demokritos und Lucretius;
später fand derselbe eine weitere und manngfach verschiedene
Ausbildung durch Descartes, Hobbes, Leibniz und
andere hervorragende Philosophen. Eine bestimmte annehmbare
Fassung und empirische Begründung fand aber der
moderne Atomismus erst 1808 durch den englischen Chemiker
Dalton, welcher das "Gesetz der einfachen und multiplen
Proportionen" bei der Bildung chemischer Verbindungen aufstellte. Er
bestimmte zuerst die Atomgewichte der einzelnen Elemente und
schuf damit die unerschütterliche, exakte Basis, auf welcher
die neueren chemischen Theorien ruhen; diese sind sämmtlich
atomistisch, insofern sie die Elemente aus gleichartigen, kleinsten,
diskreten Theilchen zusammengesetzt annehmen, die nicht weiter
zerlegt werden können. Dabei bleibt die Frage nach dem
eigentlichen Wesen der Atome, ihrer Gestalt, Größe,
Beseelung u. s. w. ganz außer Spiele; denn diese Qualitäten
derselben sind hypothetisch; empirisch dagegen ist der
Chemismus der Atome oder ihre "chemische Affinität", d. h.
die konstante Proportion, in der sie sich mit den Atomen anderer
Elemente verbinden (Monismus S. 17, 41).
Wahlverwandtschaft der Elemente. Das verschiedene
Verhalten der einzelnen Elemente gegen einander, das die Chemie als
"Affinität oder Verwandtschaft" bezeichnet, ist einer der
niedrigsten Eigenschaften der Masse und äußert sich in den
verschiedenen Mengen-Verhältnissen oder Proportionen, in denen
ihre Verbindung stattfindet, und in der Intensität, mit der
dieselbe erfolgt. Alle Grade der Zuneigung, von der vollkommenen
Gleichgültigkeit bis zur heftigsten Leidenschaft, finden sich in dem
chemischen Verhalten der verschiedenen Elemente gegen einander
ebenso wieder, wie sie in der Psychologie des Menschen und namentlich
in der Zuneigung der beiden Geschlechter die größte Rolle
spielen. Goethe hat bekanntlich in seinem klassichen Roman
"Die Wahlverwandtschaften" die Verhältnisse der Liebes-Paare in eine Reihe gestellt mit der gleichnamigen Erscheinung bei
Bildung chemischer Verbindungen. Die unwiderstehliche Leidenschaft,
welche Eduard zu der sympathischen Ottilie, Paris zu Helena hinzieht
und alle Hindernisse der Vernunft und Moral überwindet, ist
dieselbe mächtige "unbewußte" Attraktions-Kraft, welche bei
der Befruchtung der Thier- und Pflanzen-Eier den lebendigen
Samenfaden zum Eindringen in die Eizelle (aber auch zur
Aepfelsäure!) antreibt; dieselbe heftige Bewegung, durch welche
zwei Atome Wasserstoff und ein Atom Sauerstoff sich zur Bildung von
einem Molekel Wasser vereinigen. Diese principielle Einheit der
Wahlverwandtschaften in der ganzen Natur, vom einfachsten
chemischen Proceß bis zu dem verwickelsten Liebesroman hinauf,
hat schon der große griechische Naturphilosoph Empedokles
im fünften Jahrhundert v. Chr. erkannt, in seiner Lehre vom
"Lieben und Hassen der Elemente". Sie findet ihre empirische
Bestätigung durch die interessanten Fortschritte der Cellular-Psychologie, deren hohe Bedeutung wir erst in den letzten
dreißig Jahren gewürdigt haben. Wir gründen darauf
unsere Ueberzeugung, daß auch schon den Atomen die
einfachste Form der Empfindung und des Willens innewohnt - oder
besser gesagt: der Fühlung (Aesthesis) und der
Strebung (Tropesis) -, also eine universale "Seele"
von primitivster Art (- noch ohne Bewußtsein! -). Dasselbe gilt aber
auch von den Molekeln oder Massentheilchen, welche aus zwei oder
mehreren Atomen sich zusammensetzen. Aus der weiteren Verbindung
verschiedener solcher Molekeln (oder Moleküle) entstehen dann
die einfachen und weiterhin die zusammengesetzten chemischen
Verbindungen, in deren Aktion sich dasselbe Spiel in verwickelterer
Form wiederholt.
Aether (imponderable Materie). Die Erkenntniß
dieses unwägbaren Theiles der Materie ist in erster Linie
Gegenstand der Physik. Nachdem man schon lange die Existenz
eines äußerst feinen, den Raum außerhalb der Masse
erfüllenden Mediums angenommen und diesen "Aether" zur
Erklärung verschiedener Erscheinungen (vor Allem des
Lichtes) verwendet hatte, ist uns die nähere Bekanntschaft
mit diesem wunderbaren Stoffe erst in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts gelungen, und zwar im Zusammenhang mit
den erstaunlichen empirischen Entdeckungen auf dem Gebiete der
Elektrizität, mit ihrer experimentellen Erkenntniß,
ihrem theoretischen Verständniß und ihrer praktischen
Verwerthung. Vor Allem sind hier bahnbrechend geworden die
berühmten Untersuchungen von Heinrich Hertz in Bonn
(1888); der frühzeitige Tod dieses genialen jungen Physikers, der
das Größte zu erreichen versprach, ist nicht genug zu
beklagen; er gehört ebenso wie der allzu frühe Tod von
Spinoza, von Raffael, von Schubert und vielen
anderen genialen Jünglingen zu jenen brutalen Thatsachen
der menschlichen Geschichte, welche für sich allein schon den
unhaltbaren Mythus von einer "weisen Vorsehung" und von einem
"allliebenden Vater im Himmel" gründlich widerlegen.
Die Existenz des Aethers oder "Weltäthers"
(Kosmoäthers) als realer Materie ist heute (seit 15 Jahren)
eine positive Thatsache. Man kann allerdings auch heute noch
vielfach lesen, daß der Aether eine "bloße Hypothese" sei;
diese irrthümliche Behauptung wird nicht nur von unkundigen
Philosophen und populären Schriftstellern wiederholt, sondern
auch von einzelnen "vorsichtigen exakten Physikern". Mit demselben
Rechte müßte man aber auch die Existenz der ponderabilen
Materie, der Masse leugnen. Freilich giebt es heute noch Metaphysiker,
die auch dieses Kunststück zu Stande bringen, und deren
höchste Weisheit darin besteht, die Realität der
Außenwelt zu leugnen oder doch zu bezweifeln; nach ihnen existirt
eigentlich nur ein einziges Reales Wesen, nämlich ihre eigene
theure Person, oder vielmehr deren unsterbliche Seele. Neuerdings
haben sogar einige horvorragende Physiologen diesen ultra-idealistischen Standpunkt acceptirt, der schon in der Metaphysik von
Descartes, Berkeley, Fichte u. A. ausgebildet war;
ihr "Psychomonismus" behauptet: "Es existirt nur eins, und das ist
meine Psyche." Uns scheint diese kühne spiritualistische
Behauptung auf einer irrthümlichen Schlußfolgerung aus der
richtigen kritischen Erkenntniß Kants zu beruhen, daß
wir die umgebende Außenwelt nur in derjenigen Erscheinung
erkennen können, welche uns durch unsere menschlichen
Erkenntniß-Organe zugänglich ist, durch das Gehirn
und die Sinnesorgane. Wenn wir aber auch durch deren Funktion nur
eine unvollkommene und beschränkte Kenntniß von der
Körperwelt erlangen können, so dürfen wir daraus
nicht das Recht entnehmen, ihre Existenz zu leugnen. In meiner
Vorstellung wenigstens existirt der Aether ebenso sicher wie die
Masse; ebenso sicher wie ich selbst, wenn ich jetzt darüber
nachdenke und schreibe. Wie wir uns von der Realität der
ponderablen Materie durch Maß und Gewicht, durch
chemische und mechanische Experimente überzeugen, so von
derjenigen des imponderablen Aethers durch die optischen und
elektrischen Erfahrungen und Versuche.
Wesen des Aethers. Wenn nun auch heute von fast allen
Physikern die reale Existenz des Aethers als eine positive Thatsache
betrachtet wird, und wenn uns auch viele Wirkungen dieser
wunderbaren Materie durch unzählige Erfahrungen, besonders
optische und elektrische Versuche, genau bekannt sind, so ist es doch
bisher nicht gelungen, Klarheit und Sicherheit über ihr
eigentliches Wesen zu gewinnen. Vielmehr gehen auch heute
noch die Ansichten der hervorragendsten Physiker, die sie speciell
studirt haben, sehr weit auseinander; ja sie widersprechen sich sogar in
den wichtigsten Punkten. Es steht daher Jedem frei, sich bei der Wahl
zwischen den widersprechenden Hypothesen seine eigene Meinung zu
bilden, entsprechend dem Grade seiner Sachkenntniß und
Urtheilskraft (die ja beide immer unvollkommen bleiben!). Die Meinung,
die ich persönlich (als bloßer Dilettant auf diesem
Gebiete!) mir durch reifliches Nachdenken gebildet habe, fasse ich in
folgenden acht Sätzen zusammen:
I. Der Aether erfüllt als eine kontinuirliche Materie den
ganzen Weltraum, soweit dieser nicht von der Masse (oder der
ponderablen Materie) eingenommen ist; er füllt auch alle
Zwischenräume zwischen den Atomen der letzteren
vollständig aus. II. Der Aether besitzt wahrscheinlich noch
keinen Chemismus und ist noch nicht aus Atomen
zusammengesetzt wie die Masse; wenn man annimmt, derselbe sei aus
äußerst kleinen, gleichartigen Atomen zusammengesetzt (z. B.
untheilbaren Aetherkugeln von gleicher Größe), so muß
man weiterhin auch annehmen, daß zwischen denselben noch
etwas Anderes existirt, entweder der "leere Raum" oder ein drittes (ganz
unbekanntes) Medium, ein völlig hypothetischer
"Interäther"; bei der Frage nach dessen Wesen würde
sich dann dieselbe Schwierigkeit, wie beim Aether erheben (in
infinitum!). III. Da die Annahme des leeren Raumes und der
unvermittelten Fernwirkung beim jetzigen Stande unseres
Naturkennens kaum mehr möglich ist (wenigstens zu keiner
klaren monistischen Vorstellung führt), so nehme ich eine
eigenthümliche Struktur des Aethers an, die nicht
atomistisch ist, wie diejenige der ponderablen Masse, und die man
vorläufig (ohne weitere Bestimmung) als ätherische
oder dynamische Struktur bezeichnen kann. IV. Der Aggregat-Zustand des Aethers ist, dieser Hypothese zufolge, ebenfalls
eigentümlich und von demjenigen der Masse verschieden; er ist
weder gasförmig wie einige, noch fest, wie andere Physiker
annehmen; die beste Vorstellung gewinnt man vielleicht durch den
Vergleich mit einer äußerst feinen elastischen und leichten
Gallerte. V. Der Aether ist imponderable Materie in dem Sinne,
daß wir kein Mittel besitzen, sein Gewicht experimentell zu
bestimmen; wenn er wirklich Gewicht besitzt, was sehr wahrscheinlich
ist, so ist dasselbe äußerst gering und für unsere
feinsten Waagen unwägbar; einige Physiker haben versucht, aus
der Energie der Lichtwellen das Gewicht des Aethers zu berechnen; sie
haben gefunden, daß es etwa 15 Tiillionen mal geringer sei als das
der atmosphärischen Luft; immerhin soll eine Aetherkugel vom
Volumen unserer Erde mindestens 250 Pfund wiegen. (?) VI. Der
ätherische Aggregat-Zustand kann wahrscheinlich (der Pyknose-Theorie entsprechend) unter bestimmten Bedingungen durch
fortschreitende Verdichtung in den gasförmigen Zustand der
Masse übergehen, ebenso wie dieser letztere durch
Abkühlung in den flüssigen und weiterhin in den festen
übergeht. VII. Diese Aggregat-Zustände der Materie
ordnen sich demnach (was für die monistische Kosmogenie
sehr wichtig ist) in eine genetische, kontinuirliche Reihe; wir
unterscheiden fünf Stufen derselben: 1. der ätherische, 2.
der gasförmige, 3. der flüssige, 4. der fest-flüssige (im
lebenden Plasma), 5. der feste Zustand. VIII. Der Aether ist ebenso
unendlich und unermeßlich wie der Raum, den er ausfüllt; er
befindet sich ewig in ununterbrochender Bewegung; dieser
eigenthümliche Aether-Motus (gleichviel, ob als
Schwingung, Spannung, Verdichtung u. s. w. aufgefaßt), in
Wechselwirkung mit den Massen-Bewegungen (Gravitation), ist die
letzte Ursache aller Erscheinungen. (Thesen von 1899.)
Aether und Masse. "Die gewaltige Hauptfrage nach dem Wesen
des Aethers", wie sie Hertz mit Recht nennt, schließt auch
diejenige seiner Beziehungen zur Masse ein; denn beide
Hauptbestandtheile der Materie befinden sich nicht nur überall in
innigster äußerer Berührung, sondern auch in ewiger
dynamischer Wechselwirkung. Man kann die allgemeinsten
Natur-Erscheinungen, welche die Physik als Naturkräfte oder als
"Funktionen der Materie" unterscheidet, in zwei Gruppen theilen, von
denen die eine vorzugsweise (aber nicht ausschließlich)
Funktion des Aethers, die andere ebenso Funktion der Masse ist, etwa
nach folgendem Schema, das ich (1892) im "Monismus" aufgestellt habe
(S. 18, 42):
Welt (=Natur=Substanz=Kosmos=Universum=Gott).
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I. Aether (=Imponderabile, gespannte Substanz).
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II. Masse (=Ponderabile, verdichtete Substanz).
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1. Aggregat-Zustand: ätherisch (weder gasförmig,
noch flüssig, noch fest).
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1. Aggregat-Zustand: nicht ätherisch (sondern
gasförmig, flüssig oder fest).
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2. Struktur: nicht atomistisch, kontinuirlich, nicht aus diskreten
Theilchen (Atomen) zusammengesetzt.
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2. Struktur: atomistisch, diskontinuirliche, aus kleinsten diskreten
Theilchen (Atomen) zusammengesetzt.
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3. Hauptfunktionen: Licht, Strahlwärme, Elektrizität,
Magnetismus.
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3. Hauptfunktionen: Schwere, Trägheit,
Massenwärme, Chemismus.
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Die beiden Gruppen von Funktionen der Materie, welche in diesem
Schema gegenübergestellt sind, können gewissermaßen
als Folgen der ersten Arbeitstheilung des Stoffes betrachtet werden, als
primäre Ergonomie der Materie. Diese Unterscheidung
bedeutet aber keine absolute Trennung der beiden entgegengesetzten
Gruppen; vielmehr bleiben beide trotzdem vereinigt, behalten ihren
Zusammenhang und stehen überall in beständiger
Wechselwirkung. Wie bekannt, sind optische und elektrische
Vorgänge des Aethers eng verknüpft mit mechanischen und
chemischen Veränderungen der Masse; die strahlende
Wärme des ersteren geht direkt über in die
Massenwärme oder mechanische Wärme der letzteren; die
Gravitation kann nicht wirken, ohne daß der Aether die Massen-Anziehung der getrennten Atome vermittelt, da wir keine Fernwirkung
annehmen können. Die Verwandlung einer Energie-Form in die
andere, wie sie das Gesetz von der Erhaltung der Kraft nachweist,
bestätigt zugleich die beständige Wechselwirkung zwischen
den beiden Haupttheilen der Substanz, Aether und Masse.
Kraft und Energie. Das große Grundgesetz der Natur,
welches wir als Substanzgesetz an die Spitze aller physikalischen
Betrachtungen stellen, wurde ursprünglich von Robert
Mayer, der es aufstellte (1842), und von Helmholtz, der es
ausführte (1847), als das Gesetz von der Erhaltung der
Kraft bezeichnet. Schon 10 Jahre früher hatte ein anderer
deutscher Naturforscher, Friedrich Mohr in Bonn, die
wesentlichen Grundgedanken desselben klar entwickelt (1837).
Später wurde der alte Begriff der Kraft durch die moderne
Physik von demjenigen der Energie getrennt, der
ursprünglich gleichbedeutend war. Demnach wird jetzt dasselbe
Gesetz gewöhnlich als das "Gesetz von der Konstanz der
Energie" bezeichnet. Für die allgemeine Betrachtung desselben,
mit der ich mich hier begnügen muß, und für das
große Princip von der "Erhaltung der Substanz" kommt dieser feine
Unterschied nicht in Betracht. Der Leser, der sich dafür interessirt,
findet eine sehr klare Auseinandersetzung darüber z. B. in dem
ausgezeichneten Aufsatz des englischen Physikers Tyndall
über "das Grundgesetz der Natur" (Braunschweig 1898). Dort ist
auch eingehend die universale Bedeutung dieses kosmologischen
Grundgesetzes erläutert, sowie seine Anwendung auf die
wichtigsten Probleme sehr verschiedener Gebiete. Wir begnügen
uns hier mit der wichtigen Thatsache, daß gegenwärtig das
"Energie-Princip" und die damit verknüpfte Ueberzeugung von der
Einheit der Naturkräfte, von ihrem gemeinsamen Ursprung, durch
alle kompetenten Physiker anerkannt und als der wichtigste Fortschritt
der Physik im 19. Jahrhundert gewürdigt wird. Wir wissen jetzt,
daß Wärme ebenso gut eine Form der Bewegung ist,
wie Schall, Elektrizität ebenso wie Licht, Chemismus ebenso wie
Magnetismus. Wir können durch geeignete Vorrichtungen eine
dieser Kräfte in die andere verwandeln, und überzeugen uns
dabei durch die genaueste Messung, daß von ihrer Gesammt-Summe niemals das kleinste Theilchen verloren geht.
Spannkraft und lebendige Kraft (potentielle und aktuelle
Energie). Die Gesammtsumme der Kraft oder Energie im Weltall
bleibt beständig, gleichviel weilche Veränderungen uns
erscheinen; sie ist ewig und unendlich, wie die Materie, an die sie
untrennbar gebunden ist. Das ganze Spiel der Natur beruht auf dem
Wechsel von scheinbarer Ruhe und Bewegung; die ruhenden
Körper besitzen aber ebenso eine unverlierbare Größe
von Kraft, wie die bewegten. Bei der Bewegung selbst verwandelt sich
die Spannkraft der ersteren in die lebendige Kraft der letzteren. "Indem
das Princip der Erhaltung der Kraft sowohl die Abstoßung als die
Anziehung in Betracht zieht, behauptet es, daß der mechanische
Werth der Spannkräfte und der lebendigen Kräfte in der
materiellen Welt eine konstante Quantität ist. Kurz gesagt,
zerfällt der Kraftbesitz des Universums in zwei Theile, die nach
einem bestimmten Werthverhältniß in einander verwandelt
werden können. Die Verminderung des einen bringt die
Vergrößerung des anderen mit sich; der Gesammtwerth
seines Besitzes bleibt jedoch unverändert." Die Spannkraft
oder die potentielle Energie und die lebendige Kraft oder
die aktuelle Energie werden beständig in einander umgewandelt,
ohne daß die unendliche Gesammtsumme der Kraft im unendlichen
Weltall jemals den geringsten Verlust erleidet.
Einheit der Naturkräfte. Nachdem die moderne Physik
das Substanz-Gesetz zunächst für die einfacheren
Beziehungen der anorganischen Körper festgestellt hatte, wies die
Physiologie dessen allgemeine Geltung auch im Gesammtbereiche der
organischen Natur nach. Sie zeigte, daß alle
Lebensthätigkeiten der Organismen - ohne Ausnahme! - ebenso
auf einem beständgien "Kraftwechsel" und einem damit
verknüpften "Stoffwechsel" beruhen wie die einfachsten
Vorgänge in der sogenannten "leblosen Natur". Nicht nur das
Wachstum und die Ernährung der Pflanzen und Thiere, sondern
auch die Funktionen ihrer Empfindung und Bewegung, ihrer
Sinnesthätigkeit und ihres Seelenlebens beruhen auf der
Verwandlung von Spannkraft in lebendige Kraft und umgekehrt. Dieses
höchste Gesetz beherrscht auch diejenigen vollkommensten
Leistungen des Nervensystems, welche man als das
"Geistesleben" bezeichnet. Somit gilt dasselbe auch für die
gesammte Psychologie.
Allmacht des Substanz-Gesetzes. Unsere feste monistische
Ueberzeugung, daß das kosmologische Grundgesetz allgemeine
Geltung für die gesammte Natur besitzt, nimmt die
höchste Bedeutung in Anspruch. Denn dadurch wird nicht nur
positiv die principielle Einheit des Kosmos und der kausale
Zusammenhang aller uns erkennbaren Erscheinungen beweisen, sondern
es wird dadurch zugleich negativ der höchste intellektuelle
Fortschritt erzielt, der definitive Sturz der drei Central-Dogmen der
Metaphysik: "Gott, Freiheit und Insterblichkeit". Indem das
Substanz-Gesetz überall mechanische Ursachen in den
Erscheinungen nachweist, verknüpft es sich mit dem
"allgemeinen Kausalgesetz".
Dreizehntes Kapitel
Entwickelungsgeschichte der Welt.
Monistische Studien über die ewige Entwickelung des Universums.
Schöpfung, Anfang und Ende der Welt. Kreatistische und
genetische Kosmogenie.
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Inhalt: Begriff der Schöpfung (Kreation). Wunder.
Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge. Schöpfung der
Substanz (kosmologischer Kreatismus). Diesmus: Ein
Schöpfungstag. Schöpfung der Einzeldnge. Fünf Formen
des ontologischen Kreatismus. Begriff der Entwickelung (Genesis,
Evolutio). I. Monistische Kosmogenie. Anfang und Ende der Welt.
Unendlichkeit und Ewigkeit des Universums. Raum und Zeit.
Universum perpetuum mobile. Entropie des Weltalls. II.
Monistische Geogenie. Anorganische und organische Erdgeschichte. III.
Monistische Biogenie. Transformismus und Descendenz-Theorie.
Lamarck und Darwin. IV. Monistische Anthropogenie. Abstammung des
Menschen.
Unter allen Welträthseln das größte, umfassendste und
schwerste ist dasjenige von der Entstehung und Entwickelung der Welt,
kurz gewöhnlich die "Schöpfungsfrage" genannt. Auch
zur Lösung dieses schwierigsten Welträthsels hat unser
neunzehntes Jahrhundert mehr beigetragen als alle früheren, ja
sie ist ihm sogar bis zu einem gewissen Grade gelungen. Wenigstens sind
wir zu der klaren Einsicht gelangt, daß alle verschiedenen
einzelnen Schöpfungsfragen untrennbar verknüpft sind,
daß sie alle nur ein einziges, allumfassendes "kosmisches
Universal-Problem" bilden, und den Schlüssel zur
Lösung dieser "Weltfrage" giebt uns das eine Zauberwort:
"Entwickelung!" Die großen Fragen von der Schöpfung
des Menschen, von der Schöpfung der Thiere und Pflanzen, von
der Schöpfung der Erde und der Sonne u. s. w., sie alle sind nur
Theile jener Universal-Frage: Wie ist die ganze Welt entstanden? Ist sie
auf übernatürlichem Wege "erschaffen", oder hat sie
sich auf natürlichem Wege "entwickelt"? Welcher Art sind
die Ursachen und die Wege dieser Entwickelung? Gelingt es uns, eine
sichere Antwort auf diese Fragen für eines jener Theil-Probleme zu finden, so haben wir nach unserer einheitlichen
Naturauffassung damit zugleich ein erhellendes Licht auf deren
Beantwortung für das ganze Weltproblem geworfen.
Schöpfung (Creatio). Die herrschende Ansicht
über die Entstehung der Welt war in früheren
Jahrhunderten fast überall, wo denkende Menschen wohnten, der
Glaube an die Schöpfung derselben. In Tausenden von
interessanten, mehr oder weniger fabelhaften Sagen und Dichtungen,
Kosmogonien und Kreations-Mythen hat dieser
Schöpfungs-Glaube seinen mannigfaltigen Ausdruck gefunden.
Frei davon blieben nur wenige große Philosophen und besonders
jene bewunderungswürdigen freien Denker des klassischen
Alterthums, die zuerst den Gedanken der natürlichen
Entwickelung erfaßten. Im Gegensatz zu diesem letzteren
trugen trugen alle jene Schöpfungs-Mythen den Charakter des
Uebernatürlichen, Wunderbaren oder Transcendenten.
Unfähig, das Wesen der Welt selbst zu erkennen und ihre
Entstehung durch natürliche Ursachen zu erklären,
mußte die unentwickelte Vernunft selbstverständlich zum
Wunder greifen. In den meisten Schöpfungs-Mythen
verknüpfte sich mit dem Wunder der Anthropismus. Wie
der Mensch mit Absicht und durch Kunst seine Werke schaffte, so sollte
der bildende "Gott" planmäßig die Welt erschaffen haben; die
Vorstellung dieses Schöpfers war meistens ganz anthropomorph,
ein offenkundiger "anthropistischer Kreatismus". Der
"allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden", wie er im
ersten Buch Moses' und in unserem heute noch gültigen
Katechismus schafft, ist ebenso ganz menschlich gedacht wie der
moderne Schöpfer von Agassiz und Reinke oder der
intelligente "Maschinen-Ingenieur" von anderen Biologen der
Gegenwart.
Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge (Kreation
der Substanz und der Accidenzen). Bei tieferem Eingehen in den
Wunderbegriff der Kreation können wir als zwei wesentlich
verschiedene Akte die totale Schöpfung des Weltalls und die
partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterscheiden,
entsprechend dem Begriffe Spinoza's von der Substanz
(dem Universum) und den Accidenzen (oder Modi,
den einzelnen "Erscheinungsformen der Substanz"). Diese
Unterscheidung ist principiell wichtig; denn es hat viele angesehene
Philosophen gegeben (und es giebt noch heute solche), welche die
erstere annehmen, die letztere dagegen verwerfen.
Schöpfung der Substanz (kosmologischer
Kreatismus). Nach dieser Schöpfungslehre hat "Gott die Welt
aus dem Nichts geschaffen". Man stellt sich vor, daß der "ewige
Gott" (als vernünftiges, aber immaterielles Wesen!) für sich
allein von Ewigkeit her (im Raum) ohne Welt existirte, bis dann einmal
auf den Gedanken kam, "die Welt zu schaffen". Die einen Anhänger
dieses Glaubens beschränken die Schöpfungsthätigkeit
Gottes auf's Aeußerste, auf einen einzigen Akt; sie nehmen an,
daß der extramundane Gott (dessen übrige Thätigkeit
räthselhaft bleibt!) in einem Augenblick die Substanz erschaffen,
ihr die Fähigkeit zur weitestgehenden Entwickelung beigelegt und
sich dann nie weiter um sie bekümmert habe. Diese weit
verbreitete Ansicht ist namentlich im englischen Deismus
vielfach ausgebildet worden; sie nähert sich unserer monistischen
Entwickelungslehre bis zur Berührung und giebt sie nur in dem
einen Momente (der Ewigkeit!) preis, in welchem Gott auf den
Schöpfungsgedanken kam. Andere Anhänger des
kosmologischen Kreatismus nehmen dagegen an, daß "Gott der
Herr" die Substanz nicht bloß einmal erschaffen habe, sondern als
bewußter "Erhalter und Regierer der Welt" in deren Geschichte
fortwirke. Viele Variationen dieses Glaubens nähern sich bald dem
Pantheismus, bald dem konsequenten Theismus. Alle diese
und ähnliche Formen des Schöpfungsglaubens sind
unvereinbar mit dem Gesetz der Erhaltung der Kraft und des Stoffs;
dieses kennt keinen "Anfang der Welt".
Besonders interessant ist, daß E. Du Bois-Reymond in seiner
letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) sich zu diesem
kosmologischen Kreatismus (als Lösung des größten
Welträthsels!) bekannt hat; er sagt; "Der göttlichen
Allmacht würdig allein ist, sich zu denken, daß sie vor
undenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die ganze
Materie so geschaffen habe, daß nach der Materie mitgegebenen
unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für
Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren,
beispielweise hier auf Erden, einfachste Lebewesen entstanden, aus
denen ohne weitere Nachhülfe die heutige Natur von einer
Urbacille bis zum Palmenwalde, von einem Urmikrokokkus bis zu
Suleima's holden Gebärden, bis zu Newton's Gehirn ward. So
kämen wir mit einem Schöpfungstage (!) aus und
ließen ohne alten und neuen Vitalismus die organische Natur rein
mechanisch entstehen." Hier wie bei der Bewußtseins-Frage in der
Ignorabimus-Rede (S. 73) offenbart Du Bois-reymond in
auffallender Weise die geringe Tiefe und Folgerichtigkeit seines
monistischen Denkens.
Schöpfung der Einzeldinge (ontologischer
Kreatismus). Nach dieser individuellen, noch jetzt herrschenden
Schöpfungslehre hat Gott der herr nicht nur die Welt im Ganzen
("aus Nichts!") geschaffen, sondern auch alle einzelnen Dinge in
derselben. In der christlichen Kulturwelt besitzt noch heute die uralte
semitische, aus dem ersten Buch Moses herübergekommene
Schöpfungssage die weiteste Geltung; selbst unter den modernen
Naturforschern findet sie noch hie und da gläubige
Anhänger. Ich habe meine kritische Auffassung derselben im
ersten Kapitel meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte"
eingehend dargelegt. Als interessante Modifikationen dieses
ontologischen Kreatismus dürften folgende Theorien zu
unterscheiden sein: I. Dualistische Kreation: Gott hat sich auf
zwei Schöpfungsakte beschränkt; zuerst schuf er die
anorganische Welt, die todte Substanz, für die allein das Gesetz der
Energie gilt, blind und ziellos wirkend im Mechanismus der
Weltkörper und der Gebirgsbildung; später erwarb Gott
Intelligenz und theilte diese den Dominanten mit, den zielstrebigen,
intelligenten Kräften, welche die Entwickelung der Organismen
bewirken und leiten (Reinke). II. Trialistische Kreation:
Gott die Welt in drei Hauptakten geschaffen: A. Schöpfung
des Himmels (d. h. der außerirdischen Welt); B. Schöpfung
der Erde (als Mittelpunkt der Welt) und ihrer Organismen; C.
Schöpfung des Menschen (als Ebenbild Gottes): dieses Dogma ist
noch heute weit verbreitet unter christlichen Theologen und anderen
"Gebildeten"; es wird in vielen Schulen als Wahrheit gelehrt. III.
Heptamerale Kreation: die Schöpfung in sieben Tagen (nach
Moses). Obgleich nur wenige Gebildete heute noch wirklich an
diesen mosaischen Mythus glauben, wird er dennoch unseren Kindern
schon in der frühesten Jugend mit dem Bibel-Unterricht fest
eingeprägt. Die vielfachen, namentlich in England gemachten
Versuche, denselben mit der modernen Entwickelungslehre in Einklang
zu bringen, sind völlig fehlgeschlagen. Für die
Naturwissenschaft gewann derselbe dadurch große Bedeutung,
daß Linné bei Begründung seines Natur-Systems
(1735) ihn annahm und zur Begriffs-Bestimmung der organischen (von
ihm für beständig gehaltenen Species benutzte: "Es
giebt so viele verschiedene Arten von Thieren und Pflanzen, als im
Anfang von dem unendlichen Wesen reschaffen worden sind." Dieses
Dogma wurde ziemlich allgemein bis auf Darwin (1859)
festgehalten, obgleich Lamarck schon 1809 seine Unhaltbarkeit
dargelegt hatte. IV. Periodische Kreation: im Anfang jeder
Periode der Erdgeschichte wurde die ganze Thier- und Pflanzen-Bevölkerung neu geschaffen und am Ende derselben durch eine
allgemeine Katastrophe vernichtet; es giebt so viele General-Schöpfungs-Akte, als getrennte geologische Perioden auf einander
folgten (die Katastrophen-Theorie von Cuvier, 1818, und von
Louis Agassiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren
unvollkommenen Anfängen (in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts) diese Lehre von den wiederholten Neuschöpfungen
der organischen Welt zu stützen schien, hat dieselbe später
vollständig widerlegt. V. Individuelle Kreation: jeder
einzelne Mensch - ebenso wie jedes einzelne Thier und jedes Pflanzen-Individuum - ist nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungs-Akt entstanden, sondern durch die Gnade Gottes geschaffen ("der alle
Dinge kennt und die Haare auf unserem Haupte gezählt hat"). man
liest diese christliche Schöpfungs-Ansicht noch heute oft in den
Zeitungen, besonders bei Geburts-Anzeigen ("Gestern schenkte uns der
gnädige Gott einen gesunden Knaben" u. s. w.). Auch die
individuellen Talente und Vorzüge unserer Kinder werden oft als
"besondere Gaben Gottes" dankbar anerkannt (die erblichen Fehler
gewöhnlich nicht!).
Entwickelung (Genesis, Evolutio). Die
Unhaltbarkeit der Schöpfungs-Sagen und des damit
verknüpften Wunderglaubens mußte sich schon
frühzeitig denkenden Menschen aufdrängen; wir finden
daher schon vor mehr als zweitausend Jahren zahlreiche Versuche,
dieselben durch eine vernünftige Theorie zu ersetzen und die
Entstehung der Welt mittelst natürlicher Ursachen zu
erklären. Allen voran stehen hierin wieder die großen
Denker der ionischen Naturphilosophie, ferner Demokritos, Heraklitos,
Empedokles, Aristoteles, Lukretius und andere Philosophen des
Alterthums. Die ersten unvollkommenen Versuche, welche sie
unternahmen, überraschen uns zum Theil durch strahlende
Lichtblicke des Geistes, die als Vorläufer moderner Ideen
erscheinen. Indessen fehlte dem klassischen Alterthum jener sichere
Boden der naturphilosophischen Spekulation, der erst durch
unzählige Beobachtungen und Versuche der Neuzeit gewonnen
wurde. Während des Mittelalters - und besonders während
der Gewaltherrschaft des Papismus - ruhte die wissenschaftliche
Forschung auf diesem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen
der Inquisition sorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an
die hebräische Mythologie des Moses als definitive Antwort auf
alle Schöpfungsfragen galt. Selbst diejenigen Erscheinungen, die
unmittelbar zur Beobachtung der Entwickelungs-Thatsachen
aufforderten, die Keimesgeschichte der Thiere und Pflanze, die
Embryologie des Menschen, blieben unbeachtet oder erregten nur hier
und da das Interesse einzelner wißbegieriger Beobachter; aber ihre
Entdeckungen wurden ignorirt und vergessen. Außerdem wurde
der wahren Erkenntniß der natürlichen Entwickelung ihr
Weg von vornherein durch die herrschende Präformations-Lehre versperrt, durch das Dogma, daß die charakterische
Form und Struktur jeder Thier- und Pflanzen-Art schon im Keime
vorgebildet sei (vergl. S. 26).
Entwickelungslehre (Genetik, Evolutismus,
Evolutionismus). Die Wissenschaft, die wir heute
Entwickelungslehre (im weitesten Sinne) nennen, ist sowohl im Ganzen
als in ihren einzelnen Theilen ein Kind des 19. Jahrhunderts; sie
gehört zu dessen wichtigsten und glänzendsten
Erzeugnissen. Thatsächlich ist dieser Begriff, der noch im 18.
Jahrhundert fast unbekannt war, heute bereits ein fester Grundstein
unserer ganzen Weltanschauung geworden. Ich habe die
Grundzüge derselben in früheren Schriften ausführlich
behandelt, am eingehendsten in der "Generellen Morphologie" (1866),
sodann mehr popular in der "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte" (1868), zehnte Auflage 1902) und mit
besonderer Beziehung auf den Menschen in der "Anthropogenie" (1874,
fünfte Auflage 1903). Ich beschränke mich daher hier auf
eine kurze Uebersicht der wichtigsten Fortschritte, welche die
Entwickelungslehre im Laufe des 19. Jahrhunderts gemacht hat; sie
betrifft die natürliche Entstehung 1. des Kosmos, 2. der Erde, 3.
der irdisichen Organismen und 4. des Menschen.
I. Monistische Kosmogenie. Den ersten "Versuch", die
Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen
Weltgebäudes nach "Newton'schen Grundsätzen" - d.
h. durch mathematische und physikalische Gesetze - in einfachster
Weise zu erklären, unternahm Immanuel Kant in seinem
berühmten Jugendwerke, der "Allgemeinen Naturgeschichte und
Theorie des Himmels" (1755). Leider blieb dieses großartige und
kühne Werk 90 Jahre hindurch fast unbekannt; es wurde erst
1845 durch Alexander Humboldt wieder ausgegraben, im ersten
Bande seines "Kosmos". Inzwischen war aber der große
französische Mathematiker Pierre Laplace
selbstständig auf ähnliche Theorien wie Kant
gekommen und führte dieselben mit mathematischer
Begründung weiter aus in seiner "Exposition du systme du
monde" (1796). Sein Hauptwerk "Mécanique céleste" erschien
im Jahre 1799. Die übereinstimmenden Grundzüge der
Kosmogenie von Kant und Laplace beruhen bekanntlich
auf einer mechanischen Erklärung der Planeten-Bewegungen und
der daraus abgeleiteten Annahme, daß alle Weltkörper
ursprünglich aus rotirenden Nebenbällen durch Verdichtung
entstanden sind. Diese "Nebular-Hypothese" oder
"kosmologische Gas-Theorie" ist zwar später vielfach
verbessert und ergänzt worden, sie besteht aber noch heute
unerschüttert als der beste von allen Versuchen, die Entstehung
des Weltgebäudes einheitlich und mechanisch zu erklären
(vergl. Wilhelm Bölsche, Entwickelungsgeschichte der
Natur. I. Bd. 1894). In neuester Zeit hat dieselbe eine bedeutungsvolle
Ergänzung und zugleich Verstärkung durch die Annahme
gewonnen, daß dieser kosmologische Proceß nicht nur
einmal stattgefunden, sondern sich periodisch wiederholt hat.
Während in gewissen Theilen des unendlichen Weltraums aus
rotirenden Nebenbällen neue Weltkörper entstehen und sich
entwickeln, werden in anderen Theilen desselben umgekehrt alte,
erkaltete und abgestorbene Weltkörper durch Zusammenstoß
wieder zerstäubt und in diffuse Nebenmassen aufgelöst.
(Vergl. Zehnder, Die Mechanik des Weltalls. 1897.)
Anfang und Ende der Welt. Fast alle älteren und neueren
Kosmogonien und so auch die meisten, die sich an Kant und
Laplace anschlossen, gingen von der herrschenden Ansicht aus,
daß die Welt einen Anfang gehabt habe. So hätte sich
"im Anfang" nach einer vielverbreiteten Form der "Nebular-Hypothese"
ursprünglich ein ungeheurer Nebelball aus äußerst
dünner und leichter Materie gebildet, und in einem bestimmten
Zeitpunkte ("vor undenklich langer Zeit") habe in diesem eine Rotations-Bewegung angefangen. Ist der "erste Anfang" dieser kosmogenen
Bewegung erst einmal gegeben, so lassen sich dann nach jenen
mechanischen Principien die weiteren Vorgänge in der Bildung
der Weltkörper, der Sonderung der Planeten-Systeme u. s. w.
sicher ableiten und mathematisch begründen. Dieser erste
"Ursprung der Bewegung" ist das zweite
"Welträthsel" von Du Bois-Reymond; er erklärt
dasselbe für transcendent. Auch viele andere Naturforscher
und Philosophen kommen um diese Schwierigkeit nicht herum und
resigniren mit dem Geständniß, daß man hier einen
ersten "übernatürlichen Anstoß", also ein "Wunder",
annehmen müsse.
Nach unserer Ansicht wird dieses "zweite Welträthsel" durch die
Annahme gelöst, daß die Bewegung ebenso eine
immanente und ursprüngliche Eigenschaft der Substanz ist
wie die Empfindung (S. 91). Die Berechtigung zu dieser
monistischen Annahme finden wir erstens im Substanz-Gesetz und
zweitens in den großen Fortschritten, welche die Astronomie und
Physik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht haben.
Durch die Spektral-Analyse von Bunsen und
Kirchhoff (1860) haben wir nicht nur erfahren, daß die
Millionen Weltkörper, welche den unendlichen Weltraum
erfüllen, aus denselben Materien bestehen wie unsere Sonne und
Erde, sondern auch, daß sie sich in verschiedenen Zuständen
der Entwickelung befinden; wir haben sogar mit ihrer Hülfe
Kenntnisse über die Bewegungen und Entfernungen der Fixsterne
gewonnen, welche durch das Fernrohr allein nicht erkannt werden
konnten. Ferner ist das Teleskop selbst sehr bedeutend
verbessert worden und hat uns mit Hülfe der Photographie
eine Fülle von astronomischen Entdeckungen geschenkt, welche im
Beginne des 19. Jahrhunderts noch nicht geahnt werden konnten.
Insbesondere hat die bessere Kenntniß der Kometen und
Sternschnuppen, der Sternhaufen und Nebenflecke, uns die große
Bedeutung der kleinen Weltkörper kennen gelehrt, welche zu
Milliarden zwischen den größeren Sternen im Weltraum
vertheilt sind.
Wir wissen jetzt auch, das die Bahnen der Millionen von
Weltkörpern veränderlich und zum Theil
unregelmäßig sind, während man früher die
Planeten-Systeme als beständig betrachtete und die rotirenden
Bälle in ewiger Gleichmäßigkeit ihre Kreise beschreiben
ließ. Wichtige Aufschlüsse verdankt die Astrophysik aber
auch den gewaltigen Fortschritten in anderen Gebieten der Physik, vor
Allem in der Optik und Elektrik, sowie in der dadurch geförderten
Aether-Theorie. Endlich und vor Allem erweist sich auch hier wieder als
größter Fortschritt unserer Natur-Erkenntniß das
universale Substanz-Gesetz. Wir wissen jetzt, daß dasselbe
ebenso überall in den fernsten Welträumen unbedingte
Geltung hat wie in unserem Planeten System, ebenso in dem kleinsten
Theilchen unserer Erde wie in der kleinsten Zelle unseres Körpers.
Wir sind aber auch zu der wichtigen Annahme berechtigt und logisch
gezwungen, daß die Erhaltung der Materie und der Energie zu allen
Zeilen ebenso allgemein bestanden hat, wie sie heute ohne Ausnhame
besteht. In alle Ewigkeit war, ist und bleibt das unendliche
Universum dem Substanz-Gesetz unterworfen.
Aus allen diesen gewaltigen Fortschritten der Astronomie und Physik,
die sich gegenseitig erläutern und ergänzen, ergiebt sich
eine Reihe von überaus wichtigen Schlüssen über die
Zusammensetzung und Entwickelung des Kosmos, über die
Beharrung und Umbildung der Substanz. Wir fassen dieselben kurz in
folgenden Thesen zusammen: I. Der Weltraum ist unendlich
groß und unbegrenzt; er ist nirgends leer, sondern allenthalben mit
Substanz erfüllt. II. Die Weltzeit ist ebenfalls unendlich und
unbegrenzt; sie hat keinen Anfang und kein Ende, sie ist Ewigkeit. III.
Die Substanz befindet sich überall und jeder Zeit in
ununterbrochener Bewegung und Veränderung; nirgends herrscht
vollkommene Ruhe und Starre; dabei bleibt aber die unendliche
Quantität der Materie ebenso unverändert wie diejenige der
ewig wechselnden Energie. IV. Die Universal-Bewegung der Substanz im
Weltraum ist ein ewiger Kreislauf mit periodisch sich
wiederholenden Entwickelungs-Zuständen. V. Diese Phasen
bestehen in einem periodischen Wechsel der Aggregat-Zustände, wobei zunächst die primäre Sonderung
von Massse und Aether eintritt (die Ergonomie von ponderabler und
imponderabler Materie). VI. Diese Sonderung beruht auf einer
fortschreitenden Verdichtung der Materie, der Bildung von
unzähligen kleisten Verdichtungs-Centren, wobei die immanenten
Ureigenschaften der Substanz die bewirkenden Ursachen sind:
Fühlung und Strebung. VII. Während in einem Theile des
Weltraums durch diesen pyknotischen Proceß zunächst
kleine weiterhin größere Weltkörper entstehen und
der Aether zwischen ihnen in höhere Spannung tritt, erfolgt
gleichzeitig in dem anderen Theile der entgegengesetzte Proceß, die
Zerstörung von Weltkörpern, welche auf einander
stoßen. VIII. Die ungeheuren Wärme-Quantitäten,
welche durch diese mechanischen Processe bei den
Zusammenstößen der rotirenden Weltkörper erzeugt
werden, stellen die neuen lebendigen Kräfte dar, welche die
Bewegung der dabei gebildeten kosmischen Staubmassen und die
Neubildung rotirender Bälle bewirken: das ewige Spiel
beginnt wieder von Neuem. Auch unsere Mutter Erde, die vor Millionen
von Jahrtausenden aus einem Theile des rotirenden Sonnen-Systems
entstanden ist, wird nach Verfluß weiterer Millionen erstarren
und, nachdem ihre Bahn immer kleiner geworden, in die Sonne
stürzen.
Besonders wichtig für die klare Einsicht in den universalen
kosmischen Entwickelungs-Proceß scheinen mir diese modernen
Vorstellungen über periodisch wechselnden Untergang und
Neubildung der Weltkörper, die wir den gewaltigen neueren
Fortschritten der Physik und Astronomie verdanken, in Verbindung mit
dem Substanz-Gesetz. Unsere Mutter "Erde" schrumpft dabei auf
den Werth eines winzigen "Sonnenstäubchens" zusammen, wie
deren ungezählte Millionen im unendlichen Weltenraum
umherjagen. Unser eigenes "Menschenwesen", welches in seinem
anthropistischen Größenwahn sich als "Ebenbild Gottes"
verherrlicht, sinkt zur Bedeutung eines placentalen Säugethiers
hinab, welches nicht mehr Werth für das ganze Universum besitzt
als die Ameise und die Eintagfliege, als das mikroskopische Infusorium
und der winzigste Bazillus. Auch wir Menschen sind nur
vorübergehende Entwickelungs-Zustände der ewigen
Substanz, individuelle Erscheinungsformen der Materie und Energie,
deren Nichtigkeit wir begreifen, wenn wir sie dem unendlichen Raum
und der unendlichen Zeit gegenüberstellen.
Raum und Zeit. Seitdem Kant die Begriffe von Raum und
Zeit als bloße "Formen der Anschauung" erklärt hat - den
Raum als Form der äußeren, die Zeit als Form der inneren
Anschauung -, hat sich über diese wichtigen Probleme der
Erkenntniß ein gewaltiger Streit erhoben, der auch heute noch
fortdauert. Bei einem großen Teile der modernen Metaphysiker hat
sich die Ansicht befestigt, daß dieser "kritischen That" als
Ausgangpunkt einer "rein idealistischen Erkenntniß-Theorie" die
größte Bedeutung beizulegen sei, und daß damit die
natürliche Ansicht des gesunden Menschen-Verstandes von der
Realität des Raumes und der Zeit wiederlegt sei. Diese
einseitige und ultraidealistische Auffassung jener beiden Grundbegriffe
ist die Quelle der größten Irrthümer geworden; sie
übersieht, daß Kant mit jenem Satze nur die eine Seite
des Problems, die subjektive, streifte, daneben aber die andere,
die objektive, als gleichberechtigt anerkannte; er sagte: "Raum
und Zeit haben empirische Realität, aber transcendentale
Idealität." Mit diesem Satze Kant's kann sich unser
moderner Monismus wohl einverstanden erklären, nicht aber mit
jener einseitigen Geltendmachung der subjektiven Seite des Problems;
denn diese führt in ihrer Konsequenz zu jenem absurden
Idealismus, der in Berkeley's Satze gipfelt: "Körper sind nur
Vorstellungen, ihr Dasein besteht im Wahrgenommenwerden". Dieser
Satz sollte heißen: "Körper sind für mein
persönliches Bewußtsein nur Vorstellungen; ihr Dasein ist
ebenso real wie daßjenige meiner Denkorgane, nämlich der
Ganglienzellen des Großhirns, welche die Eindrücke der
Körper auf meine Sinnesorgane aufnehmen und durch Associon
derselben jene Vorstellung bilden." Ebenso gut, wie ich die
"Realität von Raum und Zeit" bezweifle, oder gar leugne, kann ich
auch diejenige meines eigenen Bewußtseins leugnen; im Fieber-Delirium, in Hallucinationen, im Traum, im Doppelbewußtsein halte
ich Vorstellungen für wahr, welche nicht real, sondern
"Einbildungen" sind; ich halte sogar meine eigene Person für eine
andere (S. 76); das berühmte "Cogito ergo sum" gilt hier
nicht mehr. Dagegen ist die Realität von Raum und Zeit jetzt
endgültig bewiesen durch die Erweiterung unserer
Weltanschauung, welche wir dem Substanz-Gesetz und der monistischen
Kosmogenie verdanken. Nachdem wir die unhaltbare Vorstellung vom
"leeren Raum" glücklich abgestreift haben, bleibt uns als das
unendliche, "raumerfüllende Medium" die Materie,
und zwar in ihren beiden Formen: Aether und Masse. Und
ebenso betrachten wir auf der anderen Seite als das
"zeiterfüllende Geschehen" die ewige Bewegung oder
genetische Energie, welche sich in der ununterbrochenen
Entwickelung der Substanz äußert, in dem
"Perpetuum mobile" des Universum.
Universum perpetuum mobile. Da jeder bewegte Körper
seine Bewegung so lange fortsetzt, als ihn nicht äußere
Umstände daran hindern, kam der Mensch schon vor
Jahrtausenden auf den Gedanken, Apparate zu bauen, die sich einmal in
Bewegung gesetzt, immerfort in derselben Weise weiter bewegen. Man
übersah dabei, daß jede Bewegung auf äußere
Hindernisse stößt und allmählich aufhört, wenn
nicht ein neuer Anstoß von außen erfolgt, wenn nicht eine
neue Kraft zugeführt wird, die jede Hindernisse überwindet.
So würde z. B. ein schwingendes Pendel in Ewigkeit mit derselben
Geschwindigkeit sich hin und her bewegen, wenn nicht Widerstand der
Luft und die Reibung im Aufhängepunkte die mechanische
lebendige Kraft seiner Bewegung aufhöben und in Wärme
verwandelten. Wir müssen ihn durch einen neuen Anstoß
(oder bei der Pendeluhr durch Aufziehen des Gewichtes) neue
mechanische Kraft zuführen. Daher ist die Konstruktion einer
Maschine, welche ohne äußere Hülfe einen einen
Arbeitsüberschuß erzeugt, durch den sie sich selbst
immerfort in Gang erhält, unmöglich. Alle Versuche, ein
solches Perpetuum mobile zu bauen, mußten fehlschlagen;
die Erkenntniß des Substanz-Gesetzes bewies sodann auch
theoretisch die Unmöglichkeit desselben.
Anders verhält es sich aber, wenn wir den Kosmos als
Ganzes in's Auge Fassen, das unendliche Weltall, welches in ewiger
Bewegung begriffen ist. Die unendliche Materie, welche objektiv
denselben erfüllt, nennen wir in unserer subjektiven Vorstellung
"Raum"; die ewige Bewegung derselben, die objektiv eine
periodische, in sich selbst zurückkehrende Entwickelung darstellt,
nennen wir subjektiv "Zeit". Diese beiden "Formen der
Anschauung" überzeugen uns von der Unendlichkeit und Ewigkeit
des Weltalls. Damit ist aber zugleich gesagt, daß das ganze
Universum selbst ein allumfassendes Perpetuum mobile
ist. Diese unendliche und ewige "Maschine des Weltalls" erhält sich
selbst in ewiger und ununterbrochener Bewegung, weil jedes
Hinderniß durch ein "Aequivalent der Energie" ausgeglichen wird,
weil die unendlich große Summe der aktuellen und
potentiellen Energie ewig dieselbe bleibt. Das Gesetz von der Erhaltung
der Kraft beweist also, daß die Vorstellung des Perpetuum
mobile für den ganzen Kosmos ebenso wahr und
fundamental bedeutend ist, wie sie für die isolierte Aktion eines
Theiles desselben unmöglich ist. Dadurch wird auch die
Lehre von der Entropie widerlegt.
Entropie des Weltalls. Der scharfsinnige Begründer der
mechanischen Wärmetheorie (1850), Clausius,
faßte den wichtigsten Inhalt dieser bedeutungsvollen Lehre in zwei
Hauptsätzen zusammen. Der erste Hauptsatz lautet: "Die Energie
des Weltalls ist konstant"; er bildet die eine Hälfte unseres
Substanz-Gesetzes, das "Energie-Princip" (S. 93). Der zweite Hauptsatz
behauptet: Die Entropie des Weltalls strebt einem Maximum zu";
dieser zweite Hauptsatz ist nach unserer Ansicht ebenso irrig, wie der
erste richtig ist. Nach der Ansicht von Clausius zerfällt die
Gesammt-Energie des Weltalls in zwei Theile, von denen der eine (als
Wärme von höherer Temperatur, als mechanische,
elektrische, chemische Energie u. s. w.) noch theilweise in Arbeit
umsetzbar ist, der andere dagegen nicht; diese letztere, die bereits in
Wärme verwandelte und in kälteren Körpern
angesammelte Energie, ist für weitere Arbeitsleistung
unwiederbringlich verloren. Diesen unverbrauchten Energie-Theil, der
nicht mehr in mechanische Arbeit umgesetzt werden kann, nennt
Clausius Entropie (d. h. die nach innen gewendete Kraft); er
wächst beständig auf Kosten des ersten Theils. Da nun
tagtäglich immer mehr mechanische Energie des Weltalls in
Wärme übergeht und diese nicht in die erstere
zurückverwandelt werden kann, muß die gesammte
(unendliche!) Quantität der Wärme und Energie immer mehr
zerstreut und herabgesetzt werden. Alle Temperatur-Unterschiede
müßten zuletzt verschwinden und die völlig gebundene
Wärme gleichmäßig in einem einzigen trägen
Klumpen von starrer Materie verbreitet sein; alles organische Leben und
alle organische Bewegung würde aufgehört haben, wenn
dieses Maximum der Entropie erreicht wäre; das wahre
"Ende der Welt" wäre da. Vergl. Felix Auerbach, Die
Weltherrin und ihr Schatten, 1902.
Wenn diese Lehre von der Entropie richtig wäre, so
müßte dem angenommenen "Ende der Welt" auch ein
ursprünglicher "Anfang" derselben entsprechen, ein
Minimum der Entropie, in welchem die Temperatur-Differenzen
der gesonderten Welttheile die größten waren. Beide
Vorstellungen sind nach unserer monistischen und streng konsequenten
Auffassung des ewigen kosmogenetischen Processes gleich unhaltbar;
beide widersprechen dem Substanz-Gesetz. Es giebt einen Anfang der
Welt ebenso wenig als ein Ende derselben. Wie das Universum
unendlich ist, so bleibt es auch ewig in Bewegung; ununterbrochen
findet eine Verwandlung der lebendigen Kraft in Spannkraft statt und
umgekehrt; und die Summe dieser aktuellen und potentiellen Energie
bleibt immer dieselbe. Der zweite Hauptsatz der mechanischen
Wärme-Theorie widerspricht dem ersten und muß
aufgegeben werden.
Die Vertheidiger der Entropie behaupten dieselbe dagegen mit Recht,
sobald sie nur einzelne Processe in's Auge fassen, bei welchen
unter gewissen Bedingungen die gebundene Wärme nicht
in Arbeit zurückberwandelt werden kann. So kann z. B. bei der
Dampfmaschine die Wärme nur dann in mechanische Arbeit
umgewandelt werden, wenn sie aus einem wärmeren Körper
(Dampf) in einen kälteren (Kühlwasser) übergeht, aber
nicht umgekehrt. Im großen Ganzen des Weltalls herrschen
aber ganz andere Verhältnisse; hier sind Bedingungen gegeben, in
denen auch die umgekehrte Verwandlung der latenten Wärme in
mechanische Arbeit stattfinden kann. So werden z. B. beim
Zusammenstoße von zwei Weltkörpern, die mit ungeheurer
Geschwindigkeit auf einander treffen, kolossale Wärme-Mengen
frei, während die zerstäubten Massen in den Weltraum
hinausgeschleudert und zerstreut werden. Das ewige Spiel der
rotirenden Massen mit Verdichtung der Theile, Ballung neuer kleiner
Meteoriten, Vereinigung derselben zu größeren u. s. w.
beginnt dann von Neuem. Vergl. Zehnder, Die Mechanik des
Weltalls, 1897.
II. Monistische Geogenie. Die Entwickelungsgeschichte der
Erde, auf die wir jetzt noch einen flüchtigen Blick werfen, bildet
nur einen winzig kleinen Theil von derjenigen des Kosmos. Sie ist zwar
auch gleich dieser seit mehreren Jahrtausenden Gegenstand der
philosophischen Spekulation und noch mehr der mythologischen
Dichtung gewesen; aber ihre wirklich wissenschaftliche Erkenntniß
ist viel jünger und stammt zum weitaus größten Theile
aus unserem 19. Jahrhundert. Im Princip war die Natur der Erde, als
eines Planeten der um die Sonne kreist, schon durch das Weltsystem des
Kopernikus (1543) bestimmt; durch Galilei, Keppler
und andere große Astronomen war ihr Abstand von der Sonne, ihr
Bewegungs-Gesetz u. s. w. mathematisch festgestellt. Auch war bereits
durch die Kosmogenie von Kant und Laplace der Weg
gezeigt, auf welchem sich die Erde aus der Mutter Sonne entwickelt
hatte. Aber die spätere Geschichte unsers Planeten, die Umbildung
seiner Oberfläche, die Entstehung der Kontinente und Meere, der
Gebirge und Wüsten war noch zu Ende des 18. und den ersten
beiden Decennien des 19. Jahrhunderts nur wenig Gegenstand ernster
wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen; meistens begnügte
man sich mit der Annahme der traditionellen Schöpfungssagen;
insbesondere war es auch hier wieder der überlieferte Glaube an
die mosaische Schöpfungsgeschichte, welcher der
selbstständigen Forschung von vornherein den Weg zur wahren
Erkenntniß verlegte.
Erst im Jahre 1822 erschien ein bedeutendes Werk, welches zur
wissenschaftlichen Erforschung der Erdgeschichte diejenige Methode
einschlug, die sich bald als die weitaus fruchtbarste erwies, die
ontologische Methode oder das Princip des Aktualismus.
sie besteht darin, daß wir die Erscheinungen der Gegenwart
genau studiren und benutzen, um dadurch die ähnlichen
geschichtlichen Vorgänge der Vergangenheit zu
erklären. die Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen
hatte daraufhin 1818 eine Preisaufgabe gestellt für: "Die
gründlichste und umfassendste Untersuchung über die
Veränderungen der Erdoberfläche, welche in der Geschichte
sich nachweisen lassen und die Anwendung, welche man von ihrer
Kunde bei Erforschung der Erdrevolutionen, die außer dem Gebiete
der Geschichte liegen, machen kann". Die Lösung dieser wichtigen
Preisaufgabe gelang Karl Hoff aus Gotha in seinem
ausgezeichneten Werke: "Geschichte der durch Ueberlieferungen
nachgewiesenen natürlichen Veränderungen der
Erdoberfläche" (in vier Bänden, 1822-1834). In
umfassendster Weise und mit größtem Erfolge wurde dann
die von ihm begründete ontologische oder aktualistische
Methode auf das gesammte Gebiet der Geologie von dem
großen englischen Geologen Charles Lyell angewendet; seine
Principien der Geologie (1830) legten den festen Grund, auf dem
die folgende Geschichte der Erde mit so glänzenden Erfolge
weiterbaute. Die bedeutungsvollen geogenetischen Forschungen von
Alexander Humboldt und Leopold Buch, von Gustav
Bischof und Eduard Süß, wie von vielen anderen
modernen Geologen stützen sich sämmtlich auf die festen
empirischen Grundlagen und spekulativen Principien, welche wir den
bahnbrechenden Untersuchungen von Karl Hoff und Charles
Lyell verdanken; sie machten der reinen, vernünftigen
Wissenschaft die Bahn frei auf dem Gebiete der Erdgeschichte; sie
entfernten die gewaltigen Hindernisse, welche auch hier die
mythologische Dichtung und die religiöse Tradition
aufgehäuft hatten, vor Allem die Bibel und die darauf
gegründete christliche Mythologie. Ich habe die großen
Verdienste von Charles Lyell und dessen Beziehungen zu seinem
Freunde Charles Darwin bereits im sechsten und
fünfzehnten Vortrage meiner "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte" besprochen für die weitere
Kenntniß der Erdgeschichte und der gewaltigen Fortschritte, welche
die dynamische und historische Geologie im neunzehnten Jahrhundert
gemacht haben, verweise ist auf die bekannten Werke von
Süß, Neumayr, Credner und Johannes
Walther.
Als zwei Hauptabschnitte der Ergeschichte müssen wir vor Allem
die anorganische und organische Geogenie unterscheiden;
die letztere beginnt mit dem ersten Auftreten lebender Wesen auf
unserem Erdball. die anorganische Geschichte der Erde, der
ältere Abschnitt, verlief in derselben Weise wie diejenige der
übrigen Planeten unseres Sonnensystems; sie alle lösten sich
vom Aequator des rotirenden Sonnen-Körpers als Nebelringe ab,
welche sich allmählich zu selbstständigen Weltkörpern
verdichteten. Aus dem gasförmigen Nebelball wurde durch
Abkühlung der gluthflüssige Erdball, und weiterhin entstand
an dessen Oberfläche durch fortschreitende Wärme-Ausstrahlung die dünne feste Rinde, welche wir bewohnen.
Erst nachdem die Temperatur an der Oberfläche bis zu einem
gewissen Grade gesunken war, konnte sich aus der umgebenden
Dampfhülle das erste tropfbar-flüssige Wasser
niederschlagen, und damit war die wichtigste Vorbedingung für
die Entstehung des organischen Lebens gegeben. Viele Millionen Jahre -
jedenfalls mehr als hundert! - sind verflossen, seitdem dieser
bedeutungsvolle Vorgang, der der Wasserbildung, eintrat und damit die
Einleitung zum dritten Hauptabschnitt der Kosmogenie, zur
Biogenie.
III. Monistische Biogenie. Der dritte Hauptabschnitt der
Weltentwickelung beginnt mit der ersten Entstehung der Organismen
auf unserem Erdball und dauert seitdem ununterbrochen bis zur
Gegenwart fort. Die großen Welträthsel, welche dieser
interessanteste Theil der Erdgeschichte uns vorlegt, galten noch im
Anfange des 19. Jahrhunderts allgemein für unlösbar oder
doch für so schwierig, daß ihre Lösung in weitester
Ferne zu liegen schien; am Ende desselben dürfen wir mit
berechtigtem Stolze sagen, daß sie durch die moderne
Biologie und ihren Transformismus im Princip gelöst
sind; ja selbst viele einzelne Erscheinungen dieses wunderbaren
"Lebensreiches" sind heute so vollkommen physikalisch erklärt
wie irgend ein wohlbekanntes physikalisches Phänomen in der
anorganischen Natur. Das Verdienst, den ersten aussichtsreichen Schritt
auf dieser schwierigen Lösung aller biologischen Probleme gezeigt
zu haben, gebührt dem geistvollen französischen
Naturforscher Jean Lamarck; er veröffentlichte 1809, im
Geburtsjahre von Charles Darwin, seine gedankenreiche
"Philosophie zoologique". In diesem originellen Werke ist nicht
allein der großartige Versuch gemacht worden, alle Erscheinungen
des organischen Lebens von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus zu
erklären, sondern auch der Weg eröffnet, auf dem allein das
schwierigste Räthsel dieses Gebietes gelöst werden kann, das
Problem von der natürlichen Entstehung der organischen Species-Formen. Lamarck, der gleich ausgedehnte empirische Kenntnisse
in Zoologie und Botanik besaß, entwarf hier zum ersten Male die
Grundzüge der Abstammungslehre oder Descendenz-Theorie; er zeigte, wie alle die unzähligen Formen des Thier-
und Pflanzenreiches durch allmähliche Umbildung aus
gemeinsamen einfachsten Stammformen hervorgegangen sind, und wie
die allmähliche Veränderung der Gestalten durch
Anpassung, in Wechselwirkung mit Vererbung, diese
langsame Transmutation bewirkt hat.
Im fünften Vortrage meiner "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte" habe ich die Verdienste von
Lamarck nach Gebühr gewürdigt, im sechsten und
siebenten Vortrage diejenigen seines größten Nachfolgers,
Charles Darwin (1859). Durch ihn wurden fünfzig Jahre
später nicht nur alle wichtigen Hauptsätze der Descendenz-Theorie unwiderleglich begründet, sondern auch durch
Einführung der Selektions-Theorie oder
Züchtungslehre die Lücke ausgefüllt, welche der
Erstere gelassen hatte. Der Erfolg, welchen Lamarck trotz aller
Verdienste nicht hatte erlangen können, wurde Darwin in
reichstem Maße zu Theil; sein epochemachendes Werk "Ueber den
Ursprung der Arten durch natürliche Züchtung" hat im Laufe
der letzten vierzig Jahre die ganze moderne Biologie von Grund aus
umgestaltet und sie auf eine Stufe der Entwickelung gehoben, welche
derjenigen aller übrigen Naturwissenschaften nichts nachgiebt.
Darwin ist der Kopernikus der organischen Welt geworden, wie
ich schon 1868 aussprach und wie E. Du Bois-Reymond
fünfzehn Jahre später wiederholte. (Vergl. "Monismus", S.
39)
IV. Monistische Anthropogenie. Als vierter und letzter
Hauptabschnitt der Weltentwickelung kann für uns Menschen
derjenige jüngste Zeitraum gelten, innerhalb dessen sich unser
eigenes Geschlecht entwickelt hat. Schon Lamarck (1809) hatte
klar erkannt, daß diese Entwickelung vernünftiger Weise nur
auf einem natürlichen Wege denkbar sei, durch
"Abstammung vom Affen", als von dem nächstverwandten
Säugethiere. Huxley zeigte sodann (1863) in seiner
berühmten Abhandlung über "die Stellung des Menschen in
der Natur", daß diese bedeutungsvolle Annahme ein nothwendiger
Folgeschluß der Descendenz-Theorie und durch anatomische,
embryologische und paläontologische Thatsachen
wohlbegründet sei; er erklärte diese "Frage aller Fragen" im
Princip für gelöst. Darwin behandelte sodann dieselbe
in geistreicher Weise von verschiedenen Seiten in seinem Werke
über "die Abstammung des Menschen und die natürliche
Zuchtwahl" (1871). Ich selbst hatte schon in meiner Generellen
Morphologie (1866) diesem wichtigsten Special-Problem der
Abstammungslehre ein besonderes Kapitel gewidmet. 1874
veröffentlichte ich meine Anthropogenie, in der zum ersten
Male der Versuch durchgeführt ist, die Abstammung des
Menschen durch seine ganze Ahnenreihe bis zur ältesten
archigonen Moneren-Form hinauf zu verfolgen; ich stützte mich
dabei gleichmäßig auf die drei großen Urkunden der
Stammesgeschichte, auf die vergleichende Anatomie, Ontogenie und
Paläontologie (Fünfte umgearbeitete Auflage 1903). Wie
weit wir in den letzten Jahren durch zahlreiche wichtige Fortschritte der
anthropogenetischen Forschung gekommen sind, habe ich in dem
Vortrage gezeigt, den ich 1898 auf dem internationalen Zoologen-Kongresse in Cambridge "über unsere gegenwärtige
Kenntniß vom Ursprung des Menschen" gehalten habe (Bonn,
siebente Auflage 1899).
Vierzehntes Kapitel
Einheit der Natur.
Monistische Studien über die materielle und energetische Einheit
des Kosmos. - Mechanismus und Vitalismus. - Ziel, Zweck und Zufall.
------
Inhalt: Monismus des Kosmos. Principielle Einheit der
organischen und anorganischen Natur. Kohlenstoff-Theorie (Karbogen-Theorie). Hypothese der Urzeugung (Archigonie). Mechanische und
zweckthätige Ursachen. Mechanik und Teleologie bei Kant. Der
Zweck in der organischen und anorganischen Natur. Vitalismus,
Lebenskraft. Neovitalismus, Dominanten. Dysteleologie (Lehre von den
rudimentären Organen). Unzweckmäßigkeit und
Unvollkommenheit der Natur. Zielstrebigkeit in den organischen
Körpern. Ihre Abwesenheit in der Ontogenese und in der
Phylogenese. Platonische Ideen. Sittliche Weltordnung, nicht
nachzuweisen in der organischen Erdgeschichte, in der Wirbelthier-Geschichte, in der Völker-Geschichte. Vorsehung. Ziel, Zweck und
Zufall.
Durch das Substanz-Gesetz ist zunächst die fundamentale
Thatsache erwiesen, daß jede Naturkraft mittelbar oder
unmittelbar in jede andere imgewandelt werden kann. Mechanische und
chemische Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektrizität
können in einander übergeführt werden und erweisen
sich nur als verschiedene Erscheinungsformen einer und derselben
Urkraft, der Energie. Daraus ergiebt sich der bedeutungsvolle Satz
von der Einheit aller Naturkräfte oder wie wir auch sagen
können, dem "Monismus der Energie". Im gesammten
Gebiete der Physik und Chemie ist dieser Fundamental-Satz jetzt
allgemein anerkannt, soweit er die anorganischen Naturkörper
betrifft.
Anders verhält sich scheinbar die organische Welt, das bunte und
formenreiche Gebiet des Lebens. Zwar liegt es auch hier auf der Hand,
daß ein großer Theil der Lebenserscheinungen
unmittelbar auf mechanische und chemische Energie, auf elektrische
und Licht-Wirkungen zurückzuführen ist. Für einen
anderen Theil derselben aber wird das auch heute noch bestritten, so
vor Allem für das Welträthsel des Seelenlebens,
insbesondere des Bewußtseins. Hier ist es nun das hohe Verdienst
der modernen Entwickelungslehre, die Brücke zwischen
den beiden, scheinbar getrennten Gebieten geschlagen zu haben. Wir
sind jetzt zu der klaren Ueberzeugung gelangt, daß auch alle
Erscheinungen des organischen Lebens ebenso dem universalen
Substanz-Gesetz unterworfen sind wie die anorganischen
Phänomene im unendlichen Kosmos.
Die Einheit der Natur, die hieraus folgt, die Ueberwindung des
früheren Dualismus, ist sicher eines der werthvollsten Ergebnisse
unserer modernen Genetik. Ich habe diesen "Monismus des
Kosmos", die principielle "Einheit der organischen und anorganischen
Natur" schon vor 36 Jahren sehr eingehend zu begründen
versucht, indem ich die Uebereinstimmung der beiden großen
Naturreiche in Beziehung auf Stoffe, Formen und Kräfte einer
eingehenden kritischen Prüfung und Vergleichung unterzog
(Generelle Morphologie, 5. Kap.). Einen kurzen Auszug ihrer Ergebnisse
enthält der fünfzehnte Vortrag meiner "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte". Während die hier entwickelten
Anschauungen von der großen Mehrzahl der Naturforscher
gegenwärtig angenommen sind, ist doch neurdings von mehreren
Seiten der Versuch gemacht worden, dieselben zu bekämpfen und
den alten Gegensatz von zwei verschiedenen Natur-Gebieten aufrecht zu
erhalten. Den konsequentesten Versuch enthält das kürzlich
erschienene Werk des Botanikers Reinke: "Die Welt als That".
Dasselbe vertritt in lobenswerther Klarheit und Konsequenz den
reinen kosmologischen Dualismus und beweist damit selbst, wie
gänzlich unhaltbar die damit verknüpfte teleologische
Weltanschauung ist. In dem ganzen Gebiete der anorganischen Natur
sollen danach nur physikalische und chemische Kräfte wirken, in
demjenigen der organischen Natur daneben noch "intelligente
Kräfte", die Richtkräfte oder Dominanten. Nur im ersteren
Gebiete soll das Substanz-Gesetz Geltung haben, im letzeren nicht. In der
Hauptsache handelt es sich auch hier wieder um den uralten Gegensatz
der mechanischen und teleologischen Weltanschauung.
Bevor wir auf denselben eingehen, wollen wir kurz auf zwei andere
Theorien hinweisen, welche nach meiner Ueberzeugung für die
Entscheidung dieser wichtigen Probleme sehr werthvoll sind, die
Kohlenstoff-Theorie und die Urzeugungs-Lehre.
Kohlenstoff-Theorie (Karbogon-Theorie). Die
physiologische Chemie hat im Laufe der letzten vierzig Jahre durch
unzählige Analysen folgende fünf Thatsachen festgestellt: 1.
In den organischen Naturkörpern kommen keine anderen
Elemente vor als in den anorganischen. II. Diejenigen Verbindungen der
Elemente, welche dem Organismus eigenthümlich sind, und welche
ihre "Lebenserscheinungen" bewirken, sind zusammengesetzte Plasma-Körper, aus der Gruppe der Albuminate oder Eiweiß-Verbindungen. III. Das organische Leben selbst ist ein chemisch-physikalischer Proceß, der auf dem Stoffwechsel dieser
plasmatischen Albuminate beruht. IV. Dasjenige Element, welches allein
im Stande ist, diese zusammengesetzten Eiweißkörper in
Verbindung mit anderen Elementen (Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff,
Schwefel) aufzubauen, ist der Kohlenstoff. V. Diese plasmatischen
Kohlenstoff-Verbindungen zeichnen sich vor den meisten anderen
chemischen Verbindungen durch ihre sehr komplicirte Molekular-Struktur aus, durch ihre Unbeständigkeit und ihren gequollenen
Aggregat-Zustand. Auf Grund dieser fünf fundamentalen
Thatsachen stellte ich im Jahre 1866 folgende Karbogen-Theorie
auf: "Lediglich die eigenthümlichen, chemisch-physikalischen
Eigenschaften des Kohlenstoffs - und namentlich der festflüssige
Aggregatzustand und die leichte Zersetzbarkeit der höchst
zusammengesetzten, eiweißartigen Kohlenstoff-Verbindungen -
sind die mechanischen Ursachen jener eigenthümlichen
Bewegungs-Erscheinungen, durch welche sich die Organismen von den
Anorganen unterscheiden, und die man im engeren Sinne das Leben
nennt" (Natürl. Schöpfungsgesch. X. Aufl., S. 357). Obwohl
diese "Kohlenstoff-Theorie" von mehreren Biologen heftig angegriffen
worden ist, hat doch bisher Keiner eine bessere monistische Theorie an
deren Stelle gesetzt. Heute, wo wir die physiologischen
Verhältnisse des Zellenlebens, die Chemie und Physik des
lebendigen Plasma viel besser und gründlicher kennen als vor 36
Jahren, läßt sich die Karbogen-Theorie viel eingehender und
sicherer begründen, als es damals möglich war.
Archigonie oder Urzeugung. Der alte Begriff der
Urzeugung (Generatio spontanea oder aequivoca)
wird heute noch in sehr verschiedenem Sinne verwendet; gerade die
Unklarheit über diesen Begriff und die widersprechende
Anwendung desselben auf ganz verschiedene, alte und neue Hypothesen
sind schuld daran, daß dieses wichtige Problem zu den
bestrittendsten und konfusesten Fragen der ganzen Naturwissenschaft
bis auf den heutigen Tag gehört. Ich beschränke den Begriff
der Urzeugung - als Archigonie oder Abiogenesis! - auf die
erste Entstehung von lebendem Plasma aus anorganischen Kohlenstoff-Verbindungen und unterscheide als zwei Haupt-Perioden in diesem
"Beginn der Biogenesis" I. die Autogonie, die Entstehung
von einfachsten Plasma-Körpern in einer anorganischen
Bildungsflüssigkeit, und II. die Plasmogonie, die
Individualisirung von primitivsten Organismen aus jenen Plasma-Verbindungen, in Form von Moneren. Ich habe diese wichtigen,
aber auch sehr schwierigen Probleme im 15. Kapitel meiner
Natürlichen Schöpfungsgeschichte so eingehend behandelt,
daß ich hier darauf verweisen kann. Eine sehr ausführliche
und streng wissenschaftliche Erörterung derselben habe ich
bereits 1866 in der "Generellen Morphologie" gegeben (Bd. I, S. 167-190); später hat Naegeli in seiner Mechanisch-physiologischen Theorie der Abstammungslehre (1884) die Hypothese
der Urzeugung ganz in demselben Sinne sehr eingehend behandelt und
als eine unentbehrliche Annahme der natürlichen
Entwickelungs-Theorie bezeichnet. Ich stimme vollkommen seinem
Satze bei: "Die Urzeugung leugnen heißt das Wunder
verkünden."
Teleologie und Mechanik. Sowohl die Hypothese der Urzeugung
als die eng damit verknüpfte Kohlenstoff-Theorie besitzen die
größte Bedeutung für die Entscheidung des alten
Kampfes zwischen der teleologischen (dualistischen) und der
mechanischen (monistischen) Beurtheilung der Erscheinungen.
Seit Darwin uns vor vierzig Jahren durch seine Selektions-Theorie den Schlüssel zur monistischen Erklärung der
Organisation in die Hand gab, sind wir in den Stand gesetzt, die bunte
Mannigfaltigkeit der zweckmäßigen Einrichtungen in der
lebendigen Körperwelt ebenso auf natürliche mechanische
Ursachen zurückzuführen, wie dies vorher nur in der
anorganischen Natur möglich war. Die übernatürlichen
zweckthätigen Ursachen, zu welchen man früher seine
Zuflucht hatte nehmen müssen, sind dadurch
überflüssig geworden. Trotzdem fährt die moderne
Metaphysik fort, die letzteren als unentbehrlich und die ersteren als
unzureichend zu bezeichnen.
Werkursachen (Causae efficientes) und Endursachen
(Causae finales). Den tiefen Gegensatz zwischen den
bewirkenden Ursachen (oder Werkursachen) und den
zweckthätigen Ursachen (oder Endursachen) hat mit Bezug auf die
Erklärung der Gasammtnatur kein neuerer Philosoph
schärfer hervorgehoben, als Immanuel Kant. In seinem
berühmten Jugendwerke, der "Allgemeinen Naturgeschichte und
Theorie des Himmels", hatte er 1755 den kühnen Versuch
unternommen, "die Verfassung und den mechanischen Ursprung des
ganzen Weltgebäudes nach Newton'schen
Grundsäzten abzuhandeln". diese "kosmologische Gastheorie"
stützte sich ganz auf die mechanischen Bewegungs-Erscheinungen
der Gravitation; sie wurde später von dem großen
Astronomen und Mathmatiker Laplace weiter ausgebildet und
mathematisch begründet. Als dieser von Napoleon I. gefragt
wurde, welche Stelle in seinem System Gott, der Schöpfer und
Erhalter des Weltalls, einnehme, antwortete er klar und ehrlich: "Sire,
ich bedarf dieser Hypothese nicht." Damit war der atheistische
Charakter dieser mechanischen Kosmogenie, den sie mit allen
anorganischen Wissenschaften theilt, offen anerkannt. Dies muß
um so mehr hervorgehoben werden, als die Kant-Laplace'sche
Theorie noch heute ein fast allgemeiner Geltung steht; alle Versuche, sie
durch eine bessere zu ersetzen, sind fehlgeschlagen. Wenn man den
Atheismus noch heute in weiten Kreisen als einen schweren
Vorwurf betrachtet, so trifft dieser die gesammte moderne
Naturwissenschaft, insofern sie die anorganische Welt unbedingt
mechanisch erklärt.
Der Mechanismus allein (im Sinne Kant's!) giebt uns eine
wirkliche Erklärung der Natur-Erscheinungen, indem er
dieselben auf reale Werkursachen zurückführt, auf blinde
und bewußtlos wirkende Bewegungen, welche durch die materielle
Konstitution der betreffenden Naturkörper selbst bedingt sind.
Kant selbst betont, daß es "ohne diesen Mechanismus der
Natur keine Naturwissenschaft geben kann", und daß die
Befugniß der menschlichen Vernunft zur mechanischen
Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt sei. Als
er aber später in seiner Kritik der teleologischen Urtheilkraft die
Erklärung der verwickelten Erscheinungen in der
organischen Natur besprach, behauptete er, daß dafür
jene mechanischen Ursachen nicht ausreichend seien; hier müsse
man zweckmäßig wirkende Endursachen zu Hülfe
nehmen. Zwar sei auch hier die Befugniß unserer Vernunft zur
mechanischen Erklärung anzuerkennen, aber ihr
Vermögen sei begrenzt. Allerdings gestand er ihr theilweise
dieses Vermögen zu, aber für den größten Theil
der Lebenserscheinungen (und besonders für die
Seelenthätigkeit des Menschen) hielt er die Annahme von
Endursachen unentbehrlich. Der merkwürdige 79 der Kritik der
Urtheilskraft trägt die charakteristische Ueberschrift: "Von der
nothwendigen Unterordnung des Princips des Meschanismus unter das
teleologische in Erklärung eines Dinges als Naturzweck". Die
zweckmäßigen Einrichtungen im Körperbau der
organischen Wesen schienen Kant ohne Annahme
übernatürlicher Endursachen (d. h. also einer
planmäßig wirkenden Schöpferkraft) so
unerklärlich, daß er sagte: "Es ist ganz gewiß, daß
wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach
bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend
kennen, viel weniger uns erklären können, und zwar so
gewiß, daß man dreist sagen kann: Es ist für Menschen
ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder rzuhoffen,
daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne,
der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die
keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man
muß diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen.
Siebenzig Jahre später ist dieser unmögliche "Newton
der organischen Natur" in Darwin wirklich erschienen und hat die
große Aufgabe gelöst, die Kant für
unlösbar erklärt hatte. (Vergl. Anm. 3, S. 158.)
Der Zweck in der anorganischen Natur (anorganische
Teleologie). Seitdem Newton (1682) das Gravitations-Gesetz
aufgestellt, und seitdem Kant (1755) "die Verfassung und den
mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach
Newton'schen Grundsätzen" festgestellt - seitdem endlich
Laplace (1796) dieses Grundgesetz des Weltmechanismus
mathematisch begründet hatte, sind die sämmtlichen
anorganischen Naturwissenschaften rein mechanisch und damit
zugleich rein atheistisch geworden. In der Astronomie und
Kosmogenie, in der Geologie und Meteorologie, in der anorganischen
Physik und Chemie gilt seitdem die absolute Herrschaft mechanischer
Gesetze auf mathematischer Grundlage als unbedingt feststehend.
Seitdem ist aber auch der Zweckbegriff aus diesem ganzen
großen Gebiete verschwunden. Jetzt, am Schlusse unseres
neunzehnten Jahrhunderts, wo diese monistische Betrachtung nach
harten Kämpfen sich zu allgemeiner Geltung durchgerungen hat,
fragt kein Naturforscher mehr im Ernste nach dem Zweck irgend einer
Erscheinung in diesem ganzen unermeßlichen Gebiete. Oder sollte
wirklich noch heute im Ernste ein Astronom nach dem Zwecke der
Planeten-Bewegungen oder ein Mineraloge nach dem Zwecke der
einzelnen Kristallformen fragen? Oder sollte ein Physiker über den
Zweck der elektrischen Kräfte oder ein Chemiker über den
Zweck der Atom-Gewichte grübeln? Wir dürfen getrost
antworten: Nein! Sicher nicht in dem Sinne, daß der "liebe
Gott" oder eine zielstrebige Naturkraft diese Grundgesetze des
Weltmechanismus einmal plötzlich "aus nichts" zu einem
bestimmten Zweck erschaffen hat, und daß er sie nach seinem
vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt. Diese
anthropomorphe Vorstellung von einem zweckthätigen
Weltbaumeister und Weltherrscher ist hier völlig
überwunden; an seiner Stelle sind die "ewigen, ehernen,
großen Naturgesetze" getreten.
Der Zweck in der organischen Natur (biologische
Teleologie). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als in der
anorganischen besitzt der Zweckbegriff noch heute in der
organischen Natur. Im Körperbau und in der
Lebensthätigkeit aller Organismen tritt uns die
Zweckthätigkeit unleugbar entgegen. Jede Pflanze und jedes Thier
erscheinen in der Zusammensetzung aus einzelnen Theilen ebenso
für einen bestimmten Lebenszweck eingerichtet wie die
künstlichen, vom Menschen erfundenen und konstruirten
Maschinen; und solange ihr Leben fortdauert, ist auch die Funktion der
einzelnen Organe ebenso auf bestimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit
in den einzelnen Theilen der Maschine. Es ist daher ganz
naturgemäß, daß die ältere naive
Naturbetrachtung für die Entstehung und die
Lebensthätigkeit der organischen Wesen einen Schöpfer in
Anspruch nahm, der mit "Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet"
hatte, und der jedes Thier und jede Pflanze ihrem besonderen
Lebenzwecke entsprechend organisirt hatte. Gewöhnlich wurde
dieser "allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden"
durchaus anthropomorph gedacht; er schuf "jegliches Wesen nach seiner
Art". Solange dabei dem Menschen der Schöpfer noch in
menschlicher Gestalt erschien, denkend mit seinem Gehirn, sehend mit
seinen Augen, formend mit seinen Händen, konnte man sich von
diesem "göttlichen Maschinenbauer" und von seiner
künstlerischen Arbeit in der großen Schöpfungs-Werkstätte noch eine anschauliche Vorstellung machen. Viel
schwieriger wurde dies, als sich der Gottesbegriff läuterte und
man in dem "unsichtbaren Gott" einen Schöpfer ohne Organe (- ein
gasförmiges Wesen -) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich
wurden diese anthropistischen Vorstellungen, als die Physiologie an die
Stelle des bewußt bauenden Gottes die unbewußt schaffende
"Lebenskraft" setzte - eine unbekannte, zweckmäßig
thätige Naturkraft, welche von den bekannten physikalischen und
chemischen Kräften verschieden war und diese nur zeitweise - auf
Lebenszeit - in Dienst nahm. Dieser Vitalismus blieb noch bis in
die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschend; er fand seine
thatsächliche Widerlegung erst durch den großen
Physiologen Johannes Müller in Berlin. Zwar war auch
dieser gewaltige Biologe (gleich allen anderen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts) im Glauben an die Lebenskraft aufgewachsen und
hielt sie für die Erklärung der "letzten Lebensursachen"
für unentbehrlich, aber er führte zugleich in seinem
klassischen, noch heute unübertroffenen Lehrbuch der Physiologie
(1833) den indirekten Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr
anzufangen ist. Müller selbst zeigte in einer langen Reihe
von scharfsinningen Experimenten, daß die meisten
Lebensthätigkeiten im Organismus des Menschen ebenso wie der
übrigen Thiere nach physikalischen und chemischen Gesetzen
geschehen, daß viele von ihnen sogar mathematisch bestimmbar
sind. Das gilt ebensowohl von den animalen Funktionen der Muskeln
und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von den
vegetalen Vorgängen bei der Ernährung und dem
Stoffwechsel, der Verdauung und dem Blutkreisklauf. Räthselhaft
und ohne die Annahme einer Lebenkraft nicht erklärbar blieben
eigentlich nur zwei Gebiete, das der höheren
Seelenthätigkeit (Geistesleben) und das der Fortpflanzung
(Zeugung). Aber auch auf diesen Gebieten wurden unmittelbar nach
Müller's Tode solche gewaltige Entdeckungen und
Fortschritte gemacht, daß das unheimliche "Gespenst der
Lebenskraft" auch aus diesen letzten Schlupfwinkeln verschwand. Es
war gewiß ein merkwürdiger chronologischer Zufall, das
Johannes Müller 1858 in demselben Jahre starb, in
welchem Charles Darwin die ersten Mittheilungen über
seine epochemachende Theorie veröffentlichte. Die Selektions-Theorie des Letzteren beantwortete das große Räthsel,
vor welchem der Erstere stehen geblieben war: die Frage von der
Entstehung zweckmäßiger Einrichtungen durch rein
mechanische Ursachen.
Der Zweck in der Selektions-Theorie (Darwin 1859). Das
unsterbliche philosophische Verdienst Darwin's bleibt, wie wir
schon oft betont haben, ein doppeltes: erstens die Reform der
älteren, 1809 von Lamarck begründeten
Descendenz-Theorie, ihre Begründung durch das gewaltige,
im Laufe dieses halben Jahrhunderts angesammelte Thatsachen-Material - und zweitens die Aufstellung der Selektions-Theorie,
jener Zuchtwahllehre, welche uns erst eigentlich die wahren
bewirkenden Ursachen der allmählichen Art-Umbildung
enthüllt. Darwin zeigte zuerst, wie der gewaltige "Kampf
um's Darsein" der unbewußt wirkende Regulator ist, welcher
die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung bei der
allmählichen Transformation der Species leitet; er ist der
große "züchtende Gott", welcher ohne Absicht neue
Formen ebenso durch "natürliche Auslese" bewirkt, wie der
züchtende Mensch neue Formen mit Absicht durch
"künstliche Auslese" hervorbringt. Damit wurde das große
philosophische Räthsel gelöst: "Wie können
zweckmäßige Einrichtungen rein mechanisch entsthen, ohne
zweckmäßige Ursachen?" Kant hat dieses schwierige
Welträthsel noch für unlösbarer erklärt, obwohl
schon mehr als 2000 Jahre früher der große Denker
Empedokles auf den Weg seiner Lösung hingewiesen hatte.
Neuerdings hat sich aus derselben das Princip der "teleologischen
Mechanik" zu immer größerer Geltung entwickelt und hat
auch die feinsten und verborgensten Einrichtungen der organischen
Wesen uns durch die "funktionelle Selbstgestaltung der
zweckmäßigen Struktur" mechanisch erklärt. Damit ist
aber der transcendente Zweckbegriff unserer teleologischen Schul-Philosophie beseitigt, das größte Hinderniß einer
vernünftigen und einheitlichen Natur-Auffassung.
Neovitalismus. In neuester Zeit ist das alte Gespenst der
mystischen Lebenskraft, das gründlich getödtet schien,
wieder aufgelebt; verschiedene angesehene Biologen haben versucht,
dasselbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die klarste und
konsequenteste Darstellung desselben hat kürzlich der Kieler
Botaniker J. Reinke gegeben. Er vertheidigt den Wunderglauben
und den Theismus, die Mosaische
Schöpfungsgeschichte und die Konstanz der Arten; er nennt
die "Lebenskräfte", im Gegensatze zu den physikalischen
Kräften, Richtkräfte, Oberkräfte oder
Dominanten. Andere nehmen statt dessen, in ganz
anthropistischer Auffassung, einen "Maschinen-Ingenieur" an,
welcher der organischen Substanz eine zweckmäßige, auf ein
bestimmtes Ziel gerichtete Organisation beigegeben habe. Diese
seltsamen teleologischen Hypothesen bedürfen heute ebenso
wenig mehr einer wissenschaftlichen Widerlegung, als die naiven,
meistens damit verknüpften Einwürfe gegen den
Darwinismus.
Unzweckmäßigkeitslehre (Dysteleologie).
Unter diesem Begriffe habe ich schon im 1866 die Wissenschaft von
denjenigen, überaus interessanten und wichtigen biologischen
Thatsachen aufgestellt, welche in handgreiflichster Weise die
hergebrachte teleologische Auffassung von der
"zweckmäßigen Einrichtung der lebendigen
Naturkörper" direkt widerlegen. Diese "Wissenschaft von den
rudimentären, abortiven, verkümmerten, fehlgeschlagenen,
atrophischen oder kataplastischen Individuen" stützt sich auf eine
unermeßliche Fülle der merkmürdigsten
Erscheinungen, welche zwar den Zoologen und Botanikern längst
bekannt waren, aber erst durch Darwin ursächlich
erklärt und in ihrer hohen philosophischen Bedeutung
vollständig gewürdigt worden sind.
Alle höheren Thiere und Pflanzen, überhaupt alle diejenigen
Organismen, deren Körper nicht ganz einfach gebaut, sondern aus
mehreren, zweckmäßig zusammenwirkenden Organen
zusammengesetzt ist, lassen bei aufmerksamer Untersuchung eine
Anzahl von nutzlosen oder unwirksamen, ja zum Theil sogar
gefährlichen und schädlichen Einrichtungen erkennen. In
den Blüthen der meisten Pflanzen finden sich neben den
wirksamen Geschlechts-Blättern, welche die Fortpflanzung
vermitteln, einzelne nutzlose Blatt-Organe ohne Bedeutung
(verkümmerte oder "fehlgeschlagene" Staubfäden,
Fruchtblätter, Kronen-, Kelchblätter u. s. w.). In den beiden
großen und formenreichen Klassen der fliegenden Thiere,
Vögel und Insekten, giebt es neben den gewöhnlichen, ihre
Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von
Formen, deren Flügel verkümmert sind, und die nicht
fliegen können. Fast in allen Klassen der höheren Thiere, die
ihre Augen zum Sehen gebrauchen, existiren einzelne Arten, welche im
Dunkeln leben und nicht sehen; trotzdem besitzen auch diese noch
meistens Augen; nur sind sie verkümmert, zum Sehen nicht mehr
tauglich. An unserem eigenen menschlichen Körper besitzen wir
solche nutzlose Rudimente in den Muskeln unseres Ohres, in der
Nickhaut unseres Auges, in der Brustwarze und Milchdrüse des
Mannes und in anderen Körpertheilen; ja der gefürchtete
Wurmfortsatz unseres Blinddarmes ist nicht nur unnütz, sondern
sogar gefährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menschen
durch seine Entzündung zu Grunde.
Die Erklärung dieser und vieler anderen zwecklosen
Einrichtungen im Körperbau der Thiere und Pflanzen vermag
weder der alte mystische Vitalismus noch der neue, ebenso
irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden wir sie sehr
einfach durch die Descendenz-Theorie. Sie zeigt, daß diese
rudimentären Organe verkümmert sind, und zwar
durch Nichtgebrauch. Ebenso, wie die Muskeln, die Nerven, die
Sinnesorgane durch Uebung und häufigeren Gebrauch
gestärkt werden, ebenso erleiden sie umgekehrt durch
Unthätigkeit und unterlassenen Gebrauch mehr oder weniger
Rückbildung. Aber obgleich so durch Uebung und Anpassung die
höhere Entwicklung der Organe gefördert wird, so
verschwinden sie doch keineswegs sofort spurlos durch
Nichtübung; vielmehr werden sie durch die Macht der Vererbung
noch während vieler Generationen erhalten und verschwinden
erst allmählich nach längerer Zeit. Der blinde "Kampf um's
Dasein zwischen den Organen" bedingt ebenso ihren historischen
Untergang, wie er ursprünglich ihre Entstehung und Ausbildung
verurschte. Ein immanenter "Zweck" spielt dabei überhaupt keine
Rolle.
Unvollkommenheit der Natur.. Wie das Menschen-Leben so
bleibt auch das Thier- und Pflanzen-Leben immer und überall
unvollkommen. Diese Thatsache ergiebt sich einfach aus der
Erkenntniß, daß die Natur - ebenso die organische und die
anorganische - in einem beständigen Flusse der
Entwickelung, der Veränderung und Umbildung begriffen
ist. Diese Entwickelung erscheint uns im Großen und Ganzen -
wenigstens soweit wir die Stammesgeschichte der organischen Natur auf
unserem Planeten übersehen können - als eine
fortschreitende Umbildung, als ein historischer Fortschritt vom
Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Niederen zum Höheren,
vom Unvollkommenen zum Vollkommenen. Ich habe schon in der
Generellen Morphologie (1866) den Nachweis geführt, daß
dieser historische Fortschritt (Progressus) - oder die
allmähliche Vervollkommnung (Teleosis) - die
nothwendige Wirkung der Selektion ist, nicht aber die Folge eines
vorbedachten Zweckes. Das ergiebt sich auch daraus, daß kein
Organismus ganz vollkommen ist; selbst wenn er in einem gegebenen
Augenblicke den Umständen vollkommen angepaßt
wäre, würde dieser Zustand nicht lange dauern; denn die
Existenz-Bedingungen der Außenwelt sind selbst einem
beständigen Wechsel unterworfen und bedingen damit eine
ununterbrochene Anpassung der Organismen.
Zielstrebigkeit in den organischen Körpern insbesondere.
Unter diesem Titel veröffentlichte der berühmte
Embryologie Karl Ernst Baer 1876 einen Aufsatz, der im
Zusammenhang mit dem nachfolgenden Artikel über
Darwin's Lehre den Gegnern derselben sehr willkommen erschien
und auch heute noch vielfach gegen die moderne Entwickelungstheorie
verwerthet wird. Zugleich erneuerte er die alte teleologische
Naturbetrachtung unter einem neuen Namen; dieser muß hier
einer kurzen Kritik unterzogen werden. Vorauszuschicken ist dabei der
Hinweis, daß Baer zwar ein Naturphilosoph im besten Sinne
war, daß aber seine ursprünglichen monistischen
Anschauungen mit zunehmendem Alter immer mehr durch einen tiefen
mystischen Zug beeinflußt und zuletzt rein dualistisch
wurden. In seinem grundlegenden Hauptwerke "über
Entwickelungsgeschichte der Thiere" (1828), das er selbst als
"Beobachtung und Reflexion" bezeichnet, sind diese beiden
Erkenntnißthätigkeiten gleichmäßig verwerthet.
Durch sorgfältigste Beobachtung aller einzelnen Vorgänge
bei der Entwickelung des thierischen Eies gelangte Baer zur
ersten zusammenhängenden Darstellung aller der wunderbaren
Umbildungen, welche bei der Entstehung des Wirbelthier-Körpers
aus der einfachen Eikugel sich abspielen. Durch umsichtige Vergleichung
und scharfsinnige Reflexion suchte er aber zugleich die Ursachen jener
Transformation zu erkennen und sie auf allgemeine Bildungsgesetze
zurückzuführen. Als allgemeinstes Resultat derselben sprach
er den Satz aus: "Die Entwickelungsgeschichte des Individuum ist die
Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung."
Dabei betonte er daß "der Eine Grundgedanke, der alle
einzelnen Verhältnisse der thierischen Entwickelung beherrscht,
derselbe ist, der im Weltraum die vertheilte Masse in Sphären
sammelte und diese zu Sonnensystemen verband. Dieser Gedanke ist
aber nichts als das Leben selbst, und die Worte und Silben, in
denen er sich ausspricht, sind die verschiedenen Formen des
Lebendigen".
Zu einer tieferen Erkenntniß dieses genetischen Grundgedankens
und zur klaren Einsicht in die wahren bewirkenden Ursachen der
organischen Entwickelung vermochte Baer damals nicht zu
gelangen, weil sein Studium ausschließlich der einen Hälfte
der Entwickelungsgeschichte gewidmet war, derjenigen der
Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne der
Ontogenie. Die andere Hälfte derselben, die
Entwickelungsgeschichte der Stämme und Arten, unsere
Stammesgeschichte oder Phylogenie, existirte damals noch nicht,
obwohl der weitschauende Lamarck schon 1809 den Weg zu
derselben gezeigt hatte. Ihre spätere Begründung durch
Darwin (1859) vermochte der gealterte Baer nicht mehr zu
verstehen; der nutzlose Kampf, den er gegen dessen Selektions-Theorie
führte, zeigt klar, daß er weder deren eigentlichen Sinn noch
ihre philosophische Bedeutung erkannte. Teleologische und später
damit verknüpfte theosophische Spekulationen hatten den alten
Baer unfähig gemacht, diese größte Reform der
Biologie gerecht zu würdigen; die teleologischen Betrachtungen,
welche er gegen sie in seinen "Reden und Studien" (1876) als
84jähriger Greis in's Feld führte, sind nur Wiederholugen
von ähnlichen Irrthümern, wie sie die
Zweckmäßigkeits-Lehre der dualistischen Philosophie seit
mehr als zweitausend Jahren gegen die mechanistische oder monistische
Weltanschauung aufgeführt hatte. Der "zielstrebige
Gedanke", welcher nach Baer's Vorstellung die ganze
Entwickelung des Thierkörpers aus der Eizelle bedingt, ist nur ein
anderer Ausdruck für die ewige "Idee" von Plato
und für die "Entelechie" seines Schülers
Aristoteles.
Unsere moderne Biogenie erklärt dagegen die embryologischen
Thatsachen rein physiologisch, indem sie als bewirkende mechanische
Ursachen derselben die Funktionen der Vererbung und Anpassung
erkennt. Das biogenetische Grundgesetz, für welches
Baer kein Verständniß gewinnen konnte,
eröffnet uns den innigen kausalen Zusammenhang zwischen der
Ontogenese der Individuen und der Phylogenese ihrer
Vorfahren; die erstere erscheint uns jetzt als eine erbliche
Rekapitulation der letzteren. Nun können wir aber in der
Stammesgeschichte der Thiere und Pflanzen nirgends eine
Zielstrebigkeit erkennen, sondern lediglich das nothwendige Resultat des
gewaltigen Kampfes um's Dasein, der als blinder Regulator, nicht als
vorsehender Gott, die Umbildung der organischen Formen durch
Wechselwirkung der Anpassungs- und Vererbungsgesetze bewirkt.
Ebenso wenig können wir aber auch bewußte
"Zielstrebigkeit" in der Keimesgeschichte der Individuen annehmen, in
der Embryologie der einzelnen Pflanzen, Thiere und Menschen. Denn
diese Ontogenie ist ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie, eine
abgekürzte und gedrängte Wiederholung derselben durch
die physiologischen Gesetze der Vererbung.
Das Vorwort zu seiner klassischen "Entwickelungsgeschichte der Thiere"
schloß Baer 1828 mit den Worten: "Die Palme wird der
Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die bildenden
Kräfte des thierischen Körpers auf die allgemeinen
Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen
zurückzuführen. Der Baum aus welchem seine Wiege
gezimmert werden soll, hat noch nicht gekeimt." - Auch darin irrte der
große Embryologe. In demselben Jahre 1828 bezog der junge
Charles Darwin die Universität Cambridge, um Theologie (!)
zu studiren, der gewaltige "Glückliche", der die Palme dreißig
Jahre später durch seine Selektions-Theorie wirklich errang.
Sittliche Weltordnung. In der Philosophie der Geschichte, in
den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geschichtsschreiber
über die Schicksale der Völker und über den
verschlungenen Gang der Staatenentwickelung anstellen, herrscht noch
heute die Annahme einer "sittlichen Weltordnung". Die Historiker
suchen in dem bunten Wechsel der Völker-Geschicke einen
leitenden Zweck, eine ideale Absicht, welche diese oder jene Rasse,
diesen oder jenen Staat zu besonderem Gedeihen auserlesen und zur
Herrschaft über die anderen bestimmt hat. Diese teleologische
Geschichtsbetrachtung ist neuerdings umso schärfer in
principiellen Gegensatz zu unserer monistischen Weltanschauung
getreten, je sicherer sich diese letztere im gesammten Gebiete der
organischen Natur als die allein berechtigte herausgestellt hat. In der
gesammten Astronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der Physik
und Chemie spricht heute Niemand mehr von einer sittlichen
Weltordnung, ebenso wenig als von einem persönlichen Gotte,
dessen "Hand mit Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet hat".
Dasselbe gilt aber auch von dem gesammten Gebiete der Biologie, von
der ganzen Verfassung ud Geschichte der organischen Natur,
zunächst den Menschen ausgenommen. Darwin hat uns in
seiner Selektions-Theorie nicht nur gezeigt, wie die
zweckmäßigen Einrichtungen im Leben und im
Körperbau der Thiere und Pflanzen ohne vorbedachten Zweck
mechanisch entstanden sind, sondern er hat uns auch in seinem
"Kampf um's Dasein" die gewaltige Naturmacht erkennen gelehrt,
welche den ganzen Entwickelungsgang der organischen Welt seit vielen
Jahrmillionen ununterbrochen beherrscht und regelt. Man könnte
freilich sagen: Der "Kampf um's Dasein" ist das "Ueberleben des
Passendsten" oder der "Sieg des Besten"; das kann man aber nur, wenn
man das Stärkere stets als das Beste (in moralischem Sinne!)
betrachtet; und überdies zeigt uns die ganze Geschichte der
organischen Welt, daß neben dem überwiegenden Fortschritt
zum Vollkommenen jeder Zeit auch einzelne Rückschritte zu
niederen Zuständen vorkommen. Selbst die "Zielstrebigkeit" im
Sinne Baer's trägt durchaus keinen moralischen
Charakter!
Verhält es sich nun in der Völkergeschichte, die der Mensch
in seinem anthropocentrischen Größenwahn die
"Weltgeschichte" zu nennen liebt, etwa anders? Ist da überall und
jeder Zeit ein höchstes moralisches Princip oder ein weiser
Weltregent zu entdecken, der die Geschicke der Völker leitet? Die
unbefangene Antwort kann heute, bei dem vorgeschrittenen Zustande
unserer Naturgeschichte und Völkergeschichte nur lauten:
Nein! Die Geschicke der Zweige des Menschengeschlechts, die als
Rassen und Nationen seit Jahrtausenden um ihre Existenz und ihre
Fortbildung gerungen haben, unterliegen genau denselben "ewigen,
ehernen, großen Gesetzen" wie die Geschichte der ganzen
organischen Welt, die seit vielen Jahrmillionen die Erde bevölkert.
Die Geologen unterscheiden in der "organischen Erdgeschichte", soweit
sie uns durch die Denkmäler der Versteinerungskunde bekannt
ist, drei große Perioden: das primäre, sekundäre und
tertiäre Zeitalter. Die Zeitdauer der ersteren soll nach einer
neueren Berechnung mindestens 34 Millionen, die der zweiten 11, die
der dritten 3 Millionen Jahre betragen haben (- nach anderen
Berechnungen mehr als das Dreifache dieser Zeit! -). Die Geschichte des
Wirbelthier-Stammes, aus dem unser eigenes Geschlecht entsprossen ist,
liegt innerhalb dieses langen Zeitraumes klar vor unseren Augen; drei
verschiedene Entwickelungsstufen der Vertebraten waren in jenen drei
großen Periode successiv entwickelt; in der primären
(paläozoischen) Periode die Fische, in dem
sekundären (mesozoischen) Zeitalter die Reptilien, in
dem tertiären (cänozoischen) die
Säugethiere. Von diesen drei Hauptgruppen der
Wirbelthiere nehmen die Fische den niedersten, die Reptilien einen
mittleren, die Säugethiere den höchsten Rang der
Vollkommenheit ein. Bei tieferem Eingehen in die Geschichte der drei
Klassen finden wir, daß auch die einzelnen Ordnungen und
Familien derselben innerhalb der drei Zeiträume sich
fortschreitend zu höherer Vollkommenheit entwickelten. Kann
man nun diesen fortschreitenden Entwickelungsgang als Ausfluß
einer bewußten zweckmäßigen Zielstrebigkeit oder
einer sittlichen Weltordnung bezeichnen? Durchaus nicht! Denn die
Selektions-Theorie lehrt uns, daß der organische Fortschritt,
ebenso wie die organische Differenzierung, eine nothwendige
Folge des Kampfes um's Dasein ist. Tausende von guten,
schönen, bewunderungswürdigen Arten des Thier- und
Pflanzenreiches sind im Laufe jener 48 Millionen Jahre zu Grunde
gegangen, weil sie anderen, stärkeren Platz machen mußten,
und diese Sieger im Kampfe um's Dasein waren nicht immer die edleren
oder im moralischen Sinne vollkommneren Formen.
Genau dasselbe gilt von der Völkergeschichte. Die
bewunderungswürdige Kultur des klassischen Alterthums ist zu
Grunde gegangen, weil das Christenthum dem ringenden
Menschengeiste damals durch den Glauben an einen liebenden Gott und
die Hoffnung auf ein besseres jenseitiges Leben einen gewaltigen neuen
Aufschwung verlieh. Der Papismus wurde zwar bald zur schamlosen
Karikatur des reinen Christenthums und zertrat schonungslos die
Schätze der Erkenntniß, welche die hellenische Philosophie
schon erworben hatte; aber er gewann die Weltherrschaft durch die
Unwissenheit der blindgläubigen Massen. Erst die
Reformation zerriß die Ketten dieser Geistes-Knechtschaft und
verhalf wieder den Ansprüchen der Vernunft zu ihrem Rechte.
Aber auch in dieser neuen wie in jenen früheren Perioden der
Kulturgeschichte, wogt ewig der große Kampf um's Dasein hin und
her, ohne jede moralische Ordnung.
Vorsehung. So wenig bei unbefangener und kritischer
Betrachtung eine "moralische Weltordnung" im Gange der
Völkergeschichte nachzuweisen ist, ebenso wenig können
wir eine "weise Vorsehung" im Schicksal der einzelnen Menschen
anerkennen. Dieses wie jener wird mit eiserner Nothwendigkeit durch
die mechanische Kausalität bestimmt, welche jede Erscheinung aus
einer oder mehreren vorhergehenden Ursachen ableitet. Schon die alten
Hellenen erkannten als höchstes Weltprincip die Ananke,
die blinde Heimarmene, das Fatum, das "Götter und
Menschen beherrscht". An ihre Stelle trat im Christenthum die
bewußte Vorsehung, welche nicht blind, sondern sehend ist, und
welche die Weltregierung als patriarchalischer Herrscher führt.
Der anthropomorphe Charakter dieser Vorstellung, die sich
gewöhnlich mit derjenigen des "persönlichen Gottes" eng
verknüpft, liegt auf der Hand. Der Glaube an einen "liebenden
Vater", der die Geschicke von 1500 Millionen Menschen auf unserem
Planeten unablässig lenkt und dabei die millionenfach sich
kreuzenden Gebete und "frommen Wünsche" derselben jederzeit
berücksichtigt, ist vollkommen unhaltbar: das ergiebt sich sofort,
wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber die farbige Brille
des "Glaubens" ablegt.
Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenschen - geradeso
wie beim ungebildeten Wilden - der Glaube an die Vorsehung und die
Zuversicht zum liebenden Vater dann sich lebhaft einzustellen, wenn
ihm irgend etwas Glückliches begegnet ist: Errettung aus
Lebensgefahr, Heilung von schwerer Krankheit, Gewinn des großen
Looses in der Lotterie, Geburt eines lang ersehnten Kindes u. s. w. Wenn
dagegen irgend ein Unglück passirt oder ein heißer Wunsch
nicht erfüllt wird, so ist die "Vorsehung" vergessen; der weise
Weltregent hat dann geschlafen oder seinen Segen verweigert.
Bei dem ungeheueren Aufschwung des Verkehrs im 19. Jahrhundert hat
nothwenig die Zahl der Verbrechen und Unglücksfälle in
einem früher nicht geahnten Maße zugenommen; das
erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem Jahre gehen
Tausende von Menschen zu Grunde durch Schiffbrüche, Tausende
durch Eisenbahn-Unglücke, Tausende durch Bergwerks-Katastrophen u. s. w. Viele Tausende tödten sich alle Jahre
gegenseitig im Kriege, und die Zurüstung für diesen
Massenmord nimmt bei den höchstentwickelten, die christliche
Liebe bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten
Theil des National-Vermögens in Anspruch. Und unter jenen
Hunderttausenden, die alljährlich als Opfer der modernen
Civilisation fallen, befinden sich überwiegend tüchtige,
thatkräftige, arbeitsame Menschen. Dabei redet man noch von
sittlicher Weltordnung! Es soll durchaus nicht bestritten werden,
daß der heute noch herrschende und in den Schulen gelehrte
Glaube an eine "sittliche Weltordnung" - ebenso wie an eine "liebevolle
Vorsehung" - einen hohen Ideal-Werth besitzt. Er tröstet
die Leidenden, stärkt die Schwachen, erhebt im Unglück; er
befriedigt unser zweifelndes Gemüth und versetzt uns in eine
Ideal-Welt des "Jenseits", in welcher die Mängel des irdischen
Daseins im "Diesseits" überwunden sind. So lange der Mensch
kindlich und unerfahren genug bleibt, mag er sich mit diesen Gebilden
der Dichtung begnügen. Allein das fortgeschrittene Kultur-Leben
der Gegenwart reißt ihn gewaltsam aus jener schönen Ideal-Welt heraus und stellt ihn vor Aufgaben, zu deren Lösung ihn nur
die vernünftige Erkenntniß der Wirklichkeit befähigt.
Unzweifelhaft wird die frühzeitige Anpassung an diese Real-Welt, zweckmäßig in den Unterricht eingeführt und
auf die moderne Entwickelungslehre gestützt, den höher
gebildeten Menschen der Zukunft nicht allein vernünftiger und
vorurtheilsfreier, sondern auch besser und glücklicher machen.
Ziel, Zweck und Zufall. Wenn uns unbefangene Prüfung
der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein bestimmtes Ziel
noch ein besonderer Zweck (im Sinne der menschlichen Vernunft!)
nachzuweisen ist, so scheint nichts übrig zu bleiben, als Alles dem
"blinden Zufall" zu überlassen. Dieser Vorwurf ist in der
That ebenso dem Transformismus von Lamark und
Darwin wie früher der Kosmogenie von Kant
und Laplace entgegengehalten worden; viele dualistische
Philosophen legen gerade hierauf besonders Gewicht. Es verlohnt sich
daher wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick
darauf zu werfen.
Die eine Gruppe der Philosophen behauptet nach ihrer
teleologischen Auffassung: die ganze Welt ist ein geordneter
Kosmos, in dem alle Erscheinungen Ziel und Zweck haben; es giebt
keinen Zufall! Die andere Gruppe dagegen meint
gemäß ihrer mechanistischen Auffassung: Die
Entwickelung der ganzen Welt ist ein einheitlich mechanischer
Prozeß, in dem wir nirgends Ziel und Zweck entdecken
können; was wir im organischen Leben so nennen, ist eine
besondere Folge der biologischen Verhältnisse; weder in der
Entwickelung der Weltkörper, noch in derjenigen unserer
organischen Erdrinde ist ein leitender Zweck nachzuweisen; hier ist
Alles Zufall! Beide Parteien haben Recht, je nach der Definition
des "Zufalls". Das allgemeine Kausal-Gesetz, in Verbindung mit
dem Substanz-Gesetz, überzeugt uns, daß jede Erscheinung
ihre mechanische Ursache hat; in diesem Sinne giebt es keinen Zufall.
Wohl aber können und müssen wir diesen unentbehrlichen
Begriff beibehalten, um damit das Zusammentreffen von zwei
Erscheinungen zu bezeichnen, die nicht unter sich kausal
verknüpft sind, von denen aber natürlich jede ihre Ursache
hat unabhängig von der anderen. Wie Jedermann weiß, spielt
der Zufall in diesem monistischen Sinne die größte Rolle im
Leben des Menschen wie in demjenigen aller anderen
Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem
einzelnen "Zufall" wie in der Entwickelung des Weltganzen die
universale Herrschaft des umfassendsten Naturgesetzes anerkennen, des
Substanz-Gesetzes.
Fünfzehntes Kapitel
Gott und die Welt.
Monistische Studien über Theismus und Pantheismus. Der
anthropistische Monotheismus der drei großen Mediterran-Religionen. Extramundaner und intramundaner Gott.
------
Inhalt: Gottes_Vorstellung im Allgemeinen. Gegensatz von Gott
und Welt, von Uebernatürlichem und Natur. Theismus und
Pantheismus. Hauptformen des Theismus. Polytheismus. Tripletheismus
(Dreigötterei). Amphitheismus (Zweigötterei). Monotheismus
(Eingötterei). Statistik der Religionen. Naturalistischer
Monotheismus. Solarismus (Sonnenkultus). Anthropistischer
Monotheismus. Die drei großen Mittelmeer-Religionen. Mosaismus
(Jehovah). Christenthum (Trinität). Madonnen-Kultus und Heilige.
Papistischer Polytheismus. Islam. Mixotheismus (Mischgötterei).
Wesen des Theismus. Extramundaner und anthropomorpher Gott.
Gasförmiges Wirbelthier. Pantheismus. Intramundaner Gott
(Natur). Hylozoismus der ionischen Monisten (Anaximander). Konflikt
des Pantheismus und des Christenthums. Spinoza. Moderner Monismus.
Atheismus.
Als letzten und höchsten Urgrund aller Erscheinungen betrachtet
die Menschheit seit Jahrtausenden eine bewirkende Ursache unter dem
Begriffe Gott (Deus, Theos). Wie alle anderen
allgemeinen Begriffe, so ist auch dieser höchste Grundbegriff im
Laufe der Vernunft-Entwicklung den bedeutendsten Umbildungen und
den mannigfaltigsten Abartungen unterworfen gewesen. Ja man kann
sagen, daß kein anderer Begriff so sehr umgestaltet und
abgeändert worden ist; denn kein anderer berührt in gleich
hohem Maße sowohl die höchsten Aufgaben des
erkennenden Verstandes und der vernünftigen Wissenschaft als
auch zugleich die tiefsten Interessen des gläubigen
Gemüthes und der dichtenden Phantasie.
Eine vergleichende Kritik der zahlreichen verschiedenen Hauptformen
der Gottes-Vorstellung ist zwar höchst interessant und lehrreich,
würde uns hier aber viel zu weit führen; wir müssen
uns damit begnügen, nur auf die wichtigsten Gestaltungen der
Gottes-Idee und auf ihre Beziehung zu unserer heutigen, durch die reine
Natur-Erkenntniß bedingsten Weltanschauung einen
flüchtigen Blick zu werfen. Für alle weiteren
Untersuchungen über dieses unteressante Gebiet verweisen wir
auf das ausgezeichnete, mehrfach citirte Werk von Adalbert
Svoboda: "Gestalten des Glaubens" (2 Bände. Leipzig 1897).
Wenn wir von allen feineren Abtönungen und bunten
Gewandungen des Gottes-Bildes absehen, können wir füglich
- mit Beschränkung auf den tiefsten Inhalt desselben - alle
verschiedenen Vorstellungen darüber in zwei entgegengesetzte
Haupt-Gruppen ordnen, in die theistische und die
pantheistische Gruppe. Die letztere ist eng verknüpft mit
der monistischen oder rationellen, die erstere mit der
dualistischen oder mystischen Weltanschauung.
I. Theismus: Gott und Welt sind zwei verschiedene Wesen. Gott
steht der Welt gegenüber als deren Schöpfer, Erhalter und
Regierer. Dabei wird Gott stets mehr oder weniger
menschenähnlich gedacht, als ein Organismus, welcher dem
Menschen ähnlich (wenn auch in höchst vollkommener
Form) denkt und handelt. Dieser anthropomorphe Gott, offenbar
polyphyletisch von den verschiedenen Naturvölkern erdacht,
unterliegt in deren Phantasie bereits den manngfaltigsten Abstufungen,
vom Fetischismus aufwärts bis zu den geläuterten
monotheistischen Religionen der Gegenwart. Als wichtigste Unterarten
der theistischen Begriffsbildung unterscheiden wir Polytheismus,
Triplotheismus, Amphitheismus und Monotheismus.
Polytheismus (Vielgötterei). Die Welt ist von vielen
Göttern bevölkert, welche mehr oder weniger
selbstständig in deren Getriebe eingreifen. Der Fetischismus
findet dergleichen untergeordnete Götter in den verschiedensten
leblosen Naturkörpern, in den Steinen, im Wasser, in der Luft, in
menschlichen Kunstprodukten aller Art (Götterbildern, Statuen u.
s. w.). Der Dämonismus erblickt Götter in lebendigen
Organismen aller Art, in Bäumen, Thieren, Menschen. Diese
Vielgötterei nimmt schon in den niedersten Religions-Formen der
rohen Naturvölker sehr mannigfaltige Formen an. Sie erscheint auf
der höchsten Stufe geläutert im hellenischen
Polytheismus, in jenen herrlichen Göttersagen des alten
Griechenlands, welche noch heute unserer modernen Kunst die
schönsten Vorbilde für Poesie und Bildnerei liefern. Auf viel
tieferer Stufe steht der katholische Polytheismus, in dem
zahlreiche "Heilige" (oft von sehr zweifelhaftem Rufe!) als
untergeordnete Gottheiten angebetet und um gütige Vermittlung
beim obersten Gott (oder bei dessen Freundin und Tochter, der
"Jungfrau Maria") ersucht werden.
Triplotheismus (Dreigötterei, Trinitäts-Lehre). Die
Lehre von der "Dreieinigkeit Gottes", welche heute noch im
Glaubensbekenntniß der christlichen Kulturvölker die
grundlegenden "drei Glaubens-Artikel" bilden, gipfelt bekanntlich in der
Vorstellung, daß der Eine Gott des Christenthums eigentlich
in Wahrheit aus drei Personen von verschiedenem Wesen sich
zusammensetzt: I. Gott der Vater ist der "allmächtige
Schöpfer Himmels und der Erde" (dieser unhaltbare Mythus ist
durch die wissenschaftliche Kosmogenie, Astronomie und Geologie
längst widerlegt). II. Jesus Christus ist der "eingeborene
Sohn Gottes des Vaters" (und zugleich der dritten Person, des "Heiligen
Geistes!!), erzeugt durch unbefleckte Empfängniß der
Jungfrau Maria (über diesen Mythus vergl. Kapitel 17). III. Der
Heilige Geist, ein mystisches Wesen, über dessen
unbegreifliches Verhältniß zum "Sohne" und zum Vater sich
Millionen von christlichen Theologen seit 1900 Jahren den Kopf ganz
umsonst zerbrochen haben. Die Evangelien, die doch die einzigen
lauteren Quellen dieses christlichen Triplotheismus sind, lassen
uns über die eigentlichen Beziehungen dieser drei Personen zu
einander völlig im Dunkeln und geben auf die Frage nach ihrer
räthselhaften Einheit keine irgend befriedigende Antwort.
Dagegen müssen wir besonders darauf hinweisen, welche
Verwirrung diese unklare und mystische Trinitäts-Lehre in den
Köpfen unserer Kinder schon beim ersten Schulunterricht
nothwendig anrichten muß. Montag Morgens in der ersten
Unterrichtsstunde (Religion) lernen sie: Dreimal Eins ist Eins! - und
gleich darauf in der zweiten Stunde (Rechnen): Dreimal Eins ist Drei! Ich
erinnere mich selbst sehr wohl noch der Bedenken, welche dieser
auffällgie Widerspruch in mir selbst beim ersten Unterricht
erregte. - Uebrigens ist die "Dreieinigkeit" im Christenthum
keineswegs originell, sondern gleich den meisten anderen Lehren
desselben aus älteren Religionen übernommen. Aus dem
Sonnendienste der chaldäischen Magier entwickelt sich die
Trinität der Ilu, der geheimnisvollen Urquelle der Welt;
ihre drei Offenbarungen waren Anu, das ursprüngliche
Chaos, Bel, der Ordner der Welt, und Ao, das himmliche
Licht, die Alles erleuchtende Weisheit. - In der Brahmanen-Religion
wird die Trimurti als "Gottes-Einheit" ebenfalls aus drei Personen
zusammengesetzt, aus Brahma (dem Schöpfer),
Wischnu (dem Erhalter) und Schiwa (dem Zerstörer).
Es scheint, daß in diesen wie in anderen Trinitäts-Vorstellungen die "heilige Dreizahl" als solche - als
"symbolische Zahl" - eine Rolle gespielt hat. Auch die drei ersten
Christenpflichten "Glaube, Liebe, Hoffnung" bilden eine solche
Triade.
Amphitheismus (Zweigötterei). Die Welt wird von zwei
verschiedenen Göttern regiert, einem guten und einem
bösen Wesen, Gott und Teufel. Beide Weltregenten
befinden sich in einem beständigen Kampfe, wie Kaiser und
Gegenkaiser, Papst und Gegenpapst. Das Ergebniß dieses Kampfes
ist jederzeit der gegenwärtige Zustand dieser Welt. Der liebe
Gott, als das gute Wesen, ist der Urquell des Guten und
Schönen, der Lust und Freude. Die Welt würde vollkommen
sein, wenn sein Wirken nicht beständig durchkreuzt würde
von dem bösen Wesen, dem Teufel; dieser schlimme
Satanas ist die Ursache alles Bösen und Häßlichen, der
Unlust und des Schmerzes.
Dieser Amphitheismus ist unter allen verschiedenen Formen des
Götterglaubens insofern der vernünftigste, als sich seine
Theorie am ersten mit einer wissenschaftlichen Welterklärung
verträgt. Wir finden ihn daher schon mehrere Jahrtausende vor
Christus bei verschiedenen Kulturvölkern des Altherthums
ausgebildet. Im alten Indien kämpft Wischnu, der Erhalter,
mit Schiwa, dem Zerstörer. Im alten Egypten steht dem
guten Osiris der böse Typhon gegenüber. Bei
den ältesten Hebräern besteht ein ähnlicher Dualismus
zwischen Aschera, der fruchtbar zeugenden Erdmutter (=
Keturah), und Eljou (= Moloch oder Sethos),
dem strengen Himmelsvater. In der Zend-Religion der alten Perser, von
Zoroaster 2000 Jahre vor Christus gegründet, herrscht
beständiger Kampf zwischen Ormudz, dem guten Gott des
Lichtes, und Ahriman, dem bösen Gott der
Finsterniß.
Keine geringere Rolle spielt der Teufel als Gegner des guten Gottes in der
Mythologie des Christenthums als der Versucher und Verführer,
der Fürst der Hölle und Herr der Finsterniß. Als
persönlicher Satanas war er auch noch im Anfange des 19.
Jahrhunderts ein wesentliches Element im Glauben der meisten Christen;
erst gegen die Mitte desselben wurde er mit zunehmender
Aufklärung allmählich abgesetzt, oder er mußte sich
mit jener untergeordneten Rolle begnügen, welche ihm
Goethe in der größten aller dramatischen Dichtungen,
im "Faust", als Mephistopheles zutheilt. Gegenwärtig gilt in
den besseren gebildeten Kreisen der "Glaube an den persönlichen
Teufel" als ein überwundener Aberglaube des Mittelalters,
während gleichzeitig der "Glaube an Gott" (d. h. den
persönlichen, guten und lieben Gott) als ein unentbehrlicher
Bestandtheil der Religion festgehalten wird. Und doch ist der erstere
Glaube ebenso voll berechtigt (und ebenso haltlos!) wie der letztere!
Jedenfalls erklärt sich die vielbeklagte "Unvollkommenheit des
Erdenlebens", der "Kampf um's Dasein", und was dazu gehört, viel
einfacher und natürlicher durch diesen Kampf des guten und
bösen Gottes als durch irgend welche Form des Gottesglaubens.
Monotheismus (Eingötterei). Die Lehre von der Einheit
Gottes kann in vieler Beziehung als die einfachste und natürlichste
Form der Gottes-Verehrung gelten; nach der herrschenden Meinung ist
sie die weitest verbreitete Grundlage der Religion und beherrscht
namentlich den Kirchenglauben der Kulturvölker.
Thatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall; denn der angebliche
Monotheismus erweist sich bei näherer Betrachtung
meistens als eine der vorher angeführten Formen des Theismus,
indem neben dem obersten "Hauptgotte" noch einer oder mehrere
Nebengötter angebetet werden. Auch sind die meisten Religionen,
welche einen rein monotheistischen Ausgangspunkt haben, im Laufe der
Zeit mehr oder minder polytheistisch geworden. Allerdings behauptet
die moderne Statistik, daß unter den 1500 Millionen Menschen,
welche unsere Erde bevölkern, die große Mehrzahl
Monotheisten seien, angeblich sollen davon
ungefähr 600 Millionen Brahma-Buddhisten sein, 500
Millionen (sogenannte!) Christen, 200 Millionen Heiden (verschiedenster
Sorte), 180 Millionen Mohammdedaner, 10 Millionen Israeliten und 10
Millionen ganz religionslos. Allein die große Mehrzahl der
angeblichen Monotheisten hat ganz unklare Gottesvorstellungen oder
glaubt neben dem einen Hauptgott auch noch an viele
Nebengötter, als da sind: Engel, Teufel, Dämonen u. s. w. Die
verschiedenen Formen, in denen sich der Monotheismus
polyphyletisch entwickelt hat, können wir in zwei
Hauptgruppen bringen: naturalistische und anthropistische
Eingötterei.
Naturalistischer Monotheismus. Diese alte Form der Religion
erblickt die Verkörperung Gottes in einer erhabenen, Alles
beherrschenden Natur-Erscheinung. Als solche imponirte schon vor
vielen Jahrtausenden den Menschen vor Allem die Sonne, die
leuchtende und erwärmende Gottheit, von deren Einfluß
sichtlich alles organische Leben unmittelbar abhängig ist. Der
Sonnen-Kultur (Solarismus oder Heliotheismus) erscheint
für den modernen Naturforscher wohl unter allen theistischen
Glaubens-Formen als die würdigste und als diejenige, welche am
leichtesten mit der monistischen Naturphilosophie der Gegenwart sich
verschmelzen läßt. Denn unsere moderne Astrophysik und
Geogenie hat uns überzeugt, daß die Erde ein
abgelöster Theil der Sonne ist und später wieder in deren
Schoß zurückkehren wird. Die moderne Physiologie lehrt uns,
daß der erste Urquell des organischen Lebens auf der Erde die
Plasma-Bildung oder Plasmodomie ist und daß diese
Synthese von einfachen anorganischen Verbindungen, von Wasser,
Kohlensäure und Ammoniak (oder Salpetersäure), nur unter
dem Einflusse des Sonnenlichtes erfolgt. Auf die primäre
Entwickelung der plasmodomen Pflanzen ist erst
nachträglich, sekundär, diejenige der plasmophagen
Thiere gefolgt, die sich direkt oder indirekt von ihnen nähren;
und die Entstehung des Menschengeschlechtes selbst ist wiederum nur
ein späterer Vorgang in der Stammesgeschichte des Thierreichs.
Auch unser gesammtes körperliches und geistiges Menschen-Leben ist ebenso wie alles andere organische Leben im letzten Grunde
auf die strahlende, Licht und Wärme spendende Sonne
zurückzuführen. Im Lichte der reinen Vernunft betrachtet,
erscheint daher der Sonnen-Kultus als naturalistischer
Monotheismus weit besser begründet als der anthropistische
Gottesdienst der Christen und anderer Kulturvölker, welche Gott in
Menschengestalt sich vorstellen. Thatsächlich haben auch schon
vor Jahrtausenden die Sonnen-Anbeter sich auf eine höhere
intellektuelle und moralische Bildungsstufe erhoben, als die meisten
anderen Theisten. Als ich im November 1881 in Bombay war,
betrachtete ich mit der größten Theilnahme die erhebenden
Andachts-Uebungen der frommen Parsi, welche beim Aufgang und
Untergang der Sonne, am Meerestrande stehend oder auf
ausgebreitetem Teppich kniend, dem kommenden und scheidenden
Tagesgestirn ihre Verehrung bezeugten (Indische Reisebriefe, IV. Aufl.,
S.56). - Weniger bedeutend als dieser Solarismus ist der
Lunarismus oder Selenotheismus, der Mond-Kultus;
wenn auch einige Naturvölker den Mond allein als Gottheit
verehren, so werden doch meistens daneben noch die Sterne und die
Sonne angebetet.
Anthropistischer Monotheismus. Die Vermenschlichung Gottes,
die Vorstellung, daß das "höchste Wesen" dem Menschen
gleich empfindet, denkt und handelt (wenn auch in erhabendster Form),
spielt als anthropomorpher Monotheismus die größte
Rolle in der Kulturgeschichte. Vor allen anderen treten hier in den
Vordergrund die drei großen Religionen der mediterranen
Menschenart, die ältere mosaische, mittlere christliche und die
jüngere mohammedanische. Diese drei großen Mittelmeer-Religionen, alle drei an der gesegneten Ostküste des
interessantesten aller Meere entstanden, alle drei in ähnlicher
Weise von einem phantasiereichen Schwärmer semitischer Rasse
gestiftet, hängen nicht nur äußerlich durch diesen
gemeinsamen Ursprung innig zusammen, sondern auch durch zahlreiche
gemeinsame Züge ihrer inneren Glaubens-Vorstellungen. Wie das
Christenthum einen großen Theil seiner Mythologie aus dem
älteren Judenthum direkt übernommen hat, so hat der
jüngere Islam wiederum von diesen beiden Religionen viele
Erbschaften beibehalten. Alle drei Mediterran-Religionen waren
ursprünglich rein monotheistisch; alle drei sind
späterhin den mannigfaltigsten polytheistischen
Umbildungen unterlegen, je weiter sie sich zunächst an den
vieltheiligen Küsten des mannigfach bevölkerten
Mittelmeers und sodann in den übrigen Erdtheilen
ausbreiteten.
Mosaismus. Der jüsiche Monotheismus, wie ihn
Moses (1600 vor Chr.) begründete, gilt gewöhnlich als
diejenige Glaubensform des Alterthums, welche die höchste
Bedeutung für die weitere ethische und religiöse
Entwickelung der Menschheit besitzt. Unzweifelhaft ist ihr dieser
historische Werth schon deshalb zuzugestehen, weil die beiden anderen
weltbeherrschenden Mediterran-Religionen aus ihr hervorgegangen
sind; Christus steht ebenso auf den Schultern von Moses, wie
später Mohammed auf den Schultern von Christus. Ebenso ruht
das Neue Testament, welches in der kurzen Zeitspanne von 1900 Jahren
das Glaubens-Fundament der höchstentwickelten Kultur-Völker gebildet hat, auf der ehrwürdigen Basis des Alten
Testaments. Beide zusammengenommen haben als Bibel einen
Einfluß und eine Verbreitung gewonnen wie kein anderen Buch in
der Welt. Thatsächlich ist ja noch heute in gewisser Beziehung die
Bibel - trotz ihrer seltsamen Mischung aus den besten und den
schlechtesten Bestandtheilen! - das "Buch der Bücher". Wenn wir
aber diese merkwürdige Geschichtsquelle unbefangen und
vorurtheilslos prüfen, so stellen sich viele wichtige Beziehungen
ganz anders dar, als überall gelehrt wird. Auch hier hat die tiefer
eindringende moderne Kritik und Kultur-Geschichte wichtige
Aufschlüsse geliefert, welche die geltende Tradition in ihren
Fundamenten erschüttern.
Der Monotheismus, wie ihn Moses im Jehovah-Dienste zu
begründen suchte, und wie ihn später mit großem
Erfolge die Propheten - die Philosophen der Hebräer -
ausbildeten, hatte ursprünglich harte und lange Kämpfe mit
dem herrschenden älteren Polytheismus zu bestehen.
Ursprünglich war Jehovah oder Japheh aus jenem
Himmelgotte abgeleitet, der als Moloch oder Baal eine der
meistverehrten orientalischen Gottheiten war (Sethos oder Typhon der
Egypther, Saturnus oder Kronos der Griechen). Die vielbesprochenen
Forschungen der modernen Assyriologen über "Bibel und
Babel" (Delitsch u. A.) haben gelehrt, daß der monotheistische
Japhed-Glaube schon lange vor Moses in Babylon heimisch war. Daneben
aber blieben andere Götter vielfach mit hohem Ansehen, und der
Kampf mit der "Abgötterei" bestand im jüdischen Volke
immer fort. Trotzdem blieb im Principe Jehovah der alleinige Gott, der
im ersten der zehn Gebote Mosis ausdrücklich sagt: "Ich bin der
Herr dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir."
Das Christenthum. Der christliche Monotheismus theilte das
Schicksal seiner Mutter, des Mosaismus, und blieb wahre
Eingötterei meistens nur theoretisch im Princip, während er
praktisch in die mannigfaltigsten Formen des Polytheismus sich
verwandelte. Eigentlich war ja schon in der Trinitätslehre selbst,
die doch als ein unentbehrliches Fundament der christlichen Religion
gilt, der Monotheismus logischer Weise aufgegeben. Die drei
Personen, die als Vater, Sohn und Heiliger Geist unterschieden
werden, sind und bleiben ebenso drei verschiedene Individuen
(und zwar anthropomorphe Personen!) wie die drei indischen Gottheiten
der Trimurti (Brahma, Wischnu, Schiwa) oder wie die Trinität der
alten Hebräer (Anu, Bel, Ao). Dazu kommt noch, daß in den
weitestverbreiteten Abarten des Christianismus als vierte Gottheit die
Jungfrau Maria, als unbefleckte Mutter Christi, eine große Rolle
spielt; in weiten katholischen Kreisen gilt sie sogar als viel wichtiger und
einflußreicher wie die drei männlichen Personen der
Himmels-Regierung. Der Madonnen-Kultus hat hier
thatsächlich eine solche Bedeutung gewonnen, daß man ihn
als einen weiblichen Monotheismus der gewöhnlichen
männlichen Form der Eingötterei gegenüber stellen
kann. Die "hehre Himmelskönigin" erscheint hier so sehr im
Vordergrund aller Vorstellungen (wie es auch unzählige
Madonnen-Bilder und Sagen bezeugen), daß die drei
männlichen Personen dagegen ganz zurücktreten.
Nun hat sich aber außerdem schon frühzeitig in der
Phantasie der gläubigen Christen eine zahlreiche Gesellschaft von
"Heiligen" aller Art zu dieser obersten Himmels-Regierung gesellt,
und musikalische Engel sorgen dafür, daß es im "ewigen
Leben" an Konzert-Genüssen nicht fehlt. Die römischen
Päpste - die größten Charlatans, die jemals eine
Religion hervorgebracht hat! - sind beständig beflissen, durch
neue Heiligsprechungen die Zahl dieser anthropomorphen Himmels-Trabanten zu vermehren. Den reichsten und interessantesten Zuwachs
hat aber diese seltsame Paradies-Gesellschaft am 13. Juli 1870 dadurch
bekommen, daß das vatikanische Konzil die Päpste als
Stellvertreter Christi für unfehlbar erklärt und sie
damit selbst zum Range von Göttern erhoben hat. Nimmt
man dazu noch den von ihnen anerkannten "persönlichen Teufel"
und die "bösen Engel", welche seinen Hofstaat bilden, so
gewährt uns der Papismus, die heute noch meistverbreitete
Form des modernen Christenthums, ein so buntes Bild des reichsten
Polytheismus, daß der hellenische Olymp dagege klein und
dürftig erscheint.
Der Islam (oder der mohammedanische Monotheismus)
ist die jüngste und zugleich reinste Form der Eingötterei. Als
der junge Mohammed (geb. 570) frühzeitig den polytheistischen
Götzendienst seiner arabischen Stammesgenossen verachten und
das Christenthum der Nestorianer kennen lernte, eignete er sich zwar
deren Grundlehren im Allgemeinen an, er konnte sich aber nicht
entschließen, in Christus etwas Anderes zu erblicken als einen
Propheten, gleich Moses. Im Dogma der Dreieinigkeit fand er nur das,
was bei unbefangenem Nachdenken jder vorurtheilsfreie Mensch darin
finden muß, einen widersinnigen Glaubenssatz, der weder mit dem
Grundsätzen unserer Vernunft vereinbar noch für unsere
religiöse Erhebung von irgend welchem Werthe ist. Die Anbetung
der "Mutter Gottes" betrachtete er mit Recht ebenso als eitle
Götzendienerei wie die Verehrung von Bildern und
Bildsäulen. Je länger er darüber nachdachte, und je
mehr er nach einer reineren Gottes-Vorstellung hinstrebte, desto klarer
wurde ihm die Gewißheit seines Hauptsatzes: "Gott ist der alleinige
Gott"; es giebt keine Götter neben ihm.
Allerdings konnte auch Mohammed sich von dem Anthropomorphismus
der Gottes-Vorstellung nicht frei machen. Auch sein alleiniger Gott blieb
ein idealisirter, allmächtiger Mensch, ebenso wie der strenge,
strafende Gott des Moses, ebenso wie der milde, liebende Gott des
Christus. Aber trotzdem müssen wir der mohammedanischen
Religion den Vorzug lassen, daß sie auch im Verlaufe ihrer
historischen Entwicklung und der unvermeidlichen Abartung den
Charakter des reinen Monotheismus viel strenger bewahrte als
die mosaische und die christliche Religion. Das zeigt sich auch heute noch
äußerlich in den Gebets-Formen und Predikt-Weisen ihres
Kultus, wie in der Architektur und Ausschmückung ihrer
Gotteshäuser. Als ich 1873 zum ersten Male den Orient besuchte
und die herrlichen Moscheen in Kairo und Smyrna, in Brussa und
Konstantinopel bewunderte, erfüllten mich mit wahrer Andacht
die einfache und geschmackvolle Dekoration des Innern, der erhabene
und zugleich prächtige architektonische Schmuck des
Aeußern. Wie edel und erhaben erscheinen diese Moscheen im
Vergleiche zu der Mehrzahl der katholischen Kirchen, welche innen mit
bunten Bildern und goldenem Flitterkram überlagen, außen
durch übermäßige Fülle von Menschen- und
Thier-Figuren verunstaltet sind! Nicht minder erhaben erscheinen die
stillen Gebete und die einfachen Andachts-Uebungen des Koran im
Vergleiche mit dem lauten, unverstandenen Wortgeplapper der
katholischen Messen und der lärmenden Musik ihrer
theatralischen Processionen.
Mixotheismus Mischgötterei. Unter diesem Begriffe kann
man füglich alle diejenigen Formen des Götterglaubens
zusammenfassen, welche Mischungen von religiösen
Vorstellungen verschiedener und zum Theil direkt widersprechender
Art enthalten. Theoretisch ist diese weitestverbreitete Religionsform
bisher nirgends anerkannt. Praktisch aber ist sie die wichtigste und
merkwürdigste von allen. Denn die große Mehrzahl aller
Menschen, die sich überhaupt religiöse Vorstellungen
bildeten, waren von jeher und sind noch heute Mixotheisten; ihre
Gottes-Vorstellung ist bunt gemischt aus den frühzeitig in der
Kindheit eingeprägten Glaubenssätzen ihrer speciellen
Konfession und aus vielen verschiedenen Eindrücken, welche
später bei der Berührung mit anderen Glaubensformen
empfangen werden, und welche die ersteren modificiren. Bei vielen
Gebildeten kommen dazu noch der umgestaltete Einfluß
philosophischer Studien im reiferen Alter und vor Allem die
ungefangene Beschäftigung mit den Erscheinungen der Natur,
welche die Nichtigkeit der theistischen Glaubensbilder darthum. Der
Kampf dieser widersprechenden Vorstellungen, welcher für feiner
empfindende Gemüther äußerst schmerzlich ist und oft
das ganze Leben hindurch unentschieden bleibt, offenbart klar die
ungeheure Macht der Vererbung alter Glaubenssätze
einerseits und der frühzeitigen Anpassung an
irrthümliche Lehren andererseits. Die besondere Konfession, in
welche das Kind eingezwängt wurde, bleibt meistens in der
Hauptsache maßgebend, falls nicht später durch den
stärkeren Einfluß eines anderen Glaubensbekenntnisses eine
Konversion eintritt. Aber auch bei diesem Uebertritt von einer
Glaubensform zu anderen ist oft der neue Name, ebenso wie der alte
aufgegebene, nur eine äußere Etikette, unter welcher bei
näherer Untersuchung die allerverschiedensten Ueberzeugungen
und Irrthümer bunt gemischt sich verstecken. die große
Mehrzahl der sogenannten Christen sind nicht Monotheisten (wie sie
glauben), sondern Amphitheisten, Triplotheisten oder Polytheisten.
Dasselbe gilt aber auch von den Bekennern des Islam und des
Mosaismus, wie von anderen monotheistisichen Religionen. Ueberall
gesellen sich zu der ursprünglichen Vorstellung des "alleinigen
oder dreieinigen Gottes" später erworbene Glaubensbilder von
untergeordneten Gottheiten: Engeln, Teufeln, Heiligen und anderen
Dämonen, eine bunte Mischung der verschiedensten theistischen
Gestalten.
Wesen des Theismus. Alle hier angeführten Formen des
Theismus im eigentlichen Sinne - gleichviel, ob dieser Gottesglaube eine
naturalistische oder anthropistische Form annimmt - haben gemeinsam
die Vorstellung Gottes als des Außerweltlichen
(Extramundanum) oder Uebernatürlichen
(Supranaturale). Immer steht Gott als selbstständiges Wesen
der Welt oder der Natur gegenüber, meistens als Schöpfer,
Erhalter und Regierer der Welt. In den allermeisten Religionen kommt
dazu noch der Charakter des Persönlichen und bestimmter
noch die Vorstellung, daß Gott als Person dem Menschen
ähnlich ist. "In seinen Göttern malet sich der Mensch." Dieser
Antropomorphismus Gottes oder die anthropistische Vorstellung
eines Wesens, welches gleich dem Menschen denkt, empfindet und
handelt, ist bei der großen Mehrzahl der Gottesgläubigen
maßgebend, bald in mehr roher und naiver, bald in mehr feiner
und abstrakter Form. Allerdings wird die fortgeschrittenste Form der
Theosophie behaupten, daß Gott als höchstes Wesen von
absoluter Vollkommenheit und daher gänzlich von dem
unvollkommenen Wesen des Menschen verschieden sei. Allein bei
genauerer Untersuchung bleibt immer das Gemeinsame Beider ihre
Seelen- oder Geistesthätigkeit. Gott empfindet, denkt und handelt
wie der Mensch, wenn auch in unendlich vollkommenerer Form.
Der persönliche Anthropismus Gottes ist bei der
großen Mehrzahl der Gläubigen zu einer so natürlichen
Vorstellung geworden, daß sie keinen Anstoß an der
menschlichen Personifikation Gottes in Bildern und Statuen nehmen,
und an den mannigfaltigen Dichtungen der Phantasie, in welchen Gott
menschliche Gestalt annimmt, d. h. sich in ein Wirbelthier
verwandelt. In vielen Mythen erscheint die Person Gottes auch in
Gestalt anderer Säugethiere (Affen, Löwen, Stiere u. s. w.),
seltener in Gestalt von Vögeln (Adler, Tauben, Störche) oder
in Form von anderen Wirbelthieren (Schlangen, Krokodile, Drachen).
In den höheren und abstrakteren Reiligions-Formen wird diese
körperliche Erscheinung aufgegeben und Gott nur als "reiner
Geist" ohne Körper verehrt. "Gott ist ein Geist, und wer ihn
anbetet, soll ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten." Trotzdem bleibt
aber die Seelenthätigkeit dieses reinen Geistes ganz dasselbe wie
diejenige der anthropomorphen Gottes-Person. In Wirklichkeit wird
auch dieser immaterielle Geist nicht unkörperlich, sondern
unsichtbar gedacht, gasförmig. Wir gelangen so zu der paradoxen
Vorstellung Gottes als eines sogenannten "gasförmigen
Wirbelthieres" (1866).
II. Pantheismus (All-Eins-Lehre): Gott und Welt sind ein
einziges Wesen. Der Begriff Gottes fällt mit demjenigen der
Natur oder der Substanz zusammen. Diese pantheistische
Weltanschauung steht im Princip sämmtlichen angeführten
und allen sonst noch möglichen Formen des Theismus
schroff gegenüber, wenngleich man durch Entgegenkommen von
beiden Seiten die tiefe Kluft zwischen beiden zu
überbrücken sich vielfach bemüht hat. Immer bleibt
zwischen beiden der fundamentale Gegensatz bestehen, daß im
Theismus Gott als extramundanes Wesen der Natur
schaffend und erhaltend gegenübersteht und von
außen auf sie einwirkt, während im Pantheismus
Gott als intramundanes Wesen allenthalten die Natur selbst ist
und im Innern der Substanz als "Kraft oder Energie" thätig
ist. Diese letztere Ansicht allein ist vereinbar mit jenem höchsten
Naturgesetze, dessen Erkenntniß einen der größten
Triumpfe des 19. Jahrhunderts bildet, mit dem Substanz-Gesetze.
Daher ist nothwendiger Weise der Pantheismus die Weltanschauung
unserer modernen Naturwissenschaft. Freilich giebt es auch heute
noch nicht wenige Naturforscher, welche diesen Satz bestreiten und
welche meinen, die alte theistische Beurtheilung des Menschen mit den
pantheistischen Grundgedanken des Substanz-Gesetzes vereinigen zu
können. Indessen beruhen alle diese vergeblichen Bestrebungen
auf Unklarheit oder Inkonsequenz des Denkens, falls sie
überhaupt aufrichtig und ehrlich gemeint sind.
Da der Pantheismus erst aus der geläuterten
Naturbetrachtung des denkenden Kulturmenschen hervorgehen konnte,
ist er begreiflicher Weise viel jünger als der Theismus,
dessen roheste Formen sicher schon vor mehr als zehntausend Jahren
bei den primitiven Naturvölkern in mannigfaltigen Variationen
ausgebildet wurden. Wenn auch in den ersten Anfängen der
Philosophie bei den ältesten Kultur-Völkern (in Indien und
Egypten, in China und Japan) schon mehrere Jahrtausende vor Christus
Keime des Pantheismus in verschiedenen Religions-Formen eingestreut
sich finden, so tritt doch eine bestimmte philosophische Fassung
desselben erst in dem Hylozoismus der ionischen
Naturphilosophen auf, in der ersten Hälfte des sechsten
Jahrhunderts vor Chr. Alle großen Denker dieser Blüthe-Periode des hellenischen Geistes überragt der gewaltige
Anaximander von Milet, der die principielle Einheit des
unendlichen Weltganzen (Apeiron) tiefer und klarer
erfaßte als sein Lehrer Thales und sein Schüler
Anaximenes. Nicht nur den großen Gedanken der
ursprünglichen Einheit des Kosmos, der
Entwickelung aller Erscheinungen aus der Alles durchdringenden
Urmaterie, hatte Anaximander bereits ausgesprochen,
sondern auch die kühne Vorstellung von zahllosen, in
periodischem Wechsel entstehenden und vergehenden
Weltbildungen.
Auch viele von den folgenden großen Philosophen des klassischen
Alterthums, vor Allen Demokritos, Heraklitos und
Empedokles, hatten in gleichem oder ähnlichem Sinne tief
eindringend bereits jene Einheit von Natur und Gott, von Körper
und Geist erfaßt, welche im Substanz-Gesetze unseres heutigen
Monismus den bestimmtesten Ausdruck gewonnen hat. Der
große römische Dichter und Naturphilosoph Lucretius
Carus hat ihn in seinem berühmten Lehrgedichte "De rerum
natura" in hochpoetischer Form dargestellt. Allein dieser naturwahre
pantheistische Monismus wurde bald ganz zurückgedrängt
durch den mystischen Dualismus von Plato und besonders durch
den gewaltigen Einfluß, den seine idealistische Philosophie durch
die Verschmelzung mit den christlichen Glaubenslehren gewann. Als
sodann deren mächtigster Anwalt, der römische Papst, die
geistige Weltherrschaft gewann, wurde der Pantheismus gewaltsam
unterdrückt; Giordano Bruno, sein geistvollster Vertreter,
wurde am 17. Februar 1600 auf dem Campo Fiori in Rom von dem
"Stellvertreter Gottes" lebendig verbrannt.
Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde durch den
großen Baruch Spinoza das System des Pantheismus in
reinster Form ausgebildet; er stellte für die Gesammtheit der
Dinge den reinen Substanz-Begriff auf, in welchem "Gott und
Welt" untrennbar vereinigt sind. Wir müssen die Klarheit,
Sicherheit und Folgerichtigkeit des monistischen Systems von
Spinoza heute um so mehr bewundern, als diesem gewaltigen
Denker vor 250 Jahren noch alle die sicheren empirischen Fundamente
fehlten, die wir erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
gewonnen haben. Das Verhältniß von Spinoza zum
späteren Materialismus im 18. und zu unserem heutigen
Monismus im 19. Jahrhundert haben wir bereits im ersten
Kapitel besprochen. Zur weiteren Verbreitung desselben, besonders im
deutschen Geistesleben, haben vor Allem die unsterblichen Werke
unseres größten Dichters und Denkers beigetragen,
Wolfgang Goethe. Seine herrlichen Dichtungen "Gott und Welt",
"Prometheus", "Faust" u. s. w. hüllen die Grundgedanken des
Pantheismus in die vollkommenste und schönste dichterische
Form.
Die Beziehungen unseres heutigen Monismus zu den früheren
philosophischen Systemen, sowie die wichtigsten Grundzüge von
deren historischer Entwickelung, sind in dem vortrefflichen
"Grundriß der Geschichte der Philosophie" von Friedrich
Überweg eingehend dargestellt (Neunte Auflage, bearbeitet
von Max Heinze, Berlin 1902). Eine vortreffliche klare Uebersicht
derselben - gewißermaßen eine "Stammesgeschichte der
Welträthsel und der Versuche zu ihrer Lösung" - hat Fritz
Schultze (Dresden) in seinem "Stammbaum der Philosophie"
gegeben; ein "Tabellarisch-Schematischer Grundriß der Geschichte
der Philosophie von den Griechen bis zur Gegenwart" (Leipzig, II. Aufl.
1899).
Atheismus ("die entgötterte Weltanschauung"). Es
giebt keinen Gott und keine Götter, falls man unter diesem
Begriff persönliche, außerhalb der Natur stehende Wesen
versteht. Diese "gottlose Weltanschauung" fällt im
Wesentlichen mit dem Monismus oder Pantheismus
unserer modernen Naturwissenschaft zusammen; sie giebt nur einen
anderen Ausdruck dafür, indem sie eine negative Seite derselben
hervorhebt, die Nicht-Existenz der extramundanen oder
übernatürlichen Gottheit. In diesem Sinne sagt
Schopenhauer ganz richtig: "Pantheismus ist nur ein
höflicher Atheismus. Die Wahrheit des Pantheismus besteht in der
Aufhebung des dualistischen Gegensatzes zwischen Gott und Welt, in der
Erkenntniß, daß die Welt aus ihrer inneren Kraft und durch
sich selbst da ist. Der Satz des Pantheismus: 'Gott und die Welt ist Eins'
ist bloß eine höfliche Wendung, dem Herrgott den Abschied
zu geben."
Während des ganzen Mittelalters, unter der blutigen Tyrannei des
Papismus, wurde der Atheismus als die entsetzlichste Form der
Weltanschauung mit Feuer und Schwert verfolgt. Da der "Gottlose" im
Evangelium mit dem "Bösen" schlechtweg identificirt und ihm im
ewigen Leben - bloß wegen "Glaubensmangels"! - die
Höllenstrafe der ewigen Verdammniß angedroht wird, ist es
begreiflich, daß jeder gute Christ selbst den entferntesten Verdacht
des Atheismus ängstlich mied. Leider besteht auch heute noch
diese Auffassung in weiten Kreisen fort. Dem atheistischen
Naturforscher, der seine Kraft und sein Leben der Erforschung der
Wahrheit widmet, traut man von vornherein alles Böse zu;
der theistische Kirchgänger dagegen, der die leeren
Ceremonien des papistischen Kultus gedankenlos mitmacht, gilt
deswegen als guter Staatsbürger, auch wenn er sich bei seinem
Glauben gar nichts denkt und nebenher der verwerflichsten
Moral huldigt. Dieser Irrthum wird sich erklären, wenn im 20.
Jahrhundert der herrschende Aberglaube mehr der vernünftigen
Naturerkenntniß weicht und der monistischen Ueberzeugung der
Einheit von Gott und Welt.
Sechzehntes Kapitel
Wissen und Glauben.
Monistische Studien über Erkenntniß und Wahrheit.
Sinnesthätigkeit und Vernunftthätigkeit. Glauben und
Aberglauben. Erfahrung und Offenbarung.
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Inhalt: Erkenntniß der Wahrheit und ihre Quellen:
Sinnesthätigkeit und Associon der Verstellungen. Sinnesorgane
(Aestheten) und Denkorgane (Phroneten). Sinnesorgane und ihre
specifische Energie. Entwickelung derselben. Philosophie der
Sinnlichkeit. Unschätzbarer Werth der Sinne. Grenzen der
sinnlichen Erkentniß. Hypothese und Glaube. Theorie und Glaube.
Principieller Gegensatz zwischen wissenschaftlichem (natürlichem)
und religiösem (übernatürlichem) Glauben.
Aberglaube der Naturvölker und Kulturvölker. Glaubens-Bekenntnisse. Konfessionslose Schule. Der Glaube unserer Väter.
Spiritismus. Offenbarung.
Alle Arbeit wahrer Wissenschaft geht auf Erkenntniß der
Wahrheit. Unser echtes und werthvolles Wissen ist realer Natur
und besteht aus Vorstellungen, welche wirklich existirenden Dingen
entsprechen. Wir sind zwar unfähig, das innerste Wesen dieser
realen Welt - "das Ding an sich" - zu erkennen; aber unbefangene und
kritische Beobachtung und Vergleichung überzeugt uns, daß
bei normaler Beschaffenheit des Gehirns und der Sinnesorgane die
Eindrücke der Außenwelt auf diese bei allen
vernünftigen Menschen dieselben sind, und daß bei normaler
Funktion der Denkorgane bestimmte, überall gleiche
Vorstellungen gebildet werden; diese nennen wir wahr und sind
dabei überzeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der
Dinge entspricht. Wir wissen, daß diese Thatsachen nicht
eingebildet, sondern wirklich sind.
Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit
beruht auf zwei verschiedenen aber innig zusammenhängenden
Gruppen von physiologischen Funktionen des Menschen; erstens auf der
Empfindung der Objekte mittels der Sinnesthätigkeit, und
zweitens auf der Verbindung der so gewonnenen Eindrücke durch
Associon zur Vorstellung im Subjekt. Die Werkzeuge der
Empfindung sind die Sinnesorgane (Sensillen); die
Werkzeuge, welche die Vorstellungen bilden und verknüpfen, sind
die Denkorgane (Phroneten). Diese letzteren sind Theile des
centralen, die ersteren hingegen Theile des peripheren
Nervensystems, jenes wichtigsten und höchstentwickelten
Organ-Systems der höheren Thiere, welches einzig und allein
deren gesammte Seelenthätigkeit vermittelt.
Sinnesorgane (Sensilla). Die Sinnesthätigkeit des
Menschen, welche der erste Ausgangspunkt aller Erkenntniß
ist, hat sich langsam und allmählich aus derjenigen der
nächstverwandten Säugethiere, der Primaten, entwickelt.
Die Organe derselben sind in dieser höchstentwickelten
Thierklasse überall von wesentlich gleichem Bau, und ihre
Funktion erfolgt überall nach denselben physikalischen und
chemischen Gesetzen. Sie haben sich allenthalben in derselben Weise
historisch entwickelt. Wie bei allen anderen Thieren, so sind auch bei
den Mammalien alle Sensillen ursprünglich Theile der Hautdecke,
und die empfindlichen Ureltern aller der verschiedenen Sinnesorgane,
welche durch Anpassung an verschiedene Reize (Licht, Wärme,
Schall, Chemopathos) ihre spezifische Energie erlangt haben. Sowohl die
Stäbchenzellen der Retina in unserem Auge und die
Hörzellen in der Schnecke unseres Ohres, als auch die Riechzellen
in der Nase und die Schmeckzellen auf unserer Zunge stammen
ursprünglich von jenen einfachen indifferenten Zellen der
Oberhaut ab, welche die ganze Oberfläche unseres Körpers
überziehen. Diese bedeutungsvolle Thatsache wird durch die
unmittelbare Beobachtung am Embryo des Menschen ebenso wie aller
anderen Thiere direkt bewiesen. Aus dieser ontogenetischen Thatsache
folgt aber nach dem biogenetischen Grundgesetze mit Sicherheit der
folgenschwere phylogenetische Schluß, daß auch in der langen
Stammesgeschichte unserer Vorfahren die höheren Sinnesorgane
mit ihrem speciellen Energien ursprünglich aus der Oberhaut
niederer Thiere entstanden sind, aus einer einfachen Zellenschicht, die
noch kene solchen gesonderten Sensillen enthielt.
Specifische Energie der Sensillen. Von größter
Bedeutung für die menschliche Erkenntniß ist die Thatsache,
daß verschiedene Nerven unseres Körpers im Stande sind,
ganz verschiedene Qualitäten der Außenwelt und nur diese
wahrzunehmen. Der Sehnerv des Auges vermittelt nur Lichtempfindung,
der Hörnerv des Ohres nur Schallempfindung, der Riechnerv der
Nase nur Geruchsempfindungen u. s. w. Gleichviel welche Reize das
einzelne Sinneswerkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen
behält dieselbe Qualität. Aus dieser specifischen
Energie der Sinnesnerven, welche von dem großen Physiologen
Johannes Müller zuerst in ihrer weitreichenden Bedeutung
gewürdigt wurde, sind sehr irrthümliche Schlüsse
gezogen worden, besonders zu Gunsten einer dualistischen und
apriorischen Erkenntniß-Theorie. Man behauptete, daß das
Gehirn oder die Seele nur einen gewissen Zustand des erregten Nerven
wahrnehme, und daß daraus Nichts auf die Existenz und
Beschaffenheit der erregenden Außenwelt geschlossen werden
könne. Die skeptische Philosophie zog daraus den Schluß,
daß diese letztere selbst zweifelhaft sei, und der extreme
Idealismus bezweifelte nicht nur diese Realität, sondern er negirte
sie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unserer Vorstellung
exitire.
Diesen Irrthümern gegenüber müssen wir daran
erinnern, daß die "specifische Energie" ursprünglich nicht
eine anerschaffene besondere Qualität einzelner Nerven, sondern
durch Anpassung an die besondere Thätigkeit der
Oberhautzellen entstanden ist, in welchen sie enden. Nach den
großen Gesetzen der Arbeitstheilung nahmen die
ursprünglich indifferenten "Hautsinneszellen" verschiedene
Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der Lichtstrahlen, die
anderen den Eindruck der Schallwellen, eine dritte Gruppe die
chemische Einwirkung riechender Substanzen u. s. w. aufnahmen. Im
Laufe langer Zeiträume bewirkten diese äußeren
Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der
physiologischen und weiterhin auch der morphologischen Eigenschaften
dieser Oberhautstellen, und damit zugleich veränderten sich die
sensiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen
Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbesserte Schritt
für Schritt die besonderen Umbildungen derselben, welche sich als
nützlich erwiesen, und schuf so zuletzt im Laufe vieler
Jahrmillionen jene bewunderungswürdigen Instumente, welche
als Auge und Ohr unsere theuersten Güter
darstellen; ihre Einrichtung ist so wunderbar zweckmäßig,
daß sie uns zu der irrthümlichen Annahme einer
"Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan" führen
könnten. Die besondere Eigenthümlichkeit jedes
Sinnesorganes und seines specifischen Nerven hat sich aber erst durch
Gewohnheit und Uebung - d. h. durch Anpassung -
allmählich entwickelt und ist dann durch Vererbung von
Generation zu Generation übertragen worden. Albrecht Rau
hat diese Auffassung ausführlich begründet in seinem
vortrefflichen Werke über "Empfinden und Denken; eine
physiologische Untersuchung über die Natur des menschlichen
Verstandes" (1896). Dort ist sowohl die richtige Deutung des
Müller'schen Gesetzes von den specifischen Sinnes-Energien
gegeben, als auch scharfsinnige Erörterungen über ihre
Beziehungen zum Gehirn und besonders im letzten Kapitel eine
ausgezeichnete, auf den Schultern von Ludwig Feuerbach
stehende "Philosophie der Sinnlichkeit"; ich schließe mich
diesen überzeugenden Ausführungen durchaus an.
Grenzen der Sinneswahrnehmung. Die kritische Vergleichung
der Sinnesthätigkeit beim Menschen und bei den übrigen
Wirbelthieren ergiebt eine Anzahl überaus wichtiger Thatsachen,
welche wir erst den eingehenden Forschungen des 19. Jahrhunderts und
besonders seiner zweiten Hälfte verdanken. Ganz besonders gilt
dies von den beiden höchstentwickelten, den "ästhetischen
Sinneswerkzeugen", Auge und Ohr. Dieselben zeigen im Stamme der
Wirbelthiere einen anderen und verwickelteren Bau aus bei den
übrigen Thieren und entwickeln sich auch im Embryo derselben
auf eigenthümliche Weise. Diese typische Ontogenese und Struktur
der Sensillen bei sämmtlichen Wirbelthieren erklärt sich
durch Vererbung von einer gemeinsamen Stammform. Innerhalb
der Stammes aber zeigt sich eine große Mannigfaltigkeit der
Ausbildung im Einzelnen, und diese ist bedingt durch die
Anpassung an die Lebensweise der einzelnen Arten, durch den
gesteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Theile.
Der Mensch erscheint nun in Bezug auf die Ausbildung seiner Sinne
keineswegs als das vollkommenste und höchstentwickelte
Wirbelthier. Das Auge der Vögel ist viel schärfer und
unterscheidet kleine Gegenstände auf weite Entfernung viel
deutlicher als das menschliche Auge. Das Gehör vieler
Säugethiere, besonders der in Wüsten lebenden Raubthiere,
Hufthiere, Nagethiere u. s. w., ist viel empfindlicher als das menschliche
und nimmt leise Geräusche auf viel weitere Entfernungen wahr;
darauf weist schon ihre große und sehr bewegliche Ohrmuschel
hin. Die Singvögel offenbaren selbst in Bezug auf musikalische
Begabung eine höhere Entwickelungsstufe als viele Menschen. Der
Geruchssinn ist bei den meisten Säugethieren, namentlich
Raubthieren und Hufthieren, viel mehr ausgebildet als beim Menschen;
wenn der Hund seine eigene feine Spürnase mit derjenigen des
Menschen vergleichen könnte, würde er mitleidig auf
letztere herabsehen. Auch in Bezug auf die niederen Sinne, den
Geschmackssinn, den Geschlechtssinn, den Tastsinn und den
Temperatursinn, behauptet der Mensch keineswegs in jeder Beziehung
die höchste Entwickelungsstufe.
Wir selbst können natürlich nur über diejenigen
Sinnesempfindungen urtheilen, die wir selbst besitzen. Nun weist uns
aber die Anatomie im Körper vieler Thiere noch andere als unsere
bekannten Sinnesorgane nach. So besitzen die Fische und andere
niedere, im Wasser lebende Wirbelthiere eigenthümliche Sensillen
in der Haut, welche mit besonderen Sinnesnerven in Verbindung stehen.
In den Seiten des Fischkörpers verläuft rechts und links ein
langer Kanal, der vorn am Kopfe in mehrere verzweigte Kanäle
übergeht. In diesen "Schleimkanälen" liegen Nerven mit
zahlreichen Aesten, deren Enden mit eigenthümlichen
Nervenbündeln verbunden sind. Wahrscheinlich dient dieses
ausgedehnte "Hautsinnesorgan" zur Wahrnehmung von Unterschieden
im Wasserdruck oder in anderen Eigenschaften des Wassers. Einige
Gruppen sind noch durch den Besitz anderer eigenthümlicher
Sensillen ausgezeichnet, deren Bedeutung uns unbekannt ist.
Schon aus diesen Thatsachen ergiebt sich, daß unsere menschliche
Sinnesthätigkeit beschränkt ist, und zwar sowohl in
quantitativer als in qualitativer Hinsicht. Wir können also mit
unseren Sinnen, vor Allem dem Auge und dem Tastsinn, immer nur
einen Theil der Eigenschaften erkennen, welche die Objekte der
Außenwelt besitzen. Aber auch diese partielle Wahrnehmung ist
unvollständig, insofern unsere Sinneswerkzeuge unvollkommen
sind und die Sinnesnerven als Dolmetscher dem Gehirn nur die
Uebersetzung der empfangenen Eindrücke mittheilen.
Diese anerkannte Unvollkommenheit unserer Sinnesthätigkeit darf
uns aber nicht hindern, in deren Werkzeugen, und vor Allem im Auge,
die edelsten Organe zu erblicken; im Vereine mit den Denkorganen des
Gehirns sind sie das werthvollste Geschenk der Natur für den
Menschen. In voller Wahrheit sagt Albrecht Rau (a. a. O.): "Alle
Wissenschaft ist in letzter Linie Sinneserkenntniß"; die Data der
Sinne werden darin nicht negirt, sondern interpretirt. Die Sinne sind
unsere ersten und besten Freunde; lange bevor sich der Verstand
entwickelt, sagen die Sinne dem Menschen, was er thun und lassen soll.
Wer die Sinnlichkeit überhaupt verneint, um ihren
Gefahren zu entgehen, der handelt ebenso unbesonnen und
thöricht als der, welcher seine Augen ausreißt, weil sie
einmal auch schändliche Dinge sehen könnten; oder der,
welcher seine Hand abhaut, weil er fürchtet, sie könnte
einmal auch nach fremdem Gute langen." Mit vollem Rechte nennt
deshalb Feuerbach alle Philosophien, alle Religionen, alle
Institute, die dem Principe der Sinnlichkeit wiedersprechen, nicht
nur irrthümliche, sondern sogar grundverderbliche. Ohne
Sinne keine Erkenntniß! "Nihil est in entellectu, quod non fuerit
in sensu!" (Locke.) Welches hohe Verdienst sich neuerdings
der Darwinismus um die tiefere Erkenntniß und richtige
Würdigung der Sinnesthätigkeit erworben hat, habe ich
schon vor 25 Jahren in meinem Vortrage "Ueber Ursprung und
Entwickelung der Sinnesorgane" zu zeigen versucht (Bonn 1878).
Hypothese und Glaube. Der Erkenntnißtrieb des
hochentwickelten Kulturmenschen begnügt sich nicht mit jener
lückenhaften Kenntniß der Außenwelt, welche er durch
seine unvollkommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht sich
vielmehr, die sinnlichen Eindrücke, welche er durch dieselben
gewonnen hat, in Erkenntniß-Werthe umzusetzen; er verwandelt
sie in den Sinnesherden der Großhirnrinde in specifische Sinnes-Empfindungen und verbindet diese durch Associon in deren
Denkherden zu Vorstellungen; durch weitere Verkettung der
Vorstellungs-Gruppen gelangt er endlich zu sammenhängendem
Wissen. Aber dieses Wissen bleibt immer lückenhaft und
unbefriedigend, wenn nicht die Phantasie die ungenügende
Kombinations-Kraft des erkennenden Verstandes ergänzt und
durch Associon von Gedächtnißbildern entfernt liegende
Erkenntnisse zu einem zusammenhängenden Ganzen
verknüpft. Dabei entstehen neue allgemeine Vorstellungs-Gebilde,
welche erste die wahrgenommenen Thatsachen erklären, und das
"Kausalitätsbedürfniß der Vernunft befriedigen."
Die Vorstellungen, welche die Lücken des Wissens ausfüllen
oder an dessen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als
"Glauben" bezeichnen. So geschieht es fortwährend im
alltäglichen Leben. Wenn wir irgend eine Thatsache nicht sicher
wissen, so sagen wir: Ich glaube sie. In diesem Sinne sind wir auch in
der Wissenschaft selbst zum Glauben gezwungen; wir vermuthen oder
nehmen an, daß ein bestimmtes Verhältniß zwischen
zwei Erscheinungen besteht, obwohl wir dasselbe nicht sicher kennen.
Handelt es sich dabei um die Erkenntniß von Ursachen, so
bilden wir uns eine Hypothese. Indessen dürfen in der
Wissenschaft nur solche Hypothesen zugelassen werden, die innerhalb
des menschlichen Erkenntniß-Vermögens liegen, und die
nicht bekannten Thatsachen widersprechen. Soche Hypothesen sind z. B.
in der Physik die Lehre von Vibrationen des Aethers, in der Chemie die
Annahme der Atome und deren Wahlverwandtschaft, in der Biologie die
Lehre von der Molekular-Struktur des lebendigen Plasmas u. s. w.
Theorie und Glaube. Die Erklärung einer
größeren Reihe von zusammenhängenden
Erscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache nennen wir
Theorie. Auch bei der Theorie, wie bei der Hypothese, ist der
Glaube (in wissenschaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch
hier ergänzt die dichtende Phantasie die Lücke, welche der
Verstand in der Erkenntniß des Zusammenhangs der Dinge offen
läßt. Die Theorie kann daher immer nur als eine
Annäherung an die Wahrheit betrachtet werden; es muß
zugestanden werden, daß sie später durch eine andere,
besser begründete Theorie verdrängt werden kann. Trotz
dieser eingestandenen Unsicherheit bleibt die Theorie für jede
wahre Wissenschaft unentbehrlich; denn sie erklärt erst die
Thatsachen durch Annahme von Ursachen. Wer auf die Theorie ganz
verzichten und reine Wissenschaft bloß aus "sicheren Thatsachen"
aufbauen will (wie es oft von beschränkten Köpfen in der
modernen sogenannten "exakten Naturwissenschaft" geschieht), der
verzichtet damit auf die Erkenntniß der Ursachen überhaupt
und somit auf die Befriedigung des Kausalitäts-Bedürfnisses
der Vernunft.
Die Gravitations-Theorie in der Astronomie (Newton), die
kosmologische Gas-Theorie in der Kosmogenie (Kant und
Laplace), das Energie-Princip in der Physik (Mayer und
Helmholtz), die Atom-Theorie in der Chemie (Dalton), die
Vibrations-Theorie in der Optik, (Huyghens), die Zellen-Theorie in
der Gewebelehre (Schleiden und Schwann), die
Descendenz-Theorie in der Biologie (Lamarck und Darwin)
sind gewaltige Theorien ersten Ranges; sie erklären eine ganze
Welt von großen Natur-Erscheinungen durch Annahme einer
gemeinsamen Ursache für alle einzelnen Thatsachen ihres
Gebietes und durch den Nachweis, daß alle Erscheinungen in
demselben zusammenhängen und durch feste, von dieser einen
Ursache ausgehende Gesetze geregelt werden. Dabei kann aber diese
Ursache selbst ihrem Wesen nach unbekannt oder nur eine
"provisorische Hypothese" sein. Die "Schwerkraft" in der
Gravitations-Theorie und in der Kosmogenie, die "Energie" selbst
in ihrem Verhältniß zur Materie, der "Aether" in der
Optik und Elektrik, das "Atom" in der Chemie, das lebendige
"Plasma" in der Zellenlehre, die "Vererbung" in der
Abstammungslehre - diese und ähnliche Grundbegriffe in anderen
großen Theorien können von der skeptischen Philosophie als
"bloße Hypothesen", als Erzeugnisse des wissenschaftlichen
Glaubens betrachtet werden, aber sie bleiben uns als solche
unentbehrliche, so lange, bis sie durch eine bessere Hypothese
ersetzt werden.
Glaube und Aberglaube. Ganz anderer Natur als diese Formen
des wissenschaftlichen Glaubens sind diejenigen Vorstellungen, welche
ein den verschiedenen Religionen zur Erklärung der
Erscheinungen benutzt und schlechtweg als Glaube im engeren
Sinne (!) bezeichnet werden. Da aber diese beiden Glaubens-Formen, der
"natürliche Glaube" der Wissenschaft und der
"übernatürliche Glaube" der Religion, nicht selten
verwechselt werden und so Verwirrung entsteht, ist es
zweckmäßig, ja nothwendig ihren principiellen
Gegensatz zu betonen. Der "religiöse" Glaube ist stets
Wunderglaube und steht als solcher mit dem natürlichen
Glauben der Vernunft in unversöhnlichen Widerspruch. Im
Gegensatz zu letzterem behauptet er übernatürliche
Vorgänge und kann somit als "Ueberglaube" oder
"Oberglaube" bezeichnet werden, die ursprüngliche Form
des Wortes Aberglaube. Der wesentliche Unterschied dieses
Aberglaubens von dem "vernünftigen Glauben" besteht eben
darin, daß er übernatürliche Kräfte und
Erscheinungen annimmt, welche die Wissenschaft nicht kennt und nicht
zuläßt, welche durch irrthümliche Wahrnehmungen
und falsche Phantasie-Dichtungen erzeugt sind; der Aberglaube
widerspricht mithin den klar erkannten Naturgesetzen und ist als
solcher unvernünftig.
Aberglaube der Naturvölker. Durch die großen
Fortschritte der Ethnologie im 19. Jahrhundert ist uns eine erstaunliche
Fülle von mannigfaltigen Formen und Erzeugnissen des
Aberglaubens bekannt geworden, wie sie noch heute unter den rohen
Naturvölkern existiren. Vergleicht man dieselben unter einander
und mit den entsprechenden mythologischen Vorstellungen
früherer Zeiten, so ergiebt sich eine vielfache Analogie, oft ein
gemeinsamer Ursprung und zuletzt eine einfache Urquelle für alle.
Diese finden wir in dem natürlichen Kausalitäts-Bedürfnisse der Vernunft, in dem Suchen nach
Erklärung unbekannter Erscheinungen durch Auffinden ihrer
Ursachen. Besonders gilt das von solchen Bewegungs-Erscheinungen, die
Gefahr drohen und Furcht erregen, wie Blitz und Donner, Erdbeben,
Mondfinsterniß u. s. w. Das Bedürfniß nach kausaler
Erklärung solcher Naturerscheinungen besteht schon bei den
Naturvölkern der niedersten Stufe und ist bereits von ihren
Primaten-Ahnen durch Vererbung übertragen. Es besteht ebenso
bei vielen anderen Wirbelthieren. Wenn ein Hund den Vollmond anbellt
oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er sich bewegen
sieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, so äußert er dabei
nicht nur Furcht, sondern auch den dunklen Drang nach Erkenntniß
der Ursache dieser unbekannten Erscheinung. Die rohen Religions-Anfänge der primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln
theilweise in solchem erblichen Aberglauben ihrer Primaten-Ahnen,
theilweise im Ahnen-Kultus, in verschiedenen Gemüths-Bedürfnissen und in traditionell gewordenen Gewohnheiten.
Aberglaube der Kulturvölker. Die religiösen
Glaubens-Vorstellungen der modernen Kulturvölker, die ihnen als
höchster geistiger Besitz gelten, pflegen von ihnen hoch über
den "rohen Aberglauben" der Naturvölker gestellt zu werden; man
preist den großen Fortschritt, welchen die aufklärende Kultur
durch Beseitigung des letzteren herbeigeführt habe. Das ist ein
großer Irrthum! Bei unbefangener kritischer Prüfung und
Vergleichung zeigt sich, daß beide nur durch die besondere "Gestalt
des Glaubens" und durch die äußere Hülle der
Konfession von einander verschieden sind. Im klaren Lichte der
Vernunft erscheint der destillirte Wunderglaube der
freisinnigsten Kirchen-Religionen - insofern er klar erkannten und
festen Naturgesetzen widerspricht, genau so als unvernünftiger
Aberglaube, wie der rohe Gespensterglaube der primitiven Fetisch-Religionen, auf welchen jene stolz herabsehen.
Werfen wir von diesem unbefangenen Standpunkte einen kritischen
Blick auf die gegenwärtig noch herrschenden Glaubens-Vorstellungen der heutigen Kulturvölker, so finden wir sie
allenthalben von traditionellen Aberglauben durchdrungen. Der
christliche Glaube an die Schöpfung, die Dreieinigkeit Gottes, an
die unbefleckte Empfängniß Mariä, an die
Erlösung, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi u. s. w. ist
ebenso reine Dichtung und kann ebenso wenig mit der
vernünftigen Natur-Erkenntniß in Einklang gebracht werden,
als die verschiedenen Dogmen der mohammedanischen und mosaischen,
der buddhistischen und brahmanischen Religion. Jede von diesen
Religionen ist für den wahrhaft "Gläubigen" eine
zweifellose Wahrheit, und jede von ihnen betrachtet jede andere
Glaubenslehre als Ketzerei und verderblichen Irrthum. Je mehr eine
bestimmte Konfession sich für die "allein selig machende"
hält - für die "katholische" - und je inniger diese
Ueberzeugung als heiligste Herzenssache vertheidigt wird, desto eifriger
muß sie naturgemäß alle anderen Konfessionen
bekämpfen, und desto fanatischer gestalten sich die
fürchterlichen Glaubenskriege, welche die traurigsten
Blätter im Buche der Kulturgeschichte bilden. Und doch
überzeugt uns die unparteiische "Kritik der reinen
Vernunft", daß alle diese verschiedenen Glaubensformen in
gleichem Maße unwahr und unvernünftig sind, Produkte der
dichtenden Phantasie und der unkritischen Tradition. Die
vernünftige Wissenschaft muß sie sammt und sonders als
Erzeugnisse des Aberglaubens verwerfen.
Glaubens-Bekenntniß (Konfession). Der
unermeßliche Schaden, welchen der unvernünftige
Aberglaube seit Jahrtausenden in der gläubigen Menschheit
angerichtet hat, offenbart sich wohl nirgends auffälliger als in dem
unaufhörlichen "Kampfe der Glaubens-Bekenntnisse". Unter allen
Kriegen, welche die Völker mit Feuer und Schwert gegen einander
geführt haben, sind die Religionskriege die blutigsten gewesen;
unter allen Formen der Zwietracht, welche das Glück der Familien
und der einzelnen Personen zerstört haben, sind die
religiösen, dem Glaubens-Unterschiede entsprungenen noch heute
die gehässigsten. Man denke nur an die vielen Millionen
Menschen, welche in den Christen-Bekehrungen und -Verfolgungen, in
den Glaubenskämpfen des Islam und der Reformation, durch die
Inquisition und die Hexen-Prozesse ihr Leben verloren haben. Oder man
denke an die noch größere Zahl der Unglücklichen,
welche wegen Glaubens-Verschiedenheiten in Familien-Zwist gerathen,
ihr Ansehen bei den gläubigen Mitbürgern und ihre Stellung
im Staate verloren oder aus dem Vaterlande haben auswandern
müssen. Die verderblichste Wirkung übt das officielle
Glaubens-Bekenntniß dann, wenn es mit den politischen Zwcken
des Kultur-Staates verknüpft und als "konfessioneller Religions-Unterricht" in den Schulen zwangsweise gelehrt wird. Die Vernunft der
Kinder wird dadurch schon frühzeitig von der Erkenntniß der
Wahrheit abgelenkt und dem Aberglauben zugeführt. Jeder
Menschenfreund sollte daher die konfessionslose Schule, als eine
der werthvollsten Institutionen des modernen Vernunft-Staates, mit
allen Mitteln zu fördern suchen.
Der Glaube unserer Väter. Der hohe Werth, welcher
trotzdem noch heute in den weitesten Kreisen dem konfessionellen
Religions-Unterricht beigelegt wird, ist nicht allein durch den
Konfessions-Zwang des rückständigen Kultur-Staates und
dessen Abhängigkeit von klerikaler Herrschaft bedingt, sondern
auch durch das Gewicht von alten Traditionen und von "Gemüths-Bedürfnissen" verschiedener Art. Unter diesen ist besonders
wirkungsvoll die andächtige Verehrung, welche in weitesten
Kreisen der konfessionellen Tradition gezollt wird, dem "heiligen
Glauben unserer Väter". In Tausenden von Erzählungen und
Gedichten wird das Festhalten an demselben als ein geistiger Schatz und
als eine heilige Pflicht gepriesen. Und doch genügt unbefangenes
Nachdenken über die Geschichte des Glaubens, um uns von
der völligen Ungereimtheit jener einflußreichen Vorstellung
zu überzeugen. Der herrschende evangelische Kirchenglaube in der
zweiten Hälfte des aufgeklärten 19. Jahrhunderts ist
wesentlich verschieden von demjenigen in der ersten Hälfte
desselben, und dieser wieder von demjenigen des 18. Jahrhunderts. Der
letztere weicht sehr ab von dem "Glauben unserer Väter" im 17.
und noch mehr im 16. Jahrhundert. Die Reformation, welche die
geknechtete Vernunft von der Tyrannei des Papismus befreite, wird
natürlich von dieser als ärgste Ketzerei verfolgt; aber auch
der Glaube des Papismus selbst hatte sich im Laufe eines Jahrtausends
völlig verändert. Und wie verschieden ist der Glaube der
getauften Christen von demjenigen ihrer heidnischen Väter! Jeder
selbstständig denkende Mensch bildet sich eben seinen eigenen,
mehr oder weniger "persönlichen Glauben", und immer ist dieser
verschieden von demjenigen seiner Väter; denn er ist
abhängig von dem gesammten Bildungs-Zustande seiner Zeit. Je
weiter wir in der Kultur-Geschichte zurückgehen, desto mehr
erscheint uns der gepriesene "Glaube unserer Väter" als
unhaltbarer Aberglaube, dessen Formen sich beständig
umbilden.
Spiritismus. Eine der merkwürdigsten Formen des
Aberglaubens ist diejenige, welche noch heutzutage in unserer
modernen Kulturwelt eine erstaunliche Rolle spielt, der Spiritismus und
Okkultismus, der moderne Geisterglaube. Es ist eine ebenso
befremdende wie betrübende Thatsache, daß noch heute
Millionen gebildeter Kulturmenschen von diesem finsteren Aberglauben
völlig beherrscht sind; ja sogar einzelne berühmte
Naturforscher haben sich von demselben nicht losmachen können.
Zahlreiche spiritistische Zeitschriften verbreiten diesen Gespenster-Glauben in weitesten Kreisen und unsere "feinsten Gesellschafts-Kreise"
schämen sich nicht, "Geister" erscheinen zu lassen, welche klopfen,
schreiben, "Mittheilungen aus dem Jenseits" machen u. s. w. Man beruft
sich in den Kreisen der Spiritisten oft darauf, daß selbst
angesehene Naturforscher diesem Aberglauben huldigen. In Deutschland
werden dafür als Beispiele u. A. Zöllner und
Fechner in Leipzig angeführt, in England Wallace
und Crookes in London. Die bedauerliche Thatsache, daß
selbst so hervorragende Physiker und Biologen sich dadurch haben irre
führen lassen, erklärt sich theils aus ihrem Uebermaß
an Phantasie und Kritikmangel, theils aus dem mächtigen
Einfluß starrer Dogmen, welche religiöse Erziehung dem
kindlichen Gehirn in frühester Jugend schon einprägt.
Uebrigens ist gerade bei den berühmten spiritistischen
Vorstellungen in Leipzig, in welchen die Physiker Zöllner,
Fechner und Wilhelm Weber durch den schlauen
Taschenspieler Slade irre geführt wurden, der Schwindel
des Letzteren nachträglich klar zu Tage gekommen; Slade
selbst wurde als gemeiner Betrüger entlarvt und bestraft. Auch in
allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen "Wunder des
Spiritismus" gründlich untersucht werden konnten, hat sich als
Ursache derselben eine gröbere oder feinere Täuschung
herausgestellt, und die sogenannten "Medien" (meist weiblichen
Geschlechts) sind theils als schlaue Schwindler entlarvt, theils als
nervöse Personen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt
worden. Ihre angebliche Telepathie (oder "Fernwirkung des
Gedankens ohne materielle Vermittelung") existirt ebenso wenig als die
"Stimmen der Geister", die "Seufzer der Gespenster" u. s. w. Die lebhaften
Schilderungen, welche Carl du Prel und andere Spiritisten von
solchen "Geister-Erscheinungen" geben, beruhen auf Thätigkeit der
freien Phantasie, verbunden mit Mangel an Kritik und an
physiologischen Kenntnissen.
Offenbarung (Revelation). Die meisten Religionen haben trotz
ihrer mannigfaltigen Verschiedenheit einen gemeinsamen Grundzug, der
zugleich eine ihrer mächtigsten Stützen in weiten Kreisen
bildet; sie behaupten, die Räthsel des Daseins, deren Lösung
auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich ist,
auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu
können; zugleich leiten sie daraus die Geltung der Dogmen oder
Glaubenssätze ab, welche als "göttliche Gesetze" die
Sittenlehre ordnen und die Lebensführung bestimmen sollen.
Derartige göttliche Inspirationen bilden die Grundlage zahlreicher
Mythen und Legenden, deren anthropistischer Ursprung auf der Hand
liegt. Zwar erscheint der Gott, der "sich offenbart", oft nicht direkt in
menschlicher Gestalt, sondern im Donner und Blitz, im Sturm und
Erdbeben, im feurigen Busch oder der drohenden Wolke. Aber die
Offenbarung selbst, wird in allen Fällen anthropistisch gedacht, als
Mittheilung von Vorstellungen oder Befehlen, welche genau so
formuliert und ausgesprochen werden, wie es normaler Weise nur durch
die Großhirnrinde und durch den Kehlkkopf des Menschen
geschieht. In den indischen und egyptischen Religionen, in der
hellenischen und römischen Mythologie, im Talmud wie im Koran,
im Alten wie im Neuen Testament - denken, sprechen und handeln die
Götter ganz wie die Menschen, und die Offenbarungen, in denen
sie uns die Geheimnisse des Daseins enthüllen, die dunkeln
Welträthsel lösen wollen, sind Dichtungen der
menschlichen Phantasie. Die Wahrheit, welche der Gläubige
darin findet, ist menschliche Erfindung, und der "kindliche Glaube" an
diese unvernünftigen Offenbarungen ist Aberglaube.
Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle vernünftiger
Erkenntniß, ist nur in der Natur zu finden. Der reiche Schatz
wahren Wissens, der den werthvollsten Theil der menschlichen Kultur
darstellt, ist einzig und allein den Erfahrungen entsprungen, welche der
forschende Verstand durch Natur-Erkenntniß gewonnen hat,
und den Vernunft-Schlüssen, welche er durch richtige
Associon dieser empirischen Vorstellungen gebildet hat. Jeder
vernünftige Mensch mit normalem Gehirn und normalen Sinnen
schöpft bei unbefangener Betrachtung aus der Natur diese wahre
Offenbarung und befreit sich damit von dem Aberglauben, welchen ihm
die Offenbarungen der Religion aufgebürdet haben.
Siebzehntes Kapitel
Wissenschaft und Christenthum.
Monistische Studien über den Kampf zwischen der
wissenschaftlichen Erfahrung und der christlichen Offenbarung. Die vier
Perioden in der historischen Metamorphose der christlichen Religion.
Vernunft und Dogma.
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Inhalt: Wachsender Gegensatz zwischen moderner
Naturerkenntniß und christlicher Weltanschauung. Der alte und der
neue Glaube. Vertheidigung der vernünftigen Wissenschaft gegen
die Angriffe des christlichen Aberglaubens, vor Allem gegen den
Papismus. Vier Perioden in der Entwickelungsgeschichte des
Christenthums. I. Das Urchristenthum (drei Jahrhunderte). Die vier
kanonischen Evangelien. Die Episteln Pauli. II. Der Papismus (das
ultramontane Christenthum). Rückschritt der Kultur im Mittelalter.
Ultramontane Geschichtsfälschung. Papismus und Wissenschaft.
Papismus und Christenthum. III. Die Reformation. Luther und Calvin.
Das Jahrhundert der Aufklärung. IV. Das Scheinchristenthum des
19. Jahrhunderts. Die Kriegserklärung des Papstes gegen die
Vernunft und Wissenschaft: I. Unfehlbarkeit. II. Encyklika. III.
Unbefleckte Empfängniß.
Zu den hervorragenden Charakterzügen des scheidenden 19.
Jahrhunderts gehört die wachsende Schärfe des Gegensatzes
zwischen Wissenschaft und Christenthum. Das ist ganz natürlich
und nothwendig; denn in demselben Maße, in welchem die
siegreichen Fortschritte der modernen Naturerkenntniß alle
wissenschaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte
überflügeln, ist zugleich die Unhaltbarkeit aller jener
mystischen Weltanschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft
unter das Joch der sogenannten "Offenbarung" beugen wollen;
und dazu gehört auch die christliche Religion. Je sicherer durch die
moderne Astronomie, Physik und Chemie die Alleinherrschaft
unbeugsamer Naturgesetze im Universum, durch die moderne Botanik,
Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derselben Gesetze im
Gesammtbereiche der organischen Natur nachgewiesen ist, desto
heftiger sträubt sich die christliche Religion, im Vereine mit der
dualistischen Metaphysik, die Geltung dieser Naturgesetze im Bereiche
des sogenannten "Geisteslebens" anzuerkennen, d. h. in einem
Theilgebiete der Gehirn-Physiologie.
Diesen offenkundigen und unversöhnlichen Gegensatz zwischen
der modernen wissenschaftlichen und der überlebten christlichen
Weltanschauung hat Niemand klarer, muthiger und unwiderleglicher
bewiesen als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts,
David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntniß: "Der
alte und der neue Glaube" (1872, vierzehnte Auflage 1900) ist der
allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Ueberzeugung aller
derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unvermeidlichen
Konflikt zwischen den anerzogenen, herrschenden Glaubenslehren des
Christenthums und den einleuchtenden, vernunftgemäßen
Offenbarungen der modernen Naturwissenschaft einsehen; aller
derjenigen, welche den Muth finden, das Recht der Vernunft
gegenüber den Ansprüchen des Aberglaubens zu
wahren, und welche das philosophische Bedürfniß nach einer
einheitlichen Naturanschauung empfinden. Strauß hat als
ehrlicher und muthiger Freidenker weit besser, als ich es vermag, die
wichtigsten Gegensätze zwischen "altem und neuem Glauben"
klargelegt. Die volle Unversöhnlichkeit des Entscheidungskampfes
zwischen beiden - "auf Tod und Leben" - hat von philosophischer Seite
namentlich Eduard Hartmann nachgewiesen in seiner
interessanten Schrift über die Selbstzersetzung des Christenthums
(1874).
Unter den zahlreichen Werken, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die
wissenschaftliche Kritik des Christenthums, seines Wesens und seiner
Lehre gefördert haben, sind außerdem namentlich folgende
hervorzuheben: David Strauß, Das Leben Jesu für das
deutsche Volk. 1864 (XI. Auflage, Bonn 1890). Ludwig Feuerbach,
Das Wesen des Christenthums. 1841 (IV. Aufl. 1883). Paul de
Regla (P. Desjardin), Jesus von Nazareth, vom wissenschaftlichen,
geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte dargestellt. Leipzig,
1894. S. E. Verus, Vergleichende Uebersicht der vier Evangelien.
Leipzig, 1897.
Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach,
sowie die "Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft"
von John William Draper (1875) gelesen hat, könnte es
überflüssig erscheinen, diesem Gegenstande hier ein
besonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und
nothwendig sein, hier einen kritischen Blick auf den historischen
Verlauf dieses großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb, weil
die Angriffe der streitenden Kirche auf die Wissenschaft im
Allgemeinen und auf die Entwickelungslehre im Besonderen in neuester
Zeit besonders scharf und gefahrdrohend geworden sind. Auch ist leider
die geistige Erschlaffung, welche sich neuerdings geltend macht, so wie
die steigende Fluth der Reaktion auf politischem, socialem und
kirchlichem Gebiete nur zu sehr geeignet, jene Gefahren zu
verschärfen. Wollte Jemand daran zweifeln, so braucht er nur die
Verhandlungen der christlichen Synoden und des Deutschen Reichstags
in den letzten Jahren zu lesen. Im Einklang damit stehen die
Bemühungen vieler weltlicher Regierungen, sich mit dem
geistlichen Regimente, ihrem natürlichen Todfeinde, auf
möglichst gutem Fuß zu setzen, d. h. sich dessen Joche zu
unterwerfen; als gemeinsames Ziel schwebt dabei den beiden
Verbündeten die Unterdrückung des freien Gedankens und
der freien wissenschaftlichen Forschung vor, mit dem Zwecke, sich auf
diese Weise am leichtesten die absolute Herrschaft zu sichern.
Wir müssen ausdrücklich betonen, daß es sich hier um
nothgedrungene Vertheidigung der Wissenschaft und der
Vernunft gegen die scharfen Angriffe der christlichen Kirche und ihrer
gewaltigen Heerschaaren handelt, und nicht etwa um unberechtigte
Angriffe der ersteren gegen die letzteren. In erster Linie
muß dabei unsere Abwehr gegen den Papismus oder
Ultramontanismus gerichtet sein; denn diese "allein selig
machende" und "für Alle bestimmte" katholische Kirche ist nicht
allein weit größer und weit mächtiger als die anderen
christlichen Konfessionen, sondern sie besitzt vor Allem den Vorzug
einer großartigen, centralisirten Organisation und einer
unübertroffenen politischen Schlauheit. Man hört allerdings
oft von Naturforschern und von anderen Männern der
Wissenschaft die Ansicht äußern, daß der katholische
Aberglaube nicht schlimmer sei als die anderen Formen des
übernatürlichen Glaubens, und daß diese
trügerischen "Gestalten des Glaubens" alle in gleichem Maße
die natürlichen Feinde der Vernunft und Wissenschaft seien. Im
allgemeinen theoretischen Princip ist diese Behauptung richtig, aber in
Bezug auf die praktischen Folgen irrthümlich; den die
zielbewußten und rücksichtslosen Angriffe der
ultramontanen Kirche auf die Wissenschaft, gestützt auf die
Trägheit und Dummheit der Volksmassen, sind vermöge
ihrer mächtigen Organisation ungleich schwerer und
gefährlicher als diejenigen aller anderen Religionen.
Entwickelung des Christenthums. Um die ungeheure
Bedeutung des Christenthums für die ganze Kulturgeschichte,
besonders aber seinen principiellen Gegensatz gegen Vernunft und
Wissenschaft richtig zu würdigen, müssen wir einen
flüchtigen Blick auf die wichtigsten Abschnitte seiner
geschichtlichen Entwickelung werfen. Wir unterscheinen in derselben
vier Hauptperioden: I. das Urchristenthum (die drei ersten
Jahrhunderte), II. den Papismus (zwölf Jahrhunderte, vom
vierten bis zu fünfzehnten), III. die Reformation (drei
Jahrhunderte, von sechzehnten bis achtzehnten), IV. das moderne
Scheinchristenthum (im neunzehnten Jahrhundert).
I. Das Urchristenthum umfaßt die ersten drei Jahrhunderte.
Christus selbst, der edle, ganz von Menschenliebe erfüllte Prophet
und Schwärmer, stand tief unter dem Niveau der klassischen
Kulturbildung; er kannte nur jüdische Tradition; er hat selbst
keine einzige Zeile hinterlassen. Auch hatte er von dem hohen Zustande
der Welterkenntniß, zu dem die griechische Philosophie und
Naturforschung schon ein halbes Jahrtausend früher sich erhoben
hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und von seiner
ursprünglichen Lehre wissen, schöpfen wir aus den
wichtigsten Schriften des Neuen Testamentes: erstens aus den vier
Evangelien und zweitens aus den paulinischen Briefen. Von den vier
kanonischen Evangelien wissen wir jetzt, daß sie im Jahre 325
auf dem Koncil zu Nicäa durch 3318 versammelte Bischöfe
aus einem Haufen von wiedersprechenden und gefälschten
Handschriften der drei ersten Jahrhunderte ausgesucht wurden. Auf die
weitere Wahlliste kamen vierzig, auf die engere vier Evangelien. Da sich
die streitenden, boshaft sich schmähenden Bischöfe
über die Auswahl nicht einigen konnten, beschloß man, die
Auswahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu lassen, man
legte alle Bücher zusammen unter den Altar und betete, daß
die unechten, menschlichen Ursprungs, darunter liegen bleiben
möchten, die echten von Gott selbst eingegebenen dagegen auf den
Tisch des Herrn hinaufhüpfen möchten. Und das geschah
wirklich! Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus,
Lukas - alle drei nicht von ihnen, sondern nach ihnen
niedergeschrieben, im Beginn des zweiten Jahrhunderts -) und
das ganz verschiedene vierte Evangelium (angeblich nach
Johannes, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgefaßt), alle
vier hüpften auf den Tisch und wurden nunmehr zu echten
(tausendfach sich widersprechenden!) Grundlagen der christlichen
Glaubenslehre. Sollte ein moderner "Ungläubiger" dieses
"Bücherhüpfen" unglaubwürdig finden, so
erinnern wir ihn daran, daß das ebenso glaubhafte
"Tischrücken" und "Geisterklopfen" noch heute von
Millionen "gebildeter" Spiritisten fest geglaubt wird; und Hunderte von
Millionen gläubiger Christen sind noch heute ebenso fest von ihrer
eigenen Unsterblichkeit, ihrer "Auferstehung nach dem Tode" und von
der "Dreieinigkeit Gottes" überzeugt - Dogmen, welcher der reinen
Vernunft nicht mehr und nicht weniger widersprechen als jenes
wunderbare Springen der Evangelien-Handschriften. Näheres
darüber berichtet der englische Theologe Saladin (Stewart
Rofs) in seiner scharfsinnigen, neuerdings vielbesprochenen Schrift:
"Jehovahs Gesammelte Werke", eine kritische Untersuchung des
jüdisch-christlichen Religions-Gebäudes auf Grund der
Bibelforschung, Leipzig 1896. (Vergl. Anm. 4, S. 159.).
Nächst den Evangelien sind bekanntlich die wichtigsten Quellen
die 13 verschiedenen (größtentheils gefälschten!)
Episteln des Apostels Paulus. Die echten paulinischen Briefe (der
neueren Kritik zufolge nur vier: an die Römer, die Galater und die
beiden Korinther-Briefe) sind sämmtlich früher
niedergeschrieben als die vier kanonischen Evangelien und enthalten
weniger unglaubliche Wundersagen als die letzteren; auch suchen sie
mehr als diese sich mit einer vernünftigen Weltanschauung zu
vereinigen. Die aufgeklärte Theologie der Neuzeit konstruirt daher
theilweise ihr ideales Christenthum mehr auf Grund der Paulus-Briefe als der Evangelien, so daß man dasselbe geradezu als
Paulinismus bezeichnet hat. Die bedeutende Persönlichkeit
des Apostels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntniß und
praktischen Sinn befaß als Christus, ist für die
anthropologische Beurtheilung auch insofern interessant, als der
Rassen-Ursprung der beiden großen Religions-Stifter
ähnlich sein soll. Auch den beiden Eltern des Paulus soll
(neueren historischen Forschungen zufolge) der Vater griechischer, die
Mütter jüdischer Rasse sein. Die Mischlinge dieser beiden
Rassen, die ursprünglich ja sehr verschieden sind (obgleich beide
Zweige derselben Species: Homo mediterraneus!), zeichnen
sich oft durch eine glückliche Mischung der Talente und
Charakter-Eigenschaften aus, wie auch viele Beispiele aus neuerer Zeit
und aus der Gegenwart beweisen. Die plastische orientalische Phantasie
der Semiten und die kritische occidentale Vernunft der
Arier ergänzen sich oft in vortheilhafter Weise. Das zeigt
sich auch in der paulinischen Lehre, die bald größeren
Einfluß gewann als die älteste urchristliche Anschauung. Man
hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue
Erscheinung bezeichnet, deren Vater die griechische Philosophie, deren
Mutter die jüdische Religion war; eine ähnliche Mischung
zeigte der Neuplatonismus.
Ueber die ursprünglichen Lehren und Ziele von Christus -
ebenso wie über viele wichtigen Seiten seines Lebens - sind die
Ansichten der streitenden Theologen um so mehr auseinander gegangen,
je mehr die historische Kritik (Strauß, Feuerbach,
Baur, Renan u. s. w.) die zugänglichen Thatsachen in
ihr wahres Licht gestellt und unbefangene Schlüsse daraus
gezogen hat. Sicher bleibt davon stehen das edelste Princip der
allgemeinen Menschenliebe und der daraus folgende höchste
Grundsatz der Sittenlehre: die "goldene Regel" - beide
übrigens schon Jahrhunderte vor Christus bekannt und
geübt (vergl. Kap. 19)! Im Uebrigen waren die Urchristen
der ersten Jahrhunderte zum größten Theil reine
Kommunisten, zum Theil Social-Demokraten, die nach den heute
in Deutschland herrschenden Grundsätzen mit Feuer und Schwert
hätten vertilgt werden müssen.
II. Der Papismus. Das "lateinische Christenthum" oder
Papstthum, die "romisch-katholische Kirche", oft auch als
Ultramontanismus, nach ihrer Residenz Vatikanismus oder
kurz Papismus bezeichnet, ist unter allen Erscheinungen der
menschlichen Kulturgeschichte eine der großartigsten und
merkwürdigsten, eine "welthistorische Größe" ersten
Ranges; trotz aller Stürme der Zeit erfreut sie sich noch heute des
mächtigsten Einflusses. Von den 410 Millionen Christen, welche
die Erde gegewärtig bewohnen, bekennt die größere
Hälfte, nämlich 225 Millionen, den römischen, nur 75
Millionen den griechischen Katholicismus, und 110 Millionen sind
Protestanten. Während eines Zeitraumes von 1200 Jahren, vom
vierten bis zum sechzehnten Jahrhundert, hat der Papismus das geistige
Leben Europa's vollkommen beherrscht und vergiftet; dagegen hat er
den großen alten Religions-Systemem in Asien und Afrika nur sehr
wenig Boden abgewonnen. In Asien zählt der Buddhismus heute
noch 503 Millionen, die Brahma-Religion 138 Millionen, der Islam 120
Millionen Anhänger. Die Weltherrschaft des Papismus prägt
vor Allem dem Mittelalter seinen finsteren Charakter auf; sie
bedeutet Tod alles freien Geisteslebens, den Rückgang aller
wahren Wissenschaft, den Verfall aller reinen Sittlichkeit. Von der
glänzenden Blüthe, zu welcher sich das menschliche
Geistesleben im klassischen Alterthum erhoben hatte, im ersten
Jahrtausend vor Christus und in den ersten Jahrhunderten nach
demselben, sank dasselbe unter der Herrschaft des Papstthums bald zu
einen Niveau herab, das mit Bezug auf die Erkenntniß der
Wahrheit nur als Barbarei bezeichnet werden kann. Man
rühmt wohl am Mittelalter, daß andere Seiten des
Geisteslebens darin zu reicher Entfaltung gekommen seien, Dichtkunst
und bildende Kunst, scholastische Gelehrsamkeit und patristische
Philosophie. Aber diese Kulturthätigkeit befand sich im Dienste
der herrschenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, sondern zur
Unterdrückung der freien Geistesforschung verwandt. Die
ausschließliche Vorbereitung für ein unbekanntes "ewiges
Leben im Jenseits", die Verachtung der Natur, die Abwendung von
ihrem Studium, welche im Princip der christlichen Religion innewohnt,
wurde von der römischen Hierarchie zur heiligen Pflicht gemacht.
Eine Wandlung zum Besseren brachte erst im Beginn des 16.
Jahrhunderts die Reformation.
Rückschritte der Kultur im Mittelalter. Es würde uns
viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen
Rückschritte schildern wollten, welche menschliche Kultur und
Gesittung während zwölf Jahrhunderte unter der geistigen
Gewaltherrschaft des Papismus erlitten. Am prägnantesten sind
dieselben wohl durch einen einzigen Satz des größten und
geistreichsten Hohenzollern-Fürsten illustrirt; Friedrich
der Große faßte sein Urtheil in dem Satze zusammen, man
werde durch das Studium der Geschichte zu der Ueberzeugung
geführt, daß von Konstantin dem Großen bis auf die Zeit
der Reformation die ganze Welt wahnsinnig gewesen sei. Eine
vortreffliche kurze Schilderung dieser "Wahnsinns-Periode" hat (1887)
L. Büchner gegeben in seiner Schrift "Ueber religiöse
und wissenschaftliche Weltanschauung". Wer sich näher
darüber unterrichten will, den verweisen wir auf die
Geschichtswerke von Ranke, Draper, Kolb,
Svoboda u. s. w. Die wahrheitsgemäße Darstellung,
welche diese und andere unbefangene Historiker von den grauenhaften
Zuständen des christlichen Mittelalters geben, wird
bestätigt durch alle ehrliche Quellenforschung und durch die
kulturgeschichtlichen Denkmäler, welche diese traurigste
Periode der menschlichen Geschichte überall hinterlassen hat.
Gebildete Katholiken, welche ehrlich die Wahrheit suchen,
können nicht genug auf das eigene Studium dieser Quellen
hingewiesen werden. Dies ist um so mehr zu betonen, als auch
gegenwärtig noch die ultramontane Literatur einen gewaltigen
Einfluß besitzt; das alte Kunststück, durch dreiste Umkehrung
der Thatsachen und Erfindung von Wundermärchen das
"gläubige Volk" zu bethören, wird auch heute noch von ihr
mit größtem Erfolge angewendet; wir erinnern nur an
Lourdes und an den "Heiligen Rock" von Trier (1844, erneuert
1890). Wie weit die Entstellung der Wahrheit selbst in
wissenschaftlichen Werken geht, davon liefert ein auffälliges
Beispiel der ultramontane Professor der Geschichte Johannes
Janssen in Frankfurt a. M.; seine vielgelesenden Werke (besonders
die "Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des
Mittelalters", in zahlreichen Auflagen erschienen) leisten das
Unglaublichste an dreister Geschichtsfälschung. Die
Verlogenheit dieser jesuitischen Fälschungen steht auf gleicher
Stufe mit der Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit des
einfältigen deutschen Volkes, das sie als baare Münze
annimmt.
Papismus und Wissenschaft. Unter den historischen
Thatsachen, welche am einleuchtendsten die Verwerflichkeit der
ultramontanen Geistestyrannei beweisen, unteresirt uns vor Allem ihre
energische und konsequente Bekämpfung der wahren
Wissenschaft als solcher. Diese war zwar schon von Anfang an
principiell im Christenthum dadurch bestimmt, daß dasselbe den
Glauben über die Vernunft stellte und die blinde Unterwerfung
der letzteren unter den ersteren forderte; nicht minder dadurch,
daß es das ganze Erdenleben nur als eine Vorbereitung für
das erdichtete "Jenseits" betrachtete, also auch der wissenschaftlichen
Forschung an sich jeden Werth absprach. Allein die
planmäßige und erfolgreiche Bekämpfung der letzteren
begann doch erst im Anfange des vierten Jahrhunderts, besonders seit
dem berüchtigten Konzil von Nicäa (325), welchem Kaiser
Konstantin präsidirte, - "der Große" ganannt,
weil er das Christenthum zur Staatsreligion erhob und Konstantinopel
gründete, dabei ein nichtswürdiger Charakter, ein falscher
Heuchler und vielfacher Mörder. Wie erfolgreich der Papismus in
seinem Kampfe gegen jedes selbstständige wissenschaftliche
Denken und Forschen war, beweist am besten der jammervolle Zustand
der Naturerkenntniß und ihrer Literatur im Mittelalter. Nicht nur
wurden die reichen Geistesschätze, welche das klassische
Alterthum hinterlassen hatte, zum größten Theil vernichtet
oder der Verbreitung entzogen, sondern Folterknechte und
Scheiterhaufen sorgten dafür, daß jeder "Ketzer", d. h. jeder
selbstständige Denker, seine vernünftigen Gedanken
für sich behielt. That er das nicht, so mußte er sich darauf
gefaßt machen, lebendig verbrannt zu werden, wie es dem
großen monistischen Philosophen Giordano Bruno, dem
Reformator Johann Huß und mehr als hunderttausend
anderen "Zeugen der Wahrheit" geschah. Die Geschichte der
Wissenschaften im Mittelalter belehrt uns auf jeder Seite, daß das
selbstständige Denken und die empirische wissenschaftliche
Forschung unter dem Drucke des allmächtigen Papismus durch
zwölf traurige Jahrhunderte wirklich völlig begraben
blieben.
Papismus und Christenthum. Alles das, was wir am wahren
Christenthum im Sinne seines Stifters und seiner edelsten Nachfolger
hochschätzen, und was wir aus dem unausbleiblichen Untergange
dieser "Weltreligion" in unsere neue monistische Religion hinüber
zu retten suchen müssen, liegt auf seiner ethischen und
socialen Seite. Die Principien der wahren Humanität, der
goldenen Regel, der Toleranz, der Menschliebe im besten und
höchsten Sinne des Wortes, all diese wahren Lichtseiten des
Christenthums sind zwar nicht von ihm zuerst erfunden und aufgestellt,
aber doch erfolgreich in jener kritischen Periode zur Geltung gebracht
worden, in der das klassiche Alterthum seiner Auflösung
entgegenging. Der Papismus aber hat es verstanden, alle jene Tugenden
in ihr direktes Gegentheil zu verkehren und dabei doch die
alte Firma als Aushängeschild zu bewahren. An die Stelle
der christlichen Liebe trat der fanatische Haß gegen alle
Andersgläubigen; mit Feuer und Schwert wurden nicht allein die
Heiden ausgerottet, sondern auch jene christlichen Sekten, welche in
besserer Erkenntniß Einwendungen gegen die aufgezwungenen
Lehrsätze des ultramontanen Aberglaubens zu erheben wagten.
Ueberall in Europa blühten die Ketzergerichte und forderten
unzählige Opfer, deren Folterqualen ihren frommen, von
"christlicher Bruderliebe" erfüllten Peinigern besonderen
Vergnügen bereiteten. Die Papstmacht wüthete auf ihrer
Höhe durch Jahrhunderte erbarmungslos gegen Alles, was ihrer
Herrschaft im Wege stand. Unter dem berüchtigten Groß-Inquisitor Torquemada (1481-1498) wurden allein in Spanien
achttausend Ketzer lebendig verbrannt, neunzigtausend mit Einziehung
des Vermögens und den empfindlichsten Kirchenbußen
bestraft, während in den Niederlanden unter der Herrschaft Karl's
des Fünften dem klerikalen Blutdurst mindestens
fünfzigtausend Menschen zum Opfer fielen. Und während
das Geheul gemarterter Menschen die Luft erfüllte, strömten
in Rom, dem die ganze christliche Welt tributpflichtig war, die
Reichthümer der halben Welt zusammen, und wälzten sich
die angeblichen Stellvertreter Gottes auf Erden und ihre Helfershelfer
(welche selbst nicht selten dem weitestgehenden Atheismus huldigten!)
in Lüsten und Lastern jeder Art. "Welche Vortheile," sagte der
frivole und syphilitische Papst Leo X. ironisch, "hat uns doch
diese Fabel von Jesus Christus gebracht!" Dabei war der Zustand
der europäischen Gesellschaft trotz Kirchenzucht und Gottesfurcht
von der allerschlimmsten Art. Feudalismus, Leibeigenschaft,
Gottesgnadenthum und Mönchthum beherrschten das Land, und
die armen Heloten waren froh, wenn sie ihre elenden Hütten im
Machtbereiche der Schlösser oder Klöster ihrer geistlichen
und weltlichen Unterdrücker und Ausbeuter errichten durften.
Heutzutage noch leiden wir unter den Nachwehen und Ueberbleibseln
dieser traurigen Zustände und Zeiten, in welchen von Pflege der
Wissenschaft und höherer Geistesbildung nur ausnahmsweise und
im Verborgenen die Rede sein konnte. "Unwissenheit, Armuth und
Aberglaube vereinigten sich mit der entsittlichenden Wirkung des im
elften Jahrhundert eingeführten Cölibats, um die
absolute Papstmacht immer stärker werden zu lassen"
(Büchner a a. O.). Man hat berechnet, daß
während dieser Glanzperiode des Papismus über zehn
Millionen Menschen dem fanatischen Glaubenshaß der
"christlichen Liebe" zum Opfer fielen; und wie viel mehr
Millionen betrugen die geheimen Menschenopfer, welche das
Cölibat, die Ohrenbeichte und der
Gewissenzwang erforderten, die gemeinschädlichen und
fluchwürdigsten Institutionen des päpstlichen Absolutismus!
Die "ungläubigen" Philosophen, welche Beweise gegen das
Dasein Gottes sammelten, haben einen der stärksten Beweise
dagegen übersehen, die Thatsache, daß die römischen
"Statthalter Christi" zwölf Jahrhunderte hindurch ungestraft
die greulichsten Verbrechen und Schandthaten "im Namen Gottes"
verüben durften.
III. Die Reformation. Die Geschichte der Kulturvölker,
welche wir "die Weltgeschichte" zu nennen belieben, läßt
deren dritten Hauptabschnitt, die "Neuzeit", mit der Reformation der
christlichen Kirche bginnen, ebenso wie den zweiten, das Mittelalter, mit
der Gründung des Christenthums, und sie thut recht daran. Denn
mit der Reformation beginnt die Wiedergeburt der gefesselten
Vernunft, das Wiedererwachen der Wissenschaft, welche die eiserne
Faust des christlichen Papismus durch 1200 Jahre gewaltsam
niedergehalten hatte. Allerdings hatte die Verbreitung allgemeiner
Bildung durch die Buchdruckerkunst schon um die Mitte des
fünfzehnten Jahrhunderts begonnen, und gegen Ende desselben
traten mehrere große Ereignisse ein, welche im Verein mit der
"Renaissance" der Kunst auch diejenige der Wissenschaft
vorbereiteten, vor Allen die Entdeckung von Amerika (1492). Auch
wurden in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts
mehrere höchst wichtige Fortschritte in der Erkenntniß der
Natur gemacht, welche die bestehende Weltanschauung in ihren
Grundfesten erschütterten; so die erste Umschiffung der Erde
durch Magellan, welche den empirischen Beweis für ihre
Kugelgestalt lieferte (1522); die Gründung des neuen Weltsystems
durch Kopernikus (1543). Aber der 31. Oktober 1517, an
welchem Martin Luther seine 95 Thesen an die hölzerne
Thür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, bleibt daneben
ein weltgeschichtlicher Tag; denn damit wurde die eiserne Thür
des Kerkers gesprengt, in dem der päpstliche Absolutismus durch
1200 Jahre die gefesselte Vernunft eingeschlossen gehalten hatte. Man
hat die Verdienste des großen Reformators, der auf der Wartburg
die Bibel übersetzte, theils übertrieben, theils
unterschätzt; man hat auch mit Recht darauf hingewiesen, wie er
gleich den anderen Reformatoren noch vielfach im tiefsten Aberglauben
befangen blieb. So konnte sich Luther zeitlebens nicht von dem
starren Buchstabenglauben der Bibel befreien; er vertheidigte eifrig die
Lehre von der Auferstehung, der Erbsünde und
Prädestination, der Rechtferigung durch den Glauben u. s. w. Die
gewaltige Geistesthat des Kopernikus verwarf er als Narrheit,
weil der in der Bibel "Josua die Sonne stillstehen hieß und nicht das
Erdreich". Für die großen politischen Umwälzungen
seiner Zeit, besonders die großartige und vollberechtigte
Bauernbewegung, hatte er kein Verständniß. Schlimmer noch
war der fanatische Reformator Calvin in Genf, welcher (1553) den
geistreichen spanischen Arzt Servete lebendig verbrennen
ließ, weil er den unsinnigen Glauben an die Dreieinigkeit
bekämpfte. Ueberhaupt traten die fanatischen
"Rechtgläubigen" der reformirten Kirche leider nur zu oft in die
blutbefleckten Fußstapfen ihrer papistischen Todfeinde, wie sie es
auch heute noch thun. Leider folgten auch ungeheure Greuelthaten der
Reformation auf dem Fuße: Die Bartholomäus-Nacht und die
Hugenotten-Verfolgung in Frankreich, blutige Ketzer-Jagden in Italien,
lange Bürgerkriege in England, der Dreißigjährige Krieg
in Deutschland. Aber trotz alledem bleibt dem sechzehnten und
siebzehnten Jahrhundert der Ruhm, dem denkenden Menschengeiste
zuerst wieder freie Bahn geschaffen und die Vernunft von dem
erstickenden Druck der papistischen Herrschaft befreit zu haben. Erst
dadurch wurde die mächtige Entfaltung verschiedener Richtungen
der kritischen Philosophie und neuer Bahnen der Naturforschung
möglich, welche dann dem folgenden achtzehnten Jahrhundert den
Ehrentitel des "Jahrhunderts der Aufklärung" erwarb.
IV. Das Scheinchristenthum des neunzehnten Jahrhunderts.
Als vierten und letzten Hauptabschnitt in der Geschichte des
Christenthums stellen wir das 19. Jahrhundert seinen Vorgängern
gegenüber. Wenn in diesen letzteren bereits die
"Aufklärung" nach allen Richtungen hin die kritische
Philosophie gefördert, und wenn das Aufblühen der
Naturwissenschaften derselben die stärksten empirischen Waffen
in die Hände gegeben hatte, so erscheint uns doch der Fortschritt
nach beiden Richtungen hin in unserem 19. Jahrundert ganz gewaltig; es
beginnt damit wiederum eine ganz neue Periode in der Geschichte des
Menschengeistes, chrakterisirt durch die Entwickelung der
monistischen Naturphilosophie. Schon im Beginne desselben
wurde der Grund zu einer neuen Anthropologie gelegt (durch die
vergleichende Anatomie von Cuvier) und zu einer neuen Biologie
(durch die Philosophie zoologique von Lamarck). Bald
folgten diesen beiden großen Franzosen zwei ebenbürtige
Deutsche, Baer als Begründer der Entwickelungsgeschichte
(1828) und Johannes Müller (1834) als der der
vergleichenden Morphologie und Physiologie. Ein Schüler des
Letzteren, Theordor Schwann, schuf 1838, im Verein mit M.
Schleiden, die grundlegende Zellentheorie. Schon vorher hatte
Lyell (1830) die Entwickelungsgeschichte der Erde auf
natürliche Ursachen zurückgeführt und damit auch
für unseren Planeten die Geltung der mechanischen Kosmogenie
bestätigt, welche Kant bereits 1755 mit kühner Hand
entworfen hatte. Endlich wurde durch Robert Mayer und
Helmholtz (1842) das Energie-Princip festgestellt und damit die
zweite, ergänzende Hälfte des großen Substanz-Gesetzes gegeben, dessen erste Hälfte, die Konstanz der Materie,
schon Lavoisier endeckt hatte. Allen diesen tiefen Einblicken in
das innere Wesen der Natur setzte dann vor vierzig Jahren Charles
Darwin die Krone auf durch seine neue Entwickelungslehre, das
größte naturphilosophische Ereigniß des 19.
Jahrhunderts (1859).
Wie verhält sich nun zu diesen gewaltigen, alles Frühere
weit überbietenden Fortschritten der Naturerkenntniß das
moderne Christenthum? Zunächst wurde
natugemäß die tiefe Kluft zwischen den beiden
Hauptrichtungen desselben immer größer, zwischen dem
konservativen Papismus und dem progressiven Protestantismus.
Der ultramontane Klerus (- und im Verein mit ihm die orthodoxe
"Evangelische Allianz" -) mußten naturgemäß jenen
mächtigen Eroberungen des freien Geistes den heftigsten
Widerstand entgegensetzen; sie verharrten unbeirrt auf ihrem strengen
Buchstaben-Glauben und verlangten die unbedingte Unterwerfung der
Vernunft unter das Dogma. Der liberale Protestantismus hingegen
verflüchtigte sich immer mehr zu einem monistischen
Pantheismus und strebte nach Versöhnung der beiden
entgegengesetzten Principien; er suchte die unvermeidliche
Anerkennung der emprisich bewiesenen Naturgesetze und der daraus
gefolgerten philosophischen Schlüsse mit einer geläuterten
Religionsform zu verbinden, in der freilich von der eigentlichen
Glaubenslehre fast nichts mehr übrig blieb. Zwischen beiden
Extremen bewegten sich zahlreiche Kompromiß-Versuche;
darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreise die
Ueberzeugung, daß das dogmatische Christenthum überhaupt
jeden Boden verloren habe, und daß man nur seinen werthvollen
ethischen Inhalt in die neue, monistische Religion des 20. Jahrhunderts
hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig die gegebene
äußeren Formen der herrschenden christlichen
Religion fortbestanden, da sie sogar trotz der fortgeschrittenen
politischen Entwickelung mit den praktischen Bedürfnissen des
Staats immer enger verknüpft wurden, entwickelte sich jene
weitverbreitete religiöse Weltanschauung der gebildeten Kreise,
die wir nur als Scheinchristenthum bezeichnen können - im
Grunde eine "religiöse Lüge" bedenklichster Art. Die
großen Gefahren, welche dieser tiefe Konflikt zwischen der wahren
Ueberzeugung und dem falschen Bekenntniß der modernen
Scheinchristen mit sich bringt, hat u. A. trefflich Max Nordau
geschildert in seinem interessanten Werke: "Die Konventionellen
Lüger der Kulturmenschheit" (1883; XII. Auflage 1886).
Inmitten dieser offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herrschenden
Scheinchristenthums ist es für den Fortschritt der
vernunftgemäßen Naturerkenntniß sehr werthvoll,
daß dessen mächtigster und entschiedenster Gegner, der
Papismus, um die Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Maske
angeblicher höherer Geistesbildung fortgeworfen und der
selbstständigen Wissenschaft als solcher den
entscheidenden "Kampf auf Tod oder Leben" angekündigt hat. Es
geschah dies in drei bedeutungsvollen Kriegserklärungen gegen
die Vernunft, für deren Unzweideutigkeit und Entschiedenheit die
moderne Wissenschaft und Kultur dem römischen "Statthalter
Christi" nur dankbar sein kann: I. Im Dezember 1854 verkündete
der Papst das Dogma von der unbefleckten Empfängniß
Mariä. II. Zehn Jahre später, im Dezember 1864, sprach
der "heilige Vater" in der berüchtigten Encyklika das
absolute Verdammungs-Urtheil über die ganze moderne
Civilisation und Geistesbildung aus; in dem begleitenden
Syllabus gab er eine Aufzählung und Verfluchung aller
einzelnen Vernunftsätze und philosophischen Principien, welche
von unserer modernen Wissenschaft als sonnenklare Wahrheit
anerkannt sind. III. Endlich setzte sechs Jahre später, am 13. Juli
1870, der streitbare Kirchenfürst im Vatikan seinem Aberwitz die
Krone auf, indem er für sich und alle seine Vorgänger in der
Papstwürde die Unfehlbarkeit in Anspruch nahm. Dieser
Triumpf der römischen Kurie wurde der erstaunten Welt
fünf Tage später verkündet, am 18. Juli 1870, an
demselben denkwürdigen Tage, an welchem Frankreich den Krieg
an Preußen erklärte! Zwei Monate später wurde die
weltliche Herrschaft des Papstes infolge dieses Krieges aufgehoben.
Unfehlbarkeit des Papstes. Diese drei wichtigsten Akte des
Papismus im 19. Jahrhundert waren so offenkundige Faustschläge
in das Antlitz der Vernunft, daß sie selbst innerhalb der
orthodoxen katholischen Kreise von Anfang an das höchste
Bedenken erregten. Als man im vatikanischen Konzil am 13. Juli 1870
zur Abstimmung über das Dogma von der Unfehlbarkeit
schritt, erklärten sich nur drei Viertel der Kirchenfürsten zu
Gunsten desselben, nämlich 451 von 601 Abstimmenden; dazu
fehlten noch zahlreiche andere Bischöfe, welche sich der
gefährlichen Abstimmung enthalten wollten. Indessen zeigte sich
bald, daß der kluge und menschenkundige Papst richtiger
gerechnet hatte als die zaghaften "besonnenen Katholiken"; denn in den
leichtgläubigen und ungebildeten Massen fand auch dieses
ungeheuerliche Dogma trotz aller Bedenken blinde Annahme.
Die ganze Geschichte des Papstthums, wie sie durch Tausende von
zuverlässigen Quellen und von handgreiflichen historischen
Dokumenten unwiderleglich festgenagelt ist, erscheint für den
unbefangenen Kenner als ein gewissenloses Gewebe von Lug und Trug,
als ein rücksichtsloses Streben nach absoluter Macht, als eine
frivole Verleugnung aller der hohen sittlichen Gebote, welche das wahre
Christenthum predigt: Menschenliebe und Duldung, Wahrheit und
Keuschheit, Armuth und Entsagung. Wenn man die lange Reihe der
Päpste und der römischen Kirchenfürsten, aus denen
sie gewählt wurden, nach dem Maßstabe der reinen
christlichen Moral mustert, ergiebt sich klar, daß die große
Mehrzahl derselben schamlose Gaukler und Betrüger waren, viele
von ihnen nichtswürdige Verbrecher. Diese allbekannten
historischen Thatsachen hindern aber nicht, daß noch heute
Millionen von "gebildeten" Katholiken an die "Unfehlbarkeit" dieses
"heiligen Vaters" glauben, die er sich selbst zugesprochen hat; sie
hindern nicht, daß heute noch protestantische Fürsten nach
Rom fahren und den "heiligen Vater" (ihrem gefährlichsten
Feinde!) ihre Verehrung bezeugen; sie hindern nicht, daß noch
heute im Deutschen Reichstage die Knechte und Helfershelfer dieses
"heiligen Gauklers" die Geschicke des Deutschen Volkes bestimmen -
dank seiner unglaublichen politischen Unfähigkeit und seiner
kritiklosen Gläubigkeit!
Encyklika und Syllabus. Unter den angeführten drei
großen Gewaltthaten, durch welche der moderne Papismus in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine absolute Herrschaft zu
retten und zu befestigen suchte, ist für uns am interessantesten
die Verkündigung der Encyklika und des Syllabus
im Dezember 1864; denn in diesen denkwürdigen
Aktenstücken wird der Vernunft und Wissenschaft
überhaupt jede selbstständige Thätigkeit
abgesprochen und ihre absolute Unterwerfung unter den
"alleinseligmachenden Glauben", d. h. unter die Dekrete des
"unfehlbaren Papstes", gefordert. Die ungeheure Erregung, welche diese
maßlose Frechheit in allen gebildeten und unabhängig
denkenden Kreisen hervorrief, entsprach dem ungeheuerlichen Inhalte
der Encyklika; eine vortreffliche Erörterung ihrer kulturellen und
politischen Bedeutung hat u. A. Draper in seiner Geschichte der
Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft gegeben (1875).
Unbefleckte Empfängniß der Jungfrau Maria.
Weniger einschneidend und bedeutungsvoll als die Encyklika und als
das Dogma der Infallibilität des Papstes erscheint vielleicht das
Dogma von der unbefleckten Empfängniß. Indessen legt nicht
nur die römische Hierarchie auf diesen Glaubenssatz ds
höchste Gewicht, sondern auch ein Theil der orthodoxen
Protestanten (z. B. die Evangelische Allianz). Der sogenannte
"Immakulat-Eid", d. h. die eidliche Versicherung des
Glaubens an die unbefleckte Empfängniß Mariä, gilt
noch heute Millionen von Christen als heilige Pflicht. Viele
Gläubige verbinden damit einen doppelten Begriff; sie behaupten,
daß die Mutter der Jungfrau Maria ebenso durch den "Heiligen
Geist" befruchtet worden sei, wie diese selbst. Demnach würde
dieser seltsame Gott sowohl zur Mutter als zur Tochter in den intimsten
Beziehungen gestanden haben; er müßte mithin sein eigener
Schwiegervater sein (Saladin). Die vergleichende und kritische Theologie
hat neuerdings nachgewiesen, daß auch dieser Mythus, gleich den
meisten anderen Legenden der christlichen Mythologie keienswegs
originell, sondern aus älteren Religionen, besonders dem
Buddhismus, übernommen ist. Aehnliche Sagen hatten
schon mehrere Jahrhunderte vor Christi Geburt eine weite Verbreitung
in Indien, Persien, Klein-Asien und Griechenland. Wenn
Königstöchter oder andere Jungfrauen aus höheren
Ständen, ohne legitim verheirathet zu sein, durch die Geburt eines
Kindes erfreut wurden, so wurde als der Vater dieses illegitimen
Sprößlings meistens ein "Gott" oder "Halbgott" ausgegeben, in
diesem Falle der mysteriöse "Heilige Geist".
Die besonderen Gaben des Geistes und Körpers, durch welche
solche "Kinder der Liebe" oft vor gewöhnlichen Menschenkindern
sich auszeichneten, wurden damit zugleich theilweise durch
Vererbung erklärt. Solche hervorragende
"Göttersöhne" standen sowohl im Alterthum als im
Mittelalter in hohem Ansehen, während der Moral-Kodex der
modernen Civilisation ihnen den Mangel der "legitimen" Eltern als Makel
anrechnet. In noch höherem Maße gilt dies von den
"Göttertöchtern", obwohl diese armen Mädchen an
dem fehlenden Titel ihres Vaters ebenso unschuldig sind. Uebrigens
weiß Jeder, der sich an der schönheitsvollen Mythologie des
klassischen Alterthums erfreut hat, wie gerade die angeblichen
Söhne und Töchter der griechischen und römischen
"Götter" sich oft den höchsten Idealen des reinen Menschen-Typus am meisten genähert haben; man denke nur an die
große legitime und die noch viel größere illegitime
Familie des Göttervaters Zeus u. s. w. (Vgl. auch
Shakespeare.)
Was nun speciell die Befruchtung der Jungfrau Maria durch den heiligen
Geist betrifft, so werden wir duch das Zeugniß der Evangelien
selbst darüber aufgeklärt. Die beiden Evangelisten, welche
allein daüber Bericht erstatten, Matthäus und
Lukas, erzählen übereinstimmend, daß die
jüdische Jungfrau Maria mit dem Zimmermann Joseph verlobt
war, aber ohne dessen Mitwirkung schwanger wurde, und zwar durch
den "Heiligen Geist". Matthäus sagt ausdrücklich (Kap.
1, Vers 19): "Joseph aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in
Schande bringen, gedachte aber sie heimlich zu verlassen"; er wurde
erst beschwichtigt, als ihm der "Engel des Herrn" mittheilte: "Was in ihr
geboren ist, das ist von dem heiligen Geist." Ausführlicher
erzählt Lukas (Kap. 1, Vers 26-38) die "Verkündigung
Mariä" durch den Erzengel Gabriel mit den Worten: "Der heilige
Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten
wird dich überschatten" - worauf Maria antwortet; "Siehe, ich bin
des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast." Bekanntlich ist
dieser Besuch des Engels Gabriel und seine Verkündigung von
vielen berühmten Malers zum Vorwurf interessanter
Gemälde gewählt worden. Svoboda sagt
darüber: "Der Erzengel spricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche
die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt sich auch
in diesem Falle die Veredelung eines prosaischen Bibelstoffes durch die
bildende Kunst. Allerdings gab es auch Maler, welche für die
embryologischen Betrachtungen des Erzengels Gabriel in ihren
Darstellungen volles Verständniß bekundeten."
Wie schon früher angeführt wurde, sind die vier
kanonischen Evangelien, welche der von christlichen Kirche allein als die
echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hochgehalten
werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel
größeren Zahl von Evangelien, deren thatsächliche
Angaben sich oft unter sich nicht weniger widersprechen als die Sagen
der ersteren. Die Kirchenväter selbst zählen nicht weniger
als 40-50 solcher unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige
davon sind sowohl in griechischer als in lateinischer Sprache vorhanden,
so z. B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u. A.
Die Angaben, welche diese apokryphen Evangelien über das Leben
Jesu machen, bsonders über seine Geburt und Kindheit,
können ebenso gut (oder größtentheils ebenso wenig!)
Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit erheben als die vier
kanonischen, die sogenannten "echten" Evangelien. Nun findet sich aber
in einer jener apokryphen Schriften eine historische Angabe, die
wahrscheinlich das "Welträthsel" von der
übernatürlichen Empfängniß und Geburt Christi
ganz einfach und natürlich löst. Jener Geschichtsschreiber
erzählt mit trockenen Worten in einem Satze die
merkwürdige Novelle, welche diese Lösung enthält:
"Josephus Pandera, der römische Hauptmann einer
kalabresischen Legion, welche in Judäa stand, verführte
Mirjam von Bethlehem, ein hebräisches Mädchen und
wurde der Vater von Jesus." (Vergl. Celsus, 178 n. Chr.)
Natürlich werden diese historischen Angaben von den officiellen
Theologen sorgfältig verschwiegen, da sie schlecht zu dem
traditionellen Mythus passen und den Schleier von dessen
Geheimniß in sehr einfacher und natürlicher Weise
lüften. Um so mehr ist es gutes Recht der objektiven
Wahrheitsforschung und heilige Pflicht der reinen Vernunft,
diese wichtigen Angaben kritisch zu prüfen. Da ergiebt sich denn,
daß dieselben sicher weit mehr Anrecht auf Glaubwürdigkeit
haben, als alle anderen Behauptungen über den Ursprung Christi.
Da wir seine Parthenogenesis, die übernatürliche Erzeugung
durch "Ueberschattung des Höchsten", aus den bekannten
wissenschaftlichen Principien überhaupt als reinen Mythus
ablehnen müssen, bleibt nur noch die weitverbreitete Behauptung
der modernen "rationellen Theologie" übrig, daß der
jüdische Zimmermann Joseph der wahre Vater von Christus
gewesen sei. Diese Annahme wird aber durch verschiedene Sätze
des Evangeliums ausdrücklich wiederlegt; Christus selbst war
überzeugt, "Gottes Sohn" zu sein, und hat niemals seinen
Stiefvater Joseph als seinen Erzeuger anerkannt. Joseph aber wollte
seine Braut Maria verlassen, als er entdeckte, daß sie ohne sein
Zuthun schwanger geworden war. Er gab diese Absicht erst auf,
nachdem ihm im Traum ein "Engel des Herrn" erschienen war
und ihn beschwichtigt hatte. Wie im ersten Kapitel des Evangeliums
Matthäi (Vers 24, 25) ausdrücklich hervorgehoben wird,
fand die sexuelle Verbindung von Joseph und Maria zum ersten Male
statt, nachdem Jesus geboren war.
Die Angabe der alten apokryphen Schriften, daß der
römische Hauptmann Pandera oder Pantheras der
wahre Vater von Christus gewesen, erscheint um so glaubhafter, wenn
man von streng anthropologischen Gesichtspunkten aus die
Person Christi kritisch prüft. Gewöhnlich wird
derselbe als reiner Jude betrachtet. Allein gerade die Charakter-Züge, die seine hohe und edle Persönlichkeit besonders
auszeichnen und welche seiner "Religion der Liebe" den Stempel
aufdrücken, sind entschieden nicht semitisch; vielmehr
erscheinen sie als Grundzüge der höheren arischen
Rasse und vor allem ihres edelsten Zweiges, der Hellenen.
Nun deutet aber der Name von Christus' wahrem Vater:
"Pandera", unzweifelhaft auf hellenischen Ursprung; in einer
Handschrift wird er sogar "Pandora" geschrieben. Pandora
war aber bekanntlich nach der griechischen Sage die erste, von Vulkan
aus Erde gebildete und von den Göttern mit allen Liebreizen
ausgestattete Frau, welche Epimetheus heirathete, und welche der
Götter-Vater mit der schrecklichen, alle Uebel enthaltenden
"Pandora-Büchse" zu den Menschen schickte, zur Strafe
dafür, daß der Lichtbringer Prometheus das
göttliche Feuer (der "Vernunft"!) vom Himmel entwendet hatte.
Interessant ist übrigens die verschiedene Auffassung und
Beurtheilung, welche der Liebesroman der Mirjam von Seiten der vier
großen christlichen Kultur-Nationen Europa's erfahren hat. Nach
den strengeren Moral-Begriffen der germanischen Rassen wird
derselbe schlechtweg verworfen; lieber glaubt der ehrliche Deutsche
und der prüde Brite blind an die unmögliche Sage von der
Erzeugung durch den "heiligen Geist". Wie bekannt, entspricht diese
strenge, sorgfältig zur Schau getragene Prüderie der
feineren Gesellschaft (besonders in England!) keineswegs dem wahren
Zustande der sexuellen Sittlichkeit in dem dortigen "High life". Die
Enthüllungen z. B., welche darüber vor einem Dutzend
Jahren die "Pall Mall Gazette" brachte, erinnerten sehr an die
Zustände von Babylon und an das Rom der Kaiserzeit.
Die romanischen Rassen, welche diese Prüderie verlachen
und die sexuellen Verhältnisse leichtfertiger beurtheilen, finden
jenen "Roman der Maria" recht anziehend, und der besondere
Kultus, dessen gerade in Frankreich und Italien "Unsere liebe Frau" sich
erfreut, ist oft in merkwürdiger Naivetät mit jener
Liebesgeschichte verknüft. So finden z. B. Paul de Regla
(Dr. Desjardin), welcher (1894) "Jesus von Nazareth vom
wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte
aus dargestellt" hat, gerade in der unehelichen Geburt Christi ein
besonderes "Anrecht auf den Heiligenschein, der seine herrliche
Gestalt umstrahlt"!
Es erschien mir nothwendig, diese wichtigen Fragen der Christus-Forschung hier offen im Sinne der objektiven Geschichts-Wissenschaft zu beleuchten, weil die streitende Kirche selbst darauf
das größte Gewicht legt, und weil sie den darauf
gegründeten Wunderglauben als stärkste Waffe gegen die
moderne Weltanschauung verwendet. Der hohe ethische Werth des
ursprünglichen reinen Christenthums, der veredelnde Einfluß
diese "Religion der Liebe" auf die Kulturgeschichte, ist ganz
unabhängig von jenen mythologischen Dogmen. Die angeblichen
"Offenbarungen", auf welche sich diese Mythen stützen, sind
dagegen unvereinbar mit den sichersten Ergebnissen unserer modernen
Naturerkenntniß.
Achtzehntes Kapitel
Unsere monistische Religion.
Monistische Studien über die Religion der Vernunft und ihre
Harmonie mit der Wissenschaft. Die drei Kultus-Ideale des Wahren,
Guten und Schönen.
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Inhalt: Der Monismus als Band zwischen Religion und
Wissenschaft. Der Kulturkampf. Verhältnisse von Staat und Kirche.
Principien der monistischen Religion. Ihre drei Kultus-Ideale: das
Wahre, Gute und Schöne. Gegensatz der natürlichen und
christlichen Wahrheit. Harmonie der monistischen und christlichen
Tugend-Begriffe. Gegensatz der monistischen und christlichen Kunst.
Moderne Erweiterung und Bereicherung des Weltbildes. Landschafts-Malerei und moderner Naturgenuß. Schönheiten der Natur.
Diesseits und Jenseits. Monistische Kirchen.
Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philosophen der
Gegenwart, welche unsere monistischen Ueberzeugungen theilen, halten
die Religion überhaupt für eine abgethane Sache. Sie
meinen, daß die klare Einsicht in die Weltentwickelung, die wir den
gewaltigen Erkenntnißfortschritten des 19. Jahrhunderts
verdanken, nicht bloß das Kausalitäts-Bedürfniß
unserer Vernunft vollkommen befriedige, sondern auch die
höchsten Gefühls-Bedürfnisse unseres
Gemüthes. Diese Ansicht ist in gewissem Sinne richtig,
insofern bei einer vollkommen klaren und folgerichtigen Auffassung des
Monismus thatsächlich die beiden Begriffe von Religion und
Wissenschaft zu Einem mit einander verschmelzen. Indessen nur wenige
entschlossene Denker ringen sich zu dieser höchsten und reinsten
Auffassung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr
verharren die meisten Gebildeten unserer Zeit (ganz abgesehen von den
ungebildeten Volksmassen) bei der Ueberzeugung, daß die Religion
ein selbstständiges, von der Wissenschaft unabhängiges
Gebiet unseres Geisteslebens darstelle, nicht minder werthvoll und
unentbehrlich als die letztere.
Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, können wir eine
Versöhnung zwischen jenen beiden großen, anscheinend
getrennten Gebieten in der Auffassung finden, welche ich 1892 in
meinem Altenburger Vortrage niedergelegt habe: "Der Monismus als
Band zwischen Religion und Wissenschaft". In dem Vorwort zu diesem
"Glaubensbekenntniß eines Naturforschers" habe ich mich
über dessen doppelten Zweck mit folgenden Worten
geäußert: "Erstens möchte ich damit derjenigen
vernünftigen Weltanschauung Ausdruck geben, welche uns
durch die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntniß
mit logischer Nothwendigkeit aufgedrungen wird; sie wohnt im
Innersten von fast allen unbefangenen und denkenden Naturforschern,
wenn auch nur wenige den Muth oder das Bedürfniß haben,
sie offen zu bekennen. Zweitens möchte ich dadurch ein Band
zwischen Religion und Wissenschaft knüpfen und somit zur
Ausgleichung des Gegensatzes beitragen, welcher zwischen diesen
beiden Gebieten der höchsten menschlichen
Geistesthätigkeit unnöthiger Weise aufrecht erhalten wird;
das ethische Bedürfniß unseres Gemüthes wird
durch den Monismus ebenso befriedigt, wie das logische
Kausalitäts-Bedürfniß unseres Verstandes."
Die starke Wirkung, welche dieser Altenburger Vortrag hatte, beweist,
daß ich mit diesem monistischen Glaubensbekenntniß nicht
nur dasjenige vieler Naturforscher, sondern auch zahlreicher gebildeter
Männer und Frauen aus verschiedenen Berufskreisen
ausgesprochen hatte. Nicht nur wurde ich durch Hunderte von
zustimmenden Briefen belohnt, sondern auch durch die weite
Verbreitung des Vortrags, von welchem innerhalb sechs Monaten sechs
Auflagen erschienen. Ich darf diesen unerwarteten Erfolg um so
höher anschlagen, als jenes Glaubensbekenntniß
ursprünglich eine freie Gelegensheitsrede war, die unvorbereitet
am 9. Oktober 1892 in Altenburg während des Jubiläums
der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes entstand.
Natürlich erfolgte auch bald die nothwendige Gegenwirkung nach
der anderen Seite; ich wurde nicht nur von der ultramontanen Presse
des Papismus auf das Heftigste angegriffen, von den
geschworenen Vertheidigern des Aberglaubens, sondern auch von
"liberalen" Kriegsmännern des evangelischen Christenthums,
welche sowohl die wissenschafliche Wahrheit als auch den
aufgeklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat sich aber
in den sieben seitdem verflossenen Jahren der große Kampf
zwischen der modernen Naturwissenschaft und dem orthodoxen
Christenthum immer drohender gestaltet; er ist für die erstere um
so gefährlicher geworden, je mächtigere Unterstützung
da letztere durch die wachsende geistige und politische Reaktion
gefunden hat. Ist doch die letztere in manchen Ländern schon so
weit vorgeschritten, daß die gesetzlich garantirte Denk- und
Gewissensfreiheit praktisch schwer gefährdet wird (so z. b. jetzt in
Bayern). In der That hat der große weltgeschichtliche
Geisteskampf, welchen John Draper in seiner "Geschichte der
Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft" so vortrefflich schildert,
heute eine Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man
bezeichnet ihn deshalb seit 30 Jahren mit Recht als
"Kulturkampf".
Der Kulturkampf. Die berühmte Encyklika nebst
Syllabus, welche der streitbare Papst Pius IX. 1864 in alle Welt
gesandt hatte, erklärte in der Hauptsache der ganzen modernen
Wissenschaft den Krieg; sie fordert blinde Unterwerfung der Vernunft
unter die Dogmen des "unfehlbaren Statthalters Christi". Das
Ungeheuerliche und Unerhörte dies brutalen Attentates gegen die
höchsten Güter der Kultur-Menschheit rüttelte selbst
viele träge und indolente Gemüther aus ihrem gewohnten
Glaubens-Schlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden
Verkündigung der päpstlichen Infallibilität
(1870) rief die Encyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine
energische Abwehr, welche zu den besten Hoffnungen berechtigte. In
dem neuen Deutschen Reiche, welches in den Kämpfen von 1866
und 1871 unter schweren Opfern seine unentbehrliche nationale Einheit
errungen hatte, wurden die frechen Attentate des Papismus besonders
schwer empfunden; denn einerseits ist Deutschland die
Geburtsstätte der Reformation und der modernen
Geistesbefreiung; andererseits aber besitzt es leider in seinen 18
Millionen Katholiken ein mächtiges Heer von streitbaren
Gläubigen, welches an blindem Gehorsam gegen die Befehle seines
Oberhirten von keinem anderen Kultur-Volke übertroffen wird.
Christus sagt zu Petrus: "Weide meine Schafe!" Die
Nachfolger auf dem Stuhle Petri haben das "Weiden" ins
"Scheeren" übersetzt. Die hieraus entspringenden Gefahren
erkannte mit klarem Blick der gewaltige Staatsmann, der das "politische
Welträthsel" der deutschen National-Zerrissenheit gelöst und
und durch bewunderungswürdige Staatskunst zu dem ersehnten
Ziele nationaler Einheit und Macht geführt hatte. Fürst
Bismarck begann 1872 jenen denkwürdigen, vom Vatikan
aufgedrungenen Kulturkampf, der von dem ausgezeichneten
Kultusminister Falk durch die "Maigesetzgebung" (1873) ebenso
klug als energisch geführt wurde. Leider mußte derselbe
schon sechs Jahre später aufgegeben werden. Obwohl unser
größter Staatsmann ein ausgezeichneter Menschenkenner
und kluger Realpolitiker war, hatte er doch die Macht von drei
gewaltigen Hindernissen unterschätzt; erstens die
unübertroffene Schlauheit und gewissenlose Perfidie der
römischen Kurie, zweitens die entsprechende Gedankenlosigkeit
und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katholischen Massen, auf
welche sich die erstere stützte, und drittens die Macht der
Trägheit, des Fortbestehens des Unvernünftigen, bloß
weil es da ist. So mußte denn schon 1878, nachdem dem
klügere Papst Leo XIII. seine Regierung angetreten hatte, der
schwere "Gang nach Canossa" wiederholt werden. Die neu
gestärkte Macht des Vatikans nahm seitdem wieder mächtig
zu, einerseits durch die gewissenlosen Ränke und Schlangen-Windungen seiner aalglatten Jesuiten-Politik, andererseits durch die
falsche Kirchenpolitik der deutschen Reichsregierung und die
merkwürdige politische Unfähigkeit des deutschen Volkes.
So müssen wir denn am Schlusse des 19. Jahrhunderts das
beschämende Schauspiel erleben, daß das sognannte
"Centrum im Deutschen Reichstage Trumpf" ist, und daß die
Geschicke unseres gedemüthigten Vaterlandes von einer
papistischen Partei geleitet werden, deren Kopfzahl noch nicht den
dritten Theil der ganzen Bevölkerung beträgt.
Als der deutsche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem
Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politische
Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energischer
Versuch die moderne Kultur von dem Joche der papistischen Geistes-Tyrannei zu befreien; die gesammte liberale Presse feierte Fürst
Bismarck als "politischen Luther", als den gewaltigen Helden, der nicht
nur die nationale Einigung, sondern auch die geistige Befreiung
Deutschlands erringe. Zehn Jahre später, nachdem der Papismus
gesiegt hatte, behauptete dieselbe "liberale Presse" das Gegentheil und
erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und
dasselbe thut sie noch heute. Diese Thatsache beweist nur, wie kurz das
Gedächtniß unserer Zeitungsschreiber, wie mangelhaft ihre
Kenntniß der Geschichte und wie unvollkommen ihre
philosophische Bildung ist. Der sogenannte "Friedensschluß
zwischen Staat und Kirche" ist immer nur ein Waffenstillstand. Der
moderne Papismus, getreu den absolutistischen, seit 1600 Jahren
befolgten Principien, will und muß die Alleinherrschaft
über die leichtgläubigen Seelen behaupten; er muß die
absolute Unterwerfung des Kulturstaates fordern, der als solcher die
Rechte der Vernunft und Wissenschaft vertritt. Wirklicher Friede kann
erst eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer
bewältigt am Boden liegt. Entweder siegt die "alleinseligmachende
Kirche", und dann hört "freie Wissenschaft und freie Lehre"
überhaupt auf; dann werden sich unsere Universitäten in
Konvikte, unsere Gymnasien in Klosterschulen verwandeln. Oder es siegt
der moderne Vernunft-Staat, und dann wird sich im 20. Jahrhundert die
menschliche Bildung, Freiheit und Wohlstand in noch weit
höherem Maaße fortschreitend entwickeln, als es im 19.
erfreulicher Weise der Fall gewesen ist. (Vergl. hierüber Eduard
Hartmann, Die Selbstzersetzung des Christenthums, 1874).
Gerade zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst
wichtig, daß die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die
Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren
wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern daß sie
auch auf dem frei gewordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebilde
für das menschliche Gemüth herrichtet; eine Palast der
Vernunft, in welchem wir mittelst unserer neu gewonnenen
monistischen Weltanschauung die wahre "Dreieinigkeit" des 19.
Jahrhunderts andächtig verehren, die Trinität des
Wahren, Guten und Schönen. Um den Kultus dieser
göttlichen Ideale greifbar zu gestalten, erscheint es vor Allem
nothwendig, uns mit den herrschenden Religionsformen des
Christenthums aus einander zu setzen und die Veränderungen in's
Auge zu fassen, welche bei der Ersetzung der letzteren durch die erstere
zu erstreben sind. Denn die christliche Religion besitzt (in ihrer
ursprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer
und Mängel eine so hohen sittlichen Werth, sie ist vor Allem seit
anderthalb Jahrtausenden so eng mit den wichtigsten socialen und
politischen Einrichtungen unseres Kulturlebens verwachsen, daß
wir uns bei Begründung unserer monistischen Institutionen
anlehnen müssen. Wi wollen keine gewaltsame Revolution,
sondern eine vernünftige Reformation unseres
religiösen Geisteslebens. In ähnlicher Weise nun, wie vor
2000 Jahren die klassische Poesie der alten Hellenen ihre Tugend-Ideale
in Götter-Gestalten verkörperte, können wir auch
unseren drei Vernunft-Idealen die Gestalt hehrer Göttinnen
verleihen; wir wollen untersuchen, wie die drei Göttinnen der
Wahrheit, der Schönheit und der Tugend nach
unserem Monismus sich gestalten, und wir wollen ferner ihr
Verhältniß zu den entsprechenden Göttern des
Christenthums untersuchen, die sie ersetzen sollen.
I. Das Ideal der Wahrheit. Wir haben uns durch die
vorhergehenden Betrachtungen (besonders im ersten und dritten
Abschnitt) überzeugt, daß die reine Wahrheit nur in dem
Tempel der Natur-Erkenntniß zu finden ist, und daß
die einzigen brauchbaren Wege zu demselben die kritische
"Beobachtung und Reflexion" sind, die empirische Erforschung der
Thatsachen und die vernunftgemäße Erkenntniß ihrer
bewirkenden Ursachen. So gelangen wir mittelst der reinen
Vernunft zur wahren Wissenschaft, dem kostbarsten Schatze der
Kultur-Menschheit. Dagegen müssen wir aus den gewichtigen, im
16. Kapitel erörterten Ursachen jede sogenannte
"Offenbarung" ablehnen, jede Glaubens-Dichtung, welche
behauptet, auf übernatürlichem Wege Wahrheiten zu
erkennen, zu deren Entdeckung unsere Vernunft nicht ausreicht. Da nun
das ganze Glaubens-Gebäude der jüdisch-christlichen
Religion, ebenso wie das islamische und buddhistische, auf solchen
angeblichen Offenbarungen beruht, da ferner diese mysthischen
Phantasie-Produkte direkt der klaren empirischen Natur-Erkenntniß widersprechen, so ist es sicher, daß wir die
Wahrheit nur mittelst der Vernunft-Thätigkeit der echten
Wissenschaft finden können, nicht mittelst der Phantasie-Dichtung des mysthischen Glaubens. In dieser Beziehung ist es ganz
sicher, daß die christliche Weltanschauung durch die
monistische Philosophie zu ersetzen ist. Die Göttin der
Wahrheit wohnt im Tempel der Natur, im grünen Walde, auf dem
blauen Meere, auf den schneebedeckten Gebirgshöhen; - aber
nicht in den dumpfen Hallen der Klöster, in den engen Kerkern der
Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden christlichen
Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieser herrlichen Göttin der
Wahrheit und Erkenntniß nähern, sind die liebevolle
Erforschung der Natur und ihrer Gesetze, die Beobachtung der unendlich
großen Sternenwelt mittelst des Teleskops, der unendlich kleinen
Zellenwelt mittelst des Mikroskops; - aber nicht sinnlose Andachts-Uebungen und gedankenlose Gebete, nicht die Opfergaben des Ablasses
und der Peterspfennige. Die kostbaren Gaben, mit denen uns die
Göttin der Wahrheit beschenkt, sind die herrlichen Früchte
vom Baume der Erkenntniß und der unschätzbare Gewinn
einer klaren, einheitlichen Weltanschauung, - aber nicht der Glaube an
übernatürliche "Wunder" und das Wahngebilde eines
"ewigen Lebens".
II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig Wahren
verhält es sich mit den Gottes-Ideal des ewig Guten.
Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung
der Kirche völlig auszuschließen und allein die Erforschung
der Natur zu befragen ist, fällt dagegen der Inbegriff des
Guten, den wir Tugend nennen, in unserer monistischen Religion
größtentheils mit der christlichen Tugend zusammen;
natürlich gilt das nur von dem ursprünglichen, reinen
Christenthum der drei ersten Jahrhunderte, wie dessen Tugendlehren in
den Evangelien und in den paulinischen Briefen niedergelegt sind; - es
gilt aber nicht von der vatikanischen Karikatur jener reinen Lehre,
welche die europäische Kultur zu ihrem unendlichen Schaden
durch zwölf Jahrhunderte beherrscht hat. Den besten Theil der
christlichen Moral, an dem wir festhalten, bilden die Humanitäts-Gebote der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hülfe. Nur
sind diese edlen Pflichtgebote, die man als "christliche Moral" (im besten
Sinne!) zusammenfaßt, keine neuen Erfindungen ders
Christenthums, sondern sie sind von diesem aus älteren
Religionsformen herübergenommen. In der That ist ja die
"Goldene Regel", welche diese Gebote in einem Satze
zusammenfaßt, Jahrhunderte älter als das Christenthum. In
der Praxis des Lebens aber wurde dieses natürliche Sittengesetz
ebenso oft von Atheisten und Nichtchristen sorgsam befolgt als
von frommen, gläubigen Christen außer Acht gelassen.
Uebrigens beging die christliche Tugendlehre einen großen Fehler,
indem sie einseitig den Altruismus zum Gebote erhob, den
Egoismus dagegen verwarf. Unsere monistische Ethik legt
beiden gleichen Werth bei und findet die vollkommene Tugend in
dem richtigen Gleichgewicht von Nächstenliebe und Eigenliebe.
(Vergl. Kapitel 19. Das ethische Grundgesetz.)
III. Das Ideal der Schönkeit. In größten
Gegensatz zum Christenthum tritt unser Monismus auf dem Gebiete der
Schönheit. Das ursprüngliche, reine Christenthum predigte
die Werthlosigkeit des irdischen Lebens und betrachtete dasselbe
bloß als eine Vorbereitung für das ewige Leben im
"Jenseits". Daraus folgt unmittelbar, daß Alles, was das
menschliche Leben im "Diesseits" darbietet, alles Schöne in
Kunst und Wissenschaft, im öffentlichen und privaten Leben,
keinen Werth besitzt. Der wahre Christ muß sich von ihm
abwenden und nur daran denken, sich für das Jenseits
würdig vorzubereiten. Die Verachtung der Natur, die Abwendung
von allen ihren unerschöpflichen Reizen, die Verwerfung jeder Art
von schöner Kunst sind echte Christen-Pflichten; diese
würden am vollkommensten erfüllt, wenn der Mensch sich
von seinen Mitmenschen absonderte, sich kasteite und in Klöstern
oder Einsiedeleien ausschließlich mit der "Anbetung Gottes"
beschäftigte.
Nun lehrt uns freilich die Kulturgeschichte, daß diese asketische
Christen-Moral, die aller Natur Hohn sprach, als natürliche Folge
das Gegentheil bewirkte. Die Klöster, die Asyle der Keuschheit und
Zucht, wurden bald die Brutstätten der tollsten Orgien; der
sexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte massenhaft
Novellen, wie sie die Literatur der Renaissance sehr naturwahr
geschildert hat. Der Kultus der "Schönheit", der hier getrieben
wurde, stand mit der gepredigten "Weltentsagung" in schneidendem
Widerspruch, und dasselbe gilt von dem Luxus und der Pracht, welche
sich bald in dem sittenlosen Privatleben des höheren katholischen
Klerus und in der künstlerischen Auschmückung der
christlichen Kirchen und Klöster entwickelten.
Christliche Kunst. Man wird hier einwenden, daß unsere
Ansicht durch die Schönheitsfülle der christlichen Kunst
widerlegt werde, welche besonders in der Blüthezeit des
Mittelalters so unvergängliche Werke schuf. Die prachtvollen
gothischen Dome und byzanthinischen Basilisken, die Hunderte von
prächtigen Kapellen, die Tausende von Marmor-Statuen
christlicher Heiligen und Märtyrer, die Millionen von
schönen Heiligenbildern, von tiefempfundenen Darstellungen von
Christus und der Madonna - sie zeugen alle von einer Entwickelung der
schönen Künste im Mittelalter, die in ihrer Art einzig ist.
Alle diese herrlichen Denkmäler der bildenden Kunst, ebensie wie
die der Dichtkunst, behalten ihren hohen ästhetischen Werth,
gleichviel, wie wir die darin enthaltene Mischung von "Wahrheit und
Dichtung" beurtheilen. Aber was hat das Alles mit der reinen
Christenlehre zu thun, mit jener Religion der Entsagung, welche von
allem irdischen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit
und Kunst sich abwendete, welche das Familienleben und die
Frauenleibe gering schätzte, welche allein die Sorge um die
immateriellen Güter des "ewigen Lebens" predigte? Der Begriff der
"christlichen Kunst" ist eigentlich ein Widerspruch in sich, eine
"Contradictio in adjecto". Die reichen Kirchenfürsten
freilich, welche dieselbe pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke,
und sie erreichten sie auch vollständig. Indem sie das ganze
Interesse und Streben des menschlichen Geistes im Mittelalter auf die
christliche Kirche und deren eigenthümliche Kunst
lenkten, wendeten sie dasselbe von der Natur ab und von der
Erkenntniß der hier verborgenen Schätze, die zu
selbstständiger Wissenschaft geführt hätten.
Außerdem aber erinnerte der tägliche Anblick der
überall massenhaft ausgestellten Heiligenbilder, der Darstellungen
aus der "heiligen Geschichte", den gläubigen Christen jederzeit an
den reichen Sagenschatz, den die Phantasie der Kirche angesammelt
hatte. Die Legenden derselben wurden für wahre
Erzählungen, die Wundergeschichten für wirkliche
Ereignisse ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in dieser
Beziehung die christliche Kunst einen ungeheuren Einfluß auf die
allgemeine Bildung und ganz besonders auf die Festigung des Glaubens
geübt, einen Einfluß, der sich in der ganzen Kulturwelt bis
auf den heutigen Tag geltend macht.
Monistische Kunst. Das diametrale Gegenstück dieser
herrschenden christlichen Kunst ist diejenige neue Form der bildenden
Kunst, die sich erst in unseren Jahrhundert, im Zusammenhang mit der
Naturwissenschaft entwickelt hat. Die überraschende
Erweiterung unserer Weltkenntniß, die Entdeckung von
unzähligen schönen Lebens-Formen, die wir der letzteren
verdanken, hat in unserer Zeit einen ganz anderen ästhetischen
Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunst eine neue Richtung
gegeben. Zahlreiche wissenschaftliche Reisen und große
Expeditionen zur Erforschung unbekannter Länder und Meere
förderten schon im 18., noch viel mehr aber im 19. Jahrhundert
eine ungeahnte Fülle von unbekannten organischen Formen zu
Tage. Die Zahl der neuen Thier- und Pflanzen-Arten wuchs bald in's
Unermeßliche, und unter diesen (besonders unter den früher
vernachlässigten niederen Gruppen) fanden sich Tausende
schöner und interessanter Gestalten, ganz neue Motive für
Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunstgewerbe. Eine
neue Welt erschloß in dieser Beziehung besonders die
ausgedehntere mikroskopische Forschung in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts und namentlich die Entdeckung der
fabelhaften Tiefsee-Bewohner, die erst durch die berühmte
Challenger-Expedition (1872-1876) an's Licht gezogen wurden.
Tausende von zierlichen Radiolarien und Thalamophoren, von
prächtigen Medusen und Korallen, von abenteuerlichen Mollusken
und Krebsen eröffneten uns da mit einem Male eine ungeahnte
Fülle von verborgenen Formen, deren eigenartige Schönheit
und Mannigfaltigkeit alle von der menschlichen Phantasie geschaffenen
Kunstprodukte weitaus übertrifft. Allein schon in den 50
großen Bänden des Challenger-Werkes ist auf 3000 Tafeln
eine Masse solcher schöner Gestalten abgebildet; aber auch in
vielen anderen großen Prachtwerken, welche die mächtig
wachsende zoologische und botanische Literatur der letzten Decennien
enthält, sind Millionen reizender Formen dargestellt. Ich habe
kürzlich den Versuch begonnen, in meinen "Kunstformen der
Natur" (1899) eine Auswahl von solchen schönen und reizvollen
Gestalten weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Indessen bedarf es nicht weiter Reisen und kostspieliger Werke, um
jedem Menschen die Herrlichkeiten dieser Welt zu erschließen.
Vielmehr müssen dafür nur seine Augen geöffnet und
sein Sinn geübt werden. Ueberall bietet die umgebende Natur eine
überreiche Fülle von schönen und interessanten
Objekten aller Art. In jedem Moose und Grashalme, in jedem Käfer
und Schmetterling finden wir bei genauer Untersuchung
Schönheiten, an denen der Mensch gewöhnlich achtlos
vorübergeht. Vollends wenn wir dieselben mit einer Lupe bei
schwacher Vergrößerung betrachten, oder noch mehr, wenn
wir die stärkere Vergrößerung eines guten
Mikroskopes anwenden, entdecken wir überall in der organischen
Natur eine neue Welt voll unerschöpflicher Reize.
Aber nicht nur für diese ästhetische Betrachtung des Kleinen
und Kleinsten, sondern auch für diejenige des Großen und
Größten in der Natur hat uns erst das 19. Jahrhundert die
Augen geöffnet. Noch im Beginne desselben war die Ansicht
herrschend, daß die Hochgebirgsnatur zwar großartig, aber
furchtbar sei. Jetzt, am Ende desselben, sind die meisten Gebildeten -
und besonders die Bewohner der Großstädte -
glücklich, wenn sie jährlich auf ein paar Wochen die
Herrlichkeit der Alpen und die Krystallpracht der Gletscher
genießen können; oder wenn sie sich an der Majestät
des blauen Meeres, an den reizenden Landschaftbildern seiner
Küsten erfreuen können. Alle diese Quellen edelsten
Naturgenusses sind uns erst neuerdings in ihrer ganzen Herrlichkeit
offenbar und verständlich geworden, und die erstaunlich
gesteigerte Leichtigkeit und Schnelligkeit des Verkehrs hat selbst den
Unbemittelteren die Gelegenheit zu ihrer Kenntniß verschafft. Alle
diese Fortschritte im ästhetischen Naturgenusse - und damit
zugleich im wissenschaftlichen Naturverständniß - bedeuten
ebenso viele Fortschritte in der höheren menschlichen
Geistesbildung und damit zugleich in unserer monistischen Religion.
Landschaftsmalerei und Illustrations-Werke. Der Gegensatz, in
welchem unser naturalistisches Jahrhundert zu den
vorhergehenden anthropistishcen steht, prägt sich
besonders in der verschiedenen Werthschätzung und Verbreitung
von Illustrationen der mannigfaltigsten Natur-Objekte aus. Es hat sich in
unserer Zeit ein lebhaftes Interesse für bildliche Darstellungen
derselben entwickelt, das früheren Zeiten unbekannt war;
dasselbe wird unterstützt durch die erstaunlichen Fortschritte der
Technik und des Verkehrs, welche eine allgemeine Verbreitung
derselben in weitesten Kreisen gestatten. Zahlreiche illustrierte
Zeitschriften verbreiten mit der allgemeinen Bildung zugleich den Sinn
für die unendliche Schönheit der Natur in allen Gebieten.
Besonders in der Landschaftsmalerei, die hier eine früher
nicht geahnte Bedeutung gewonnen hat. Schon in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts hatte einer unserer größten und
vielseitigsten Naturforscher, Alexander Humboldt, darauf
hingewiesen, wie die Entwickelung der modernen Landschaftmalerei
nicht nur als "Anregungs-Mittel zum Natur-Studium" und als
geographisches Anschauungs-Mittel von hoher Bedeutung sei, sondern
wie sie auch in anderer Beziehung als ein edles Bildungsmittel
hochzuschätzen sei. Seitdem ist der Sinn dafür noch
bedeutend weiter entwickelt. Es sollte Aufgabe jeder Schule sein, die
Kinder frühzeitig zum Genusse der Landschaft anzuleiten
und zu der höchst dankbaren Kunst, sie durch Zeichnen und
Aquarell-Malen ihrem Gedächtniß einzuprägen.
Moderner Naturgenuß. Der unendliche Reichthum der
Natur an Schönem und Erhabenem bietet jedem Menschen, der
offene Augen und ästhetischen Sinn besitzt, eine
unerschöpfliche Fülle der herrlichsten Gaben. So werthvoll
und beglückend aber auch der unmittelbare Genuß jeder
einzelnen Gabe ist, so wird deren Werth doch noch hoch gesteigert durch
die Erkenntniß ihrer Bedeutung und ihres Zusammenhanges mit
der übrigen Natur. Als Alexander Humboldt vor
fünfzig Jahren in seinem großartigen "Kosmos" den
"Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" gab, als er in seinen
mustergültigen "Ansichten der Natur" wissenschaftliche und
ästhetische Betrachtung in glücklichster Weise verband, da
hat er mit Recht hervorgehoben, wie eng der veredelte Naturgenuß
mit der "wissenschafltichen Ergründung der Weltgesetze",
verknüpft ist, und wie beide vereinigt dazu dienen, das
Menschenwesen auf eine höhere Stufe der Vollendung zu erheben.
Die staunende Bewunderung, mit der wir den gestirnten Himmel und
das mikroskopische Leben in einem Wassertropfen betrachten, die
Ehrfurcht, mit der wir das wunderbare Wirken der Energie in der
bewegten Materie untersuchen, die Andacht, mit welcher wir die
Geltung des allumfassenden Substanz-Gesetzes im Universum verehren,
- sie alle sind Bestandtheile unseres Gemüths-Lebens, die
unter den Begriff der "natürlichen Religion" fallen.
Diesseits und Jenseits. Die angedeuteten Fortschritte in der
Erkenntniß des Wahren und im Genusse des Schönen bilden
ebenso einerseits einen werthvollen Inhalt unserer monistischen
Religion, als sie andererseits in feindlichem Gegensatze zum
Christenthum stehen. Denn der menschliche Geist lebt dort in dem
bekannten "Diesseits", hier in einem unbekannten
"Jenseits". Unser Monismus lehrt, daß wir sterbliche Kinder
der Erde sind, die ein oder zwei, höchstens drei "Menschenalter"
hindurch das Glück haben, im Diesseits die Herrlichkeiten dieses
Planeten zu genießen, die unerschöpfliche Fülle seiner
Schönheit zu schauen und die wunderbaren Spiele seiner
Naturkräfte zu erkennen. Das Christenthum dagegen lehrt,
daß die Erde ein elendes Jammerthal ist, auf welchem wir
bloß eine kurze Zeit lang uns zu kasteien und abzuquälen
brauchen, um sodann im "Jenseits" ein ewiges Leben voller Wonne zu
genießen. Wo dieses "Jenseits" liegt, und wie diese Herrlichkeit des
ewigen Lebens eigentlich beschaffen sein soll, das hat uns noch keine
"Offenbarung" gesagt. Solange der "Himmel" für den Menschen ein
blaues Zelt war, ausgespannt über der scheibenförmigen
Erde und erleuchtet durch das blinkende Lampenlicht einiger tausend
Sterne, konnte sich die menschliche Phantasie oben in diesem
Himmelssaal allenfalls das ambrosiche Gastmahl der olympischen
Götter oder die Tafel-Freuden der Walhalla-Bewohner vorstellen.
Nun ist neuerdings für alle diese Gottheiten und für die mit
ihnen tafelnden "unsterblichen Seelen" die offenkundige, von David
Strauß geschilderte Wohnungsnoth eingetreten; den wir
wissen jetzt durch die Astrophysik, daß der unendliche
Raum mit ungenießbarem Aether erfüllt ist, und das
Millionen von Weltkörpern, nach ewigen Gesetzen bewegt, sich
rastlos in demselben umhertreiben, alle im ewigen großen "Werden
und Vergehen" begriffen.
Monistische Kirchen. Die Stätten der Andacht, in denen
der Mensch sein religiöses Gemüths-Bedürfniß
befriedigt und die Gegenstände seiner Anbetung verehrt,
betrachtet er als seine geheiligten "Kirchen". Die Pagoden im
buddhistischen Asien, die griechischen Tempel im klassischen
Alterthum, die Synagogen in Palästina, die Moscheen in Egypten,
die katholischen Dome im südlichen und die evangelischen
Kathedralen im nördlichen Europa - alle diese "Gotteshäuser"
sollen dazu dienen, den Menschen über die Misere und Prosa des
realen Alltagslebens zu erheben; sie sollen ihn in die Weihe und die
Poesie einer höheren, idealen Welt versetzen. Sie erfüllen
diesen Zweck in vielen tausend verschiedenen Formen, entsprechend
den verschiedenen Kulturformen und Zeitverhältnissen. Der
moderne Mensch, welcher "Wissenschaft und Kunst" besitzt - und damit
zugleich auch Religion -, bedarf keiner besonderen Kirche, keines engen,
eingeschlossenen Raumes. Denn überall in der freien Natur, wo er
seine Blicke auf das unendliche Universum oder auf einen Theil
desselben richtet, überall findet er zwar den harten "Kampf um's
Dasein", aber daneben auch das "Wahre, Schöne und Gute";
überall findet er seine "Kirche" in der herrlichen
Natur selbst. Indessen wird es doch den besonderen
Bedürfnissen vieler Menschen entsprechen, auch außerdem
in schön geschmückten Tempeln oder Kirchen geschlossene
Andachtshäuser zu besitzen, in die sie sich zurückziehen
können. Ebenso, wie seit dem 16. Jahrhundert der Papismus
zahlreiche Kirchen an die Reformation abtreten mußte, wird im 20.
Jahrhundert ein großer Theil derselben an die "freien Gemeinden"
des Monismus übergeben.
Neunzehntes Kapitel
Unsere monistische Sittenlehre.
Monistische Studien über das ethische Grundgesetz. Gleichgewicht
zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Gleichbereichtigung des
Egoismus und Altruismus. Fehler der christlichen Moral. Staat, Schule
und Kirche.
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Inhalt: Monistische und dualistische Ethik. Widerspruch der
reinen und praktischen Vernunft bei Kant. Sein kategorischer Imperativ.
Die Neokantianer. Herbert Spencer. Egoismus und Altruismus
(Selbstliebe und Nächstenliebe). Aequivalenz beider Naturtriebe.
Das ethische Grundgesetz; die Goldene Regel. Alter derselben. Christliche
Sittenlehre. Verachtung des Individuums, des Leibes, der Natur, der
Kultur, der Familie, der Frau. Papistische Moral. Unsittliche Folgen des
Cölibats. Nothwendigkeit der Abschaffung des Cölibat,
Ohrenbeichte und Ablaßkram. Staat und Kirche. Religion ist
Privatsache. Kirche und Schule. Staat und Schule. Nothwendigkeit der
Schulreform.
Das praktische Leben stellt an den Menschen eine Reihe von ganz
bestimmten sittlichen Anforderungen, die nur dann richtig und
naturgemäß erfüllt werden können, wenn sie in
reinem Einklang mit seiner vernünftigen Weltanschauung stehen.
Diesem Grundsatze unserer monistischen Philosophie zu Folge muß
unsere gesammte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem
Zusammenhang mit der einheitlichen Auffassung des "Kosmos" stehen,
welche wir durch unsere fortgeschrittene Erkenntniß der Natur-Gesetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Universum im
Lichte unseres Monismus ein einziges großes Ganzes darstellt, so
bildet auch das geistige und sittliche Leben des Menschen nur einen
Theil dieses "Kosmos", und so kann auch unsere
naturgemäße Ordnung desselben nur eine einheitliche sein.
Es giebt nicht zwei verschiedene, getrennte Welten: eine
physische, materielle und eine moralische, immaterielle
Welt.
Ganz entgegengesetzter Ansicht ist die große Mehrzahl der
Philosophen und Theologen noch heute; sie behaupten mit Immanuel
Kant, daß die sittliche Welt von der physischen ganz
unabhängig sei und ganz anderen Gesetzen gehorche; also
müsse auch das sittliche Bewußtsein des Menschen,
als die Basis des moralischen Lebens, ganz unabhängig von der
wissenschaftlichen Welterkenntniß sein und sich vielmehr
auf den religiösen Glauben stützen. Die Erkenntniß der
sittlichen Welt soll danach durch die gläubige praktische
Vernunft geschehen, hingegen diejenige der Natur oder der
physischen Welt durch die reine theoretische Vernunft. Dieser
unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kant's
Philosphie war ihre größter und schwerster Fehler; er
hat unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute mächtig
fort. Zuerst hat der kritische Kant den großartigen und
bewunderungswürdigen Palast der reinen Vernunft ausgebaut
und einleuchtend gezeigt, daß die drei großen Central-Dogmen der Metaphysik: der persönliche Gott, der freie Wille
und die unsterbliche Seele, darin nirgends untergebracht werden
können, ja daß vernünftige Beweise für deren
Realität gar nicht zu finden sind. Später aber baute der
dogmatische Kant an diesen realen Krystall-Palast der reinen
Vernunft das schimmernde ideale Luftschloß der praktischen
Vernunft an, in welchem drei imposante Kirchenschiffe zur
Wohnstätte jener drei gewaltigen mystischen Gottheiten
hergerichtet wurden. Nachdem sie durch die Vorderthür mittelst
des vernünftigen Wissens hinausgeschafft wurden, kehrten sie
nun durch die Hinterthür mittelst des unvernünftigen
Glaubens wieder zurück.
Die Kuppel seines großen Glaubens-Domes krönte Kant mit
einem seltsamen Idol, dem brühmten kategorischen
Imperativ; danach ist die Forderung des allgemeinen Sittengesetzes
ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rücksicht und
Wirklichkeit und Möglichkeit; sie lautet; "Handle jederzeit so,
daß die Maxime (oder der subjektive Grundsatz deines Willens)
zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
Jeder normale Mensch sollte demnach dasselbe Pflichtgefühl
haben wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat diesen
schönene Traum grausam zerstört; sie hat gezeigt, daß
unter den Natur-Völkern die Pflichten noch weit verschiedener
sind als unter den Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die
wir als verwerfliche Sünden oder abscheuliche Laster ansehen
(Diebstahl, Betrug, Mord, Ehebruch u. s. w.), gelten bei anderen
Völkern unter Umständen als Tugenden oder selbst als
Pflichtgebote.
Obgleich nun der offenkundige Gegensatz der beiden Vernünfte
von Kant, der principielle Antagonismus der reinen und
der praktischen Vernunft, schon im Anfange des 19.
Jahrhunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute in
weiten Kreisen herrschend. Die moderne Schule der Neokantianer
predigt noch heute den "Rückgang auf Kant" so eindringlich gerade
wegen dieses willkommenen Dualismus, und die streitende
Kirche unterstützt sie dabei auf's Wärmste, weil ihr eigener
mystischer Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirksame
Niederlage bereitete demselben erst die moderne Naturwissenschaft in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die Voraussetzungen der
praktischen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig. Die
monistische Kosmologie bewies auf Grund des Substanz-Gesetzes,
daß es keinen "persönlichen Gott" giebt; die vergleichende
und genetische Psychologie zeigte, daß eine "unsterbliche Seele"
nicht existiren kann, und die monistische Physiologie wies nach,
daß die Annahme des "freien Willens" auf Täuschung beruht.
Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die "ewigen,
ehernen Naturgesetze" der anorganischen Welt auch in der
organischen und moralischen Welt Geltung haben.
Unsere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die
praktische Philosophie und Ethik nicht nur negativ, indem sie den
Kantischen Dualismus zertrümmert, sondern auch positiv,
indem sie an dessen Stelle das neue Gebäude des ethischen
Monismus setzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl
des Menschen nicht auf einem illusorischen "kategorischen
Imperativ" beruht, sondern auf dem realen Boden der socialen
Instinkte, die wir bei allen gesellig lebenden höheren Thieren
finden. Sie erkennt als höchstes Ziel der Moral die Herstellung
einer gesunden Harmonie zwischen Egoismus und
Altruismus, zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Vor
allen Anderen war es der große englische Philosoph Herbert
Spencer, dem wir die Begründung dieser monistischen Ethik
durch die Entwickelungslehre verdanken.
Egoismus und Altruismus. Der Mensch gehört zu den
sozialen Wirbelthieren und hat daher, wie alle sozialen Thiere,
zweierlei verschiedene Pflichten, erstens gegen sich selbst und zweitens
gegen die Gesellschaft, der er angehört. Erstere sind Gebote der
Selbstliebe (Egoismus), letztere Gebote der
Nächstenliebe (Altruismus). Beide natürliche Gebote
sind gleich berechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich.
Will der Mensch in geordneter Gesellschaft existiren und sich wohl
befinden, so muß er nicht nur sein eigenes Glück anstreben,
sondern auch dasjenige der Gemeinschaft, der er angehört, und
der "Nächsten", welche diesen socialen Verein bilden. Er muß
erkennen, daß ihr Gedeihen sein Gedeihen ist und ihr Leiden sein
Leiden. Dieses sociale Grundgesetz ist so einfach und so
naturnothwendig, daß man schwer begreift, wie demselben
theoretisch und praktisch widersprochen werden kann; und doch
geschieht das noch heute, wie es seit Jahrtausenden geschehen ist.
Aequivalenz des Egoismus und Altruismus. Die gleiche
Berechtigung dieser beiden Naturtriebe, die moralische
Gleichwerthigkeit der Selbstliebe und der Nächstenliebe ist das
wichtigste Fundamental-Princip unserer Moral. Das höchste
Ziel aller vernünftigen Sittenlehre ist demnach sehr einfach, die
Herstellung des "naturgemäßen Gleichgewichts zwischen
Egoismus und Altruismus", zwischen Eigenliebe und
Nächstenliebe". Das Goldene Sittengesetz sagt; "Was du willst,
daß dir die Leute thuen sollen, das thue du ihnen auch." Aus
diesem höchsten Gebot des Christenthums folgt von selbst,
daß wir ebenso heilige Pflichten gegen uns selbst wie gegen unsere
Mitmenschen haben. Ich habe meine Auffassung dieses Grundprincips
bereits 1892 in meinem "Monismus" auseinandergesetzt (S.
99,45) und dabei besonders drei wichtige Sätze betont: I. Beide
konkurrirende Triebe sind Naturgesetze, die zum Bestehen der
Familie und der Gesellschaft gleich wichtig und gleich nothwendig sind;
der Egoismus ermöglicht die Selbsterhaltung des
Individuums, der Altruismus diejenige der Gattung und
Species, die sich aus der Kette der vergänglichen
Individuen zusammensetzt. II. Die socialen Pflichten, welche die
Gesellschaftsbildung den associirten Menschen auferlegt, und durch
welche sich dieselbe erhält, sind nur höhere
Entwickelungsformen der socialen Instinkte, welche wir bei allen
höheren, gesellig lebenden Thieren finden (als "erblich gewordene
Gewohnheiten"). III. Beim Kulturmenschen steht alle Ethik,
sowohl die theoretische als die praktische Sittenlehre, als
"Normwissenschaft" in Zusammenhang mit der Weltanschauung
und demnach auch mit der Religion.
Das ethische Grundgesetz. (Das Goldene Sittengesetz)
Aus der Anerkennung unseres Fundamental-Princips der Moral ergiebt
sich unmittelbar das höchste Gebot derselben, jenes Pflichtgebot,
das man jetzt oft als das Goldene Sittengesetz oder kurz als die
"Goldene Regel" bezeichnet. Christus sprach dasselbe wiederholt
in dem einfachen Satze aus: "Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst" (Matth. 19, 19; 22, 39, 40; Römer 13, 9 u. s.
w.); der Evangelist Markus (12, 31) fügte ganz richtig hinzu;
"Es ist kein größeres Gebot als dieses"; und
Matthäus sagte; "In diesen zwei Geboten hänget das
ganze Gesetz und die Propheten." In diesem wichtigsten und
höchsten Gebote stimmt unsere monistische Ethik
vollkommen mit der christlichen überein. Nur
müssen wir gleich die historische Thatsache hinzufügen,
daß die Aufstellung dieses obersten Grundgesetzes nicht ein
Verdienst Christi ist, wie die meisten christlichen Theologen behaupten
und ihre unkritischen Gläubigen unbesehen annehmen. Vielmehr
ist diese Goldene Regel mehr als fünfhundert Jahre
älter als Christus und von vielen verschiedenen Weisen
Griechenlands und des Orients als wichtigstes Sittengesetz anerkannt.
Pittakos von Mytilene, einer der sieben Weisen Griechenlands,
sagte 620 vor Christus: "Thue deinem Nächsten nicht, was du ihm
verübeln würdest." - Konfutse, der große
chinesische Philosoph und Religionsstifter (der die Unsterblichkeit der
Seele und den persönlichen Gott leugnete), sagte 500 Jahre vor
Chr.: "Thue jedem anderen, was du willst, daß er dir thun soll; und
thue keinem Anderen was du willst, daß er dir nicht thun soll. Du
brauchst nur dieses Gebot allein; es ist die Grundlage aller anderen
Gebote." - Aristoteles lehrte um die Mitte des vierten
Jahrhundert vor Chr.: "Wir sollen uns gegen Andere so benehmen, als
wir wünschen, daß Andere gegen uns handeln sollen." In
gleichem Sinne und zum Theil mit denselben Worten wird auch die
Goldene Regel von Thales, Isokrates, Aristippus,
dem Pythagoräer Sextus und anderen Philosophen des
klassischen Alterthums - mehrere Jahrhunderte vor Christus! -
ausgesprochen. (Vergleiche darüber das wichtige Werk von
Saladin: "Jehovah's gesammelte Werke".) Aus dieser
Zusammestellung geht hervor, daß das Goldene Grundgesetz
polyphyletisch entstanden, d. h. zu verschiedenen Zeiten und an
verschiedenen Orten von mehreren Philosophen - unabhängig von
einander - aufgestellt worden ist. Anderenfalls müßte man
annehmen, daß Jesus dasselbe aus anderen orientalischen Quellen
(aus älteren semitischen, indischen, chinesischen Traditionen,
besonders buddhistischen Lehren) übernommen habe, wie es jetzt
für die meisten anderen christlichen Glaubenslehren
nachgewiesen ist. Saladin faßt die bezüglichen
Ergebnisse der modernen kritischen Theologie in dem Satze zusammen:
"Es giebt keinen vernünftigen und praktischen, von Jesus
gelehrten Moralgrundsatz, der nicht vor ihm auch schon von
Anderen gelehrt worden wäre" (Thales, Solon, Sokrates,
Plato, Konfutse u. s. w.).
Christliche Sittenlehre. Da das ethische Grundgesetz demnach
bereits seit 2500 Jahren besteht, und da das Christenthum dasselbe
ausdrücklich als höchstes, alle anderen umfassendes Gebot
an die Spitze seiner Sittenlehre stellt, würde unsere
monistische Ethik in diesem wichtigen Punkte nicht nur mit jenen
älteren heidnischen Sittenlehren, sondern auch mit den
christlichen in vollkommenem Einklang sein. Leider wird aber diese
erfreuliche Harmonie dadurch gestört, daß die Evangelien
und die paulinischen Episteln viele andere Sittenlehren enthalten, die
jenem ersten und obersten Gebote geradezu widersprechen. Die
christlichen Theologen haben sich vergebens bemüht, diese
auffälligen und schmerzlich empfundenen Widersprüche
durch künstliche Deutungen auszugleichen. Wir brauchen daher
hier nicht darauf einzugehen, müssen aber wohl kurz auf jene
bedauerlichen Seiten der christlichen Lehre hinweisen, welche mit der
besseren Weltanschauung der Neuzeit unverträglich und
bezüglich ihrer praktischen Konsequenzen geradezu
schädlich sind. Dahin gehört die Verachtung der christlichen
Moral gegen das eigene Individuum, gegen den Leib, die Natur, die
Kultur, die Familie und die Frau.
I. Die Selbst-Verachtung des Christenthums. Als obersten und
wichtigsten Mißgriff der christlichen Ethik, welcher die Goldene
Regel geradezu aufhebt, müssen wir die Uebertreibung der
Nächstenliebe auf Kosten der Selbstliebe betrachten. Das
Christenthum bekämpft und verwirft den Egoismus im
Princip, und doch ist dieser Naturtrieb zur Selbsterhaltung absolut
unentbehrlich; ja man kann sagen, daß auch der Altruismus,
sein scheinbares Gegentheil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus ist.
Nichts Großes, nichts Erhabeneres ist jemals ohne Egoismus
geschehen und ohne die Leidenschaft, welche uns zu großen
Opfern befähigt. Nur die Ausschreitungen dieser Triebe
sind verwerflich. Zu denjenigen christlichen Geboten, welche uns in
frühester Jugend als wichtigste eingeprägt und welche in
Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz
(Matthäus 5, 44): "Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen,
thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen
und verfolgen." Dieses Gebot ist sehr ideal, aber praktisch von sehr
bedenklichem Werthe. Ebenso verhält es sich mit der Anweisung:
"Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gieb auch den Mantel"; d. h. in
das moderne Leben übersetzt: "Wenn dich ein gewissenloser
Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens betrügt,
dann schenke ihm auch noch die anderen Hälfte" - oder in die
politische Praxis übertragen: "Wenn euch einfältigen
Deutschen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen
werthvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann schenkt
ihnen auch noch die übrigen Kolonien - oder am besten: gebt
ihnen Deutschland auch noch dazu!" Da wir hier gerade die
vielbewunderte Weltmachts-Politik des modernen England
berühren, in welchem schneidenden Widerspruch dieselbe
zu allen Grundlehren der christlichen Liebe steht, welche von dieser
großen Nation mehr als von jeder anderen im Munde
geführt wird. Uebrigens ist ja der offenkundige Widerspruch
zwischen der empfohlenen idealen, altruistischen Moral des
einzelnen Menschen und der realen, rein egoistischen
Moral der menschlichen Gemeinden, und besonders der
christlichen Kultur-Staaten, eine allbekannte Thatsache. Es wäre
interessant, mathematisch festzustellen, bei welcher Zahl von
vereinigten Menschen das altruistische Sitten-Ideal der einzelnen
Person sich in sein Gegentheil verwandelt, in die rein egoistische
"Real-Politik" der Staaten und Nationen.
II. Die Leibes-Verachtung des Christenthums. Da der christliche
Glaube den Organismus des Menschen ganz dualistisch beurtheilt und
der unsterblichen Seele nur einen vorübergehenden Aufenthalt im
sterblichen Leibe anweist, ist es ganz natürlich, daß der
ersteren ein viel höherer Werth beigemessen wird als dem
letzteren. Daraus folgt jene Vernachlässigung der Leibespflege, der
körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit, welche das Kulturleben
des christlichen Mittelalters sehr unvortheilhaft vor demjenigen des
heidnischen klassischen Alterthums auszeichnet. In der christlichen
Sittenlehre fehlen jene strengen Gebote der täglichen Waschungen
und der sorgfältigen Körperpflege, die wir in der
mohammedanischen, der indischen und anderen Religionen nicht nur
theoretisch festgesetzt, sondern auch praktisch ausgeführt sehen.
Das Ideal des frommen Christen ist in vielen Klöstern der Mensch,
der sich niemals ordentlich wäscht und kleidet, der seine
übel riechende Kutte niemals wechselt, und der statt ordentlicher
Arbeit sein faules Leben mit gedankenlosen Betübungen,
sinnlosem Fasten u. s. w. zubringt. Als Auswüchse dieser
Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen
Bußübungen der Geißler und anderer Asketiker
erinnert werden.
III. Die Natur-Verachtung des Christenthums. Eine Quelle von
unzähligen theoretischen Irrthümern und praktischen
Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen Entbehrungen
liegt in dem falschen Anthropismus des Christenthums, in der
exklusiven Stellung, welche dasselbe dem Menschen als "Ebenbild
Gottes" anweist, im Gegensatze zu der übrigen Natur. Dadurch hat
dasselbe nicht allein zu einer höchst schädlichen
Entfremdung von unserer herrlichen Mutter "Natur" beigetragen,
sondern auch zu einer bedauernswerten Verachtung der übrigen
Organismen. Das Christenthum kennt nicht jene rühmliche
Liebe zu den Thieren, jenes Mitleid mit den
nächststehenden, uns befreundeten Säugethieren (Hunden,
Pferden, Rindern u s. w.), welche zu den Sittengesetzen vieler anderer
älterer Religionen gehören, vor Allem der
weitestverbreiteten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im
katholischen Süd-Europa gelebt hat, ist oftmals Zeuge jener
abscheulichen Thierquälereien gewesen, die uns Thierfreunden
sowohl das tiefste Mitleid als den höchsten Zorn erregen; und
wenn er dann jenen rohen "Christen" Vorwürfe über ihre
Grausamkeit macht, erhält er zur lachenden Antwort: "Ja, die
Thiere sind doch keine Christen!" Leider wurde dieser Irrthum auch
durch Descartes befestigt, der nur dem Menschen eine
fühlende Seele zuschrieb, nicht aber den Thieren. Wie erhaben
steht in dieser Beziehung unsere monistische Ethik über der
christlichen! Der Darwinismus lehrt uns, daß wir
zunächst von Primaten und weiterhin von einer Reihe
älterer Säugethiere abstammen, und daß diese
"unsere Brüder" sind; die Physiologie beweist uns, daß
diese Thiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir,
daß sie ebenso Lust und Schmerz empfinden wir wir. Kein
mitfühlender, monistische Naturforscher wird sich jemals jener
rohen Mißhandlung der Thiere schuldig machen, die der
gläubige Christ in seinem anthropistischen Größenwahn
- als "Kind des Gottes der Liebe!" - gedankenlos begeht. -
Außerdem aber entzieht die principielle Natur-Verachtung des
Christenthums dem Menschen eine Fülle der edelsten irdischen
Freuden, vor Allem den herrlichen, wahrhaft erhebenden
Naturgenuß.
IV. Die Kultur-Verachtung des Christenthums. Da nach Christi
Lehre unsere Erde ein Jammerthal ist, unser irdisches Leben werthlos
und nur eine Vorbereitung auf das "ewige Leben" im besseren Jenseits,
so verlangt sie folgerichtig, daß demgemäß der Mensch
auf alles Glück im Diesseits zu verzichten und alle dazu
erforderlichen irdischen Güter gering zu achten hat. Zu
diesen "irdischen Gütern" gehören aber für den
modernen Kulturmenschen die unzähligen kleinen und
großen Hilfsmittel der Technik, der Hygiene, des Verkehrs, welche
unser heutiges Kulturleben angenehm und gemüthlich gestalten; -
zu diesen "irdischen Gütern" gehören alle die höhen
Genüsse der bildenden Kunst, der Tonkunst, der Poesie, welche
schon während des christlichen Mittelalters (und trotz seiner
Principien!) sich zu hoher Blüte entwickelten, und welche wir als
"ideale Güter" hochschätzen; - zu diesen "irdischen
Gütern" gehören alle jene unschätzbaren Fortschritte
der Wissenschaft und vor Allem die Naturerkenntniß, auf deren
ungeahnte Entwickelung unser 19. Jahrhundert in der That stolz sein
kann. Alle diese "irdischen Güter" der verfeinerten Kultur, welche
nach unserer monistischen Weltanschauung den höchsten Werth
besitzen, sind nach der christlichen Lehre werthlos, ja großentheils
verwerflich, und die strenge christliche Moral muß das Streben
nach diesen Gütern ebenso mißbilligen, wie unsere
humanistische Ethik dasselbe billigt und empfiehlt. Das Christenthum
zeigt sich also auch auf diesem praktischen Gebiete kulturfeindlich; der
Kampf, welchen die moderne Bildung und Wissenschaft dagegen zu
führen gezwungen sind, ist auch in diesem sinne
"Kulturkampf".
V. Die Familien-Verachtung des Christenthums. Zu den
bedauerlichsten Seiten der christlichen Moral gehört die
Geringschätzung, welche dasselbe gegen das Familien-Leben besitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße
Zusammenleben mit den nächsten Blutsverwandten, welches
für den normalen Menschen ebenso unentbehrlich ist wie
für alle höheren socialen Thiere. Die "Familie" gilt uns ja mit
Recht als die "Grundlage der Gesellschaft" und das gesunde Familien-Leben als Vorbedingung für ein blühendes Staatsleben. Ganz
anderer Ansicht war Christus, dessen nach dem "Jenseits" gerichteter
Blick die Frau und die Familie ebenso gering schätzte wie alle
anderen Güter des "Diesseits". von den seltenen
Berührungen mit seinen Eltern und Geschwistern wissen die
Evangelien nur sehr wenig zu erzählen; das Verhältniß
zu seiner Mutter Maria war danach keineswegs so zart und innig, wie es
uns Tausende von schönen Bildern in poetischer
Verklärung vorführen; er selbst war nicht verheiratet.
Die Geschlechts-Liebe, die doch die erste Grundlage der Familien-Bildung ist, erschien Jesus eher wie ein nothwendiges Uebel. Noch weiter
ging darin sein eifrigster Apostel, Paulus, der es für besser
erklärte, nicht zu heirathen, als zu heirathen. "Es ist dem
Menschen gut, daß er kein Weib berühre" (1. Korinther 7, 1,
28-38). Wenn die Menschheit diesen guten Rath befolgte, würde
sie damit allerdings bald alles irdische Leid und Elend loswerden; sie
würde durch diese Radikal-Kur innerhalb eines Jahrhunderts
aussterben.
VI. Die Frauen-Verachtung des Christenthums. Da Christus selbst
die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm persönlich jene feine
Veredelung des wahren Menschenwesens fremd, welche erst aus dem
innigen Zusammenleben des Mannes mit dem Weibe entsprint. Der
intime sexuelle Verkehr, auf welchem allein die Erhaltung des
Menschengeschlechts beruht, ist dafür ebenso wichtig wie die
geistige gegenseitige Ergänzung, die sich Beide in gleicher Weise in
den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens wie in
den höchsten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit
gewähren. Denn Mann und Weib sind zwei verschiedene, aber
gleichwertige Organismen, jeder mit seinen eigenthümlichen
Vorzügen und Mängeln. Je höher sich die Kultur
entwickelte, desto mehr wurde dieser ideale Werth der sexuellen Liebe
erkannt, und desto höher stieg die Achtung der Frau, besonders in
der germanischen Rasse; ist sie doch die Quelle, aus welcher die
herrlichsten Blüthen der Poesie und der Kunst entsprossen sind.
Christus dagegen lag diese Anschauung ebenso fern wie fast dem ganzen
Altherthum; er theilte die allgemein herrschende Anschauung des
Orients, daß das Weib dem Manne untergeordnet und der
Verkehr mit ihm "unrein" sei. Die beleidigte Natur hat sich für
diese Mißachtung furchtbar gerächt, und die traurigsten
Folgen derselben sind namentlich in der Kulturgeschichte des
papistischen Mittelalters mit blutiger Schrift verzeichnet. (Vergl.
Albrecht Rau, Die Ethik Jesu. Gießen 1900.)
Papistische Moral. Die bewunderungswürdige Hierarchie
des römischen Papismus, die kein Mittel zur absoluten
Beherrschung der Geister verschmähte, fand ein ausgezeichnetes
Instrument in der Fortbildung jener "unreinen" Anschauung und in der
Pflege der asketischen Vorstellung, daß die Enthaltung vom
Frauenverkehr an sich eine Tugend sei. Schon in den ersten
Jahrhunderten nach Christus enthielten sich viele Priester freiwillig der
Ehe, und bald stieg der vermeintliche Werth dieses Cölibats
so hoch, daß dasselbe für obligatorisch erklärt wurde.
Die Sittenlosigkeit, die in Folge dessen einriß, ist durch die
Forschungen der neueren Kulturgeschichte allbekannt geworden. Schon
im Mittelalter wurde die Verführung ehrbarer Frauen und
Töchter durch katholische Geistliche (wobei der Beichtstuhl eine
wichtige Rolle spielte) ein öffentliches Aergerniß; viele
Gemeinden drangen darauf, daß zur Verhütung derselben
den "keuschen" Priestern das Konkubinat gestattet werde! Das
geschah denn auch in verschiedenen, oft recht romantischen Formen. So
wurde z. B. das kanonische Gesetz, daß die Pfarrersköchin
nicht jünger als vierzig Jahre sein dürfe, sehr sinnreich
dadurch "ausgelegt", daß sich der Herr Kaplan zwei
"Köchinnen" hielt, eine im Pfarrhause, die andere draußen;
wenn jene 24 und diese 18 Jahre alt war, machte das zusammen 42 -
also 2 Jahre mehr, als nöthig war. Auf den christlichen Koncilien,
auf welchen ungläubige Ketzer lebendig verbrannt wurden,
tafelten die versammelten Kardinäle und Bischöfe mit
ganzen Schaaren von Freudenmädchen. Die geheimen und
öffentlichen Ausschweifungen des katholischen Klerus wurden so
schamlos und gemeingefährlich, daß schon vor Luther
die Empörung daüber allgemein und der Ruf nach einer
"Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern" überall laut
wurde. Daß trotzdem diese unsittlichen Verhältnisse in
katholischen Ländern noch heute fortbestehen (wenn auch mehr
im Geheimen), ist bekannt. Früher wiederholten sich noch immer
von Zeit zu Zeit die Anträge auf definitive Aufhebung des
Cölibats, so in den Kammern von Baden, Bayern, Hessen, Sachsen
und anderen Ländern. Leider bisher vergebens! Im Deutschen
Reichstage, in welchem das ultramontane Centrum gegenwärtig
die lächerlichsten Mittel zur Vermeidung der sexuellen
Unsittlichkeit vorschlägt, denkt noch heute keine Partei daran, die
Abschaffung des Cölibats im Interessse der öffentlichen
Moral zu beantragen. (Vergl. Hoensbroech, Das Papstum, Leipzig
1901).
Der moderne Kulturstaat, der nicht bloß das praktische, sondern
auch das moralische Volksleben auf eine höhere Stufe heben soll,
hat das Recht und die Pflicht, solche unwürdige und
gemeinschädliche Zustände aufzuheben. Das
"obligatorische Cölibat" der katholischen Geistlichen ist
ebenso verderblich und unsittlich wie die Ohrenbeichte und der
Ablaßkram; alle drei Einrichtungen haben mit dem
ursprünglichen Christenthum Nichts zu thun; alle drei
schlagen der reinen Christen-Moral in's Gesicht; alle drei sind
nichtswürdige Erfindungen des Papismus, darauf
berechnet, die absolute Herrschaft aufrecht zu erhalten und sie nach
Kräften materiell auszubeuten.
Die Nemesis der Geschichte wird früher oder später
über den römischen Papismus ein furchtbares Strafgericht
halten, und die Millionen Menschen, die durch diese entartete Religion
um ihr Lebensglück gebracht wurden, werden dazu dienen ihr im
zwanzigsten Jahrhundert den Todesstoß zu versetzen - wenigstens
in den wahren "Kulturstaaten". Man hat neuerdings berechnet, daß
die Zahl der Menschen, welche durch die papistischen Ketzer-Verfolgungen, die Inquisition, die christlichen Glaubenskriege u. s. w.
um's Leben kamen über zehn Millionen beträgt. Aber was
bedeutet diese Zahl gegen die zehnfach größere Zahl der
Unglücklichen, welche den Satzungen und der Priesterherrschaft
der entarteten christlichen Kirche moralisch zum Opfer fielen? -
gegen die Unzahl derjenigen, deren höheres Geistesleben durch sie
getödtet, deren naives Gewissen gequält, deren
Familienleben vernichtet wurde? Hier gilt das wahre Wort aus
Goethe's herrlichem Gedichte "Die Braut von Korinth":
"Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört!"
Staat und Kirche. In dem großen "Kulturkampfe",
der in Folge dieser traurigen Verhältnisse noch immer
geführt werden muß, sollte das erste Ziel die
vollständige Trennung von Staat und Kirche sein. Die "freie
Kirche soll im freien Staate" bestehen, d. h. jede Kirche soll frei sein in
voller Ausübung ihres Kultus und ihrer Ceremonien, auch im
Ausbau ihrer phanstastischen Dichtungen und abergläubischen
Dogmen - jedoch unter der Voraussetzung, daß sie dadurch
nicht die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit gefährdet. Und
dann soll gleiches Recht für alle gelten! Die freien Gemeinden und
die monistischen Religions-Gesellschaften sollen ebenso geduldet und
ebenso frei in ihren Bewegungen sein wie die liberalen Protestanten-Vereine und die orthodoxen ultramontanen Gemeinden. Aber für
alle diese "Gläubigen" der verschiedensten Konfessionen soll die
Religion Privatsache bleiben; der Staat soll sie nur beaufsichtigen
und ihre Ausschreitungen verhüten, sie aber weder
unterdrücken noch unterstützen. Vor Allem sollen jedoch
die Steuerzahler nicht mehr gehalten werden, ihr Geld für die
Aufrechterhaltung und Förderung eines fremden
"Glaubens" herzugeben, der nach iherer ehrlichen Ueberzeugung
ein schädlicher Aberglaube ist. In den Vereinigten Staaten
von Nord-Amerika, in Holland und einigen kleineren Ländern ist
in diesem Sinne die vollständige Trennung von Staat und Kirche
längst durchgeführt, und zwar zur Zufriedenheit aller
Betheiligten. Damit ist dort zugleich die ebenso wichtige Trennung der
Kirche von der Schule bestimmt, unzweifelhaft ein wichtiger Grund
für den gewaltigen Aufschwung, welchen die Wissenschaft und
das höhere Geistesleben überhaupt neuerdings in Nord-Amerika genommen hat.
Kirche und Schule. Es ist selbstverständlich, daß die
Entfernung der Kirche aus der Schule sich bloß auf die
Konfession bezieht, auf die besondere Glaubensform, welche der
Sagenkreis jeder einzelnen Kirche im Laufe der Zeit entwickelt hat.
Dieser "konfessionelle Unterricht" ist reine Privatsache und Aufgabe der
Eltern und Vormünder, oder derjenigen Priester oder Lehrer,
denen diese ihr persönliches Vertrauen schenken. Dagegen treten
an Stelle der eliminirten "Konfession" in der Schule zwei verschiedene
wichtige Unterrichts-Gegenstände; erstens die monistische
Sittenlehre und zweitens die vergleichende Religions-Geschichte. Ueber
die neue monistische Ethik, welche sich auf der festen Basis der
modernen Naturerkenntniß - vor Allem der
Entwickelungslehre - erhebt, ist im Laufe der letzten dreißig
Jahre eine umfangreiche Literatur erschienen. Unsere neue
vergleichende Religionsgeschichte knüpft
naturgemäß an den bestehenden Elementar-Unterricht in
"biblischer Geschichte" und in der Sagenwelt des griechischen und
römischen Alterthums an. Beide bleiben wie bisher wesentliche
Bildungs-Elemente. Das ist schon deshalb selbstverständlich, weil
unsere ganze bildende Kunst, das Hauptgebiet unserer
monistischen Aesthetik, auf das Innigste mit der jüdischen
und christlichen, der hellenischen und römischen Mythologie
verwachsen ist. Ein wesentlicher Unterschied im Unterricht wird nur
darin eintreten, daß die israelitischen und christlichen Sagen und
Legenden nicht als "Wahrheiten" gelehrt werden, sondern gleich
den griechischen und römischen als Dichtungen; der hohe
Werth des ethischen und ästhetischen Stoffes, den sie enthalten,
wird dadurch nicht vermindert, sondern erhöht. - Was die
Bibel betrifft, so sollte dieses "Buch der Bücher" den
Kindern nur in sorgfältig gewähltem Auszuge in die Hand
gegeben werden (als "Schulbibel"); dadurch würde die Befleckung
der kindlichen Phantasie mit den zahlreichen unsauberen Geschichten
und unmoralischen Erzählungen verhütet werden, an denen
namentlich das Alte Testament so reich ist.
Staat und Schule. Nachdem unser moderner Kulturstaat sich
und die Schule von den Sklaven-Fesseln der Kirche befreit hat, wird er
um so mehr seine Kraft und Fürsorge der Pflege der Schule
widmen können. Der unschätzbare Wert eines guten Schul-Unterrichts ist uns um so mehr zum Bewußtsein gekommen, je
reicher und großartiger sich im Laufe des 19. Jahrhunderts alle
Zweige des modernen Kultur-Lebens entfaltet haben. Aber die
Entwickelung der Unterrichts-Methoden hat damit keineswegs gleichen
Schritt gehalten. Die Nothwendigkeit einer umfassenden Schul-Reform drängt sich uns immer entschiedener auf. Auch
über diese große Frage sind im Laufe der letzten vierzig
Jahre sehr zahlreiche und werthvolle Schriften erschienen. Wir
beschränken uns daher auf Hervorhebung einiger allgemeiner
Gesichtspunkte, die uns besonders wichig erscheinen: 1. Im bisherigen
Unterricht spielte allgemein der Mensch die Hauptrolle und
besonders das grammatische Studium seiner Sprache; die
Naturkunde wurde darüber ganz vernachlässigt. 2. In der
neuen Schule muß die Natur das Hauptobjekt werden; der
Mensch soll eine richtige Vorstellung von der Welt gewinnen, in der er
lebt; er soll nicht außerhalb der Natur stehen oder gar im
Gegensatz zu ihr, sondern soll als ihr höchstes und edelstes
Erzeugniß erscheinen. 3. Das Studium der klassischen
Sprachen (Lateinisch und Griechisch), das bisher den
größten Theil der Zeit und Arbeit in Anspruch nahm, bleibt
zwar sehr werthvoll, muß aber stark beschränkt und auf die
Elemente reducirt werden (das Griechische nur fakultativ, das
Lateinische obligatorisch). 4. Dafür müssen die modernen
Kultur-Sprachen auf allen höheren Schulen um so mehr
gepflegt werden (Englisch, Französisch, Italienisch). 5. Der
Unterricht in der Geschichte muß mehr das innere Geistesleben, die
Kultur-Geschichte berücksichtigen, weniger die
äußerliche Völkergeschichte (die Schicksale der
Dynastien, Kriege u. s. w.). 6. Die Grundzüge der
Entwickelungslehre sind im Zusammenhange mit denjenigen der
Kosmologie zu lehren, Geologie im Anschluß an die
Geographie, Anthropologie im Anschluß an die Biologie. 7. Die
Grundzüge der Biologie müssen Gemeingut jedes
gebildeten Menschen werden; der moderne "Anschauungs-Unterricht"
fördert die anziehende Einführung in die biologischen
Wissenschaften (Anthropologie, Zoologie, Botanik). Im Beginne ist von
der beschreibenden Systematik auszugehen (im Zusammenhang mit
Oekologie oder Bionomie); später sind die Elemente der Anatomie
und Physiologie anzuschließen. 8. Ebenso muß von
Physik und Chemie jeder Gebildete die Grundzüge
kennen lernen, sowie deren exakte Begründung durch die
Mathematik. 9. Jeder Schüler muß gut zeichnen
lernen, und zwar nach der Natur; womöglich auch aquarellieren.
Das Entwerfen von Zeichnungen und Aquarell-Skizzen nach der Natur
(von Blumen, Thieren, Landschaften, Wolken u. s. w.) weckt nicht nur
das Interesse an der Natur und erhält die Erinnerung an ihren
Genuß, sondern die Schüler lernen dadurch überhaupt
erst richtig sehen und das Gesehene verstehen. 10. Viel
mehr Sorgfalt und Zeit als bisher ist auf die körperliche
Ausbildung zu verwenden, auf Turnen und Schwimmen;
vorzüglich aber sind wöchentlich gemeinsame
Spaziergänge und jährlich in den Ferien mehrere
Fußreisen zu unternehmen; der hier gebotene Anschauungs-Unterricht ist von höchstem Werth.
Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in den
meisten Kulturstaaten die Vorbildung für den späteren
Beruf, Erwerbung eines gewissen Maßes von Kenntnissen und
Abrichtung für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule
des zwanzigsten Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die
Ausbildung des selbstständigen Denkens verfolgen, das
klare Verständniß der erworbenen Kenntnisse und die
Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Erscheinungen.
Wenn der moderne Kulturstaat jedem Bürger das allgemeine
gleiche Wahlrecht zugesteht, muß er ihm auch die
Mittelgewähren, durch gute Schulbildung seinen Verstand zu
entwickeln, um davon zum allgemeinen Besten eine vernünftige
Anwendung zu machen.
Zwanzigstes Kapitel
Lösung der Welträthsel.
Rückblick auf die Fortschritte der wissenschaftlichen
Welterkenntniß im neunzehnten Jahrhundert. Beantwortung der
Welträthsel durch die monistische Naturphilosophie.
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Inhalt: Rückblick auf die Fortschritte des 19. Jahrhunderts
in der Lösung der Welträthsel. I. Fortschritte der
Astronomie und Kosmologie. Physikalische und chemische Einheit des
Universum. Metamorphose des Kosmos. Entwickelung der Planeten-Systeme. Analogie der phylogenetischen Processe auf der Erde und
anderen Planeten. Organische Bewohner anderer Weltkörper.
Periodischer Wechsel der Weltenbildung. II. Fortschritte der Geologie
und Paläontologie. Neptunismus und Vulkanismus.
Kontinuitäts-Lehre. III. Fortschritte der Physik und Chemie. IV.
Fortschritte der Biologie. Zellen-Lehre und Descendenz-Theorie. V.
Anthropologie. Ursprung des Menschen. Allgemeine
Schlußbetrachtung.
Am Ende unserer philosophischen Studien über die
Welträthsel angelangt, dürfen wir getrost zur Beantwortung
der schwerwiegenden Frage schreiten: Wie weit ist uns deren
Lösung gelungen? Welchen Werth besitzen die ungeheuren
Fortschritte, welche das verflossene 19. Jahrhundert in der wahren
Natur-Erkenntniß gemacht hat? Und welche Aussicht
eröffnen sie uns für die Zukunft, für die weitere
Entwickelung unserer Weltanschauung im 20. Jahrhundert, an dessen
Schwelle wir stehen? Jeder unbefangene Denker, der die
thatsächlichen Fortschritte unserer empirischen Kenntnisse und
die einheitliche Klärung unseres philosophischen
Verständnisses derselben einigermaßen übersehen
kann, wird unsere Ansicht theilen: das 19. Jahrhundert hat
größere Fortschritte in der Kenntniß der Natur und im
Verständniß ihres Wesens herbeigeführt als alle
früheren Jahrhunderte; es hat viele große "Welträthsel"
gelöst, die an seinem Beginne für unlösbar galten; es
hat uns neue Gebiete des Wissens und Erkennens entdeckt, von deren
Existenz der Mensch vor hundert Jahren noch keine Ahnung hatte. Vor
Allem aber hat es uns das erhabene Ziel der monistischen
Kosmologie klar vor Augen gestellt und den Weg gezeigt, auf
welchem allein wir uns demselben nähern können, den Weg
der exakten empirischen Erforschung der Thatsachen und der
kritischen genetischen Erkenntniß iherer Ursachen. Das
abstrakte große Gesetz der mechanischen Kausalität,
für welches unser kosmologisches Grundgesetz, das
Substanz-Gesetz, nur ein anderer konkreter Ausdruck ist,
beherrscht jetzt das Universum ebenso wie den Menschengeist; es ist
der sichere unverrückbare Leitstern geworden, dessen klares
Licht uns durch das dunkle Labyrinth der unzähligen einzelnen
Erscheinungen den Pfad zeigt. Um uns davon zu überzeugen,
wollen wir einen flüchtigen Rückblick auf die erstaunlichen
Fortschritte werfen, welche die Hauptzweige der Naturwissenschaft in
diesem denkwürdigen Zeitraum gemacht haben.
I. Fortschritte der Astronomie. Die Himmelskunde ist die
älteste, ebenso wie die Menschenkunde die jüngste
Naturwissenschaft. Ueber sich selbst und sein eigenes Wesen kam der
Mensch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu voller
Klarheit, während er in der Kenntniß des gestirnten Himmels,
der Planeten-Bewegungen u. s. w. schon vor 4500 Jahren erstaunliche
Kenntnisse besaß. Die alten Chinesen, Inder, Egypter und
Chaldäer kannten im fernen Morgenlande schon damals die
sphärische Astronomie genauer als die meisten "gebildeten"
Christen des Abendlandes viertausend Jahre später. Schon im
Jahre 2697 vor Chr. wurde in China eine Sonnenfinsterniß
astronomisch berechnet und 1100 vor Chr. mittelst eines Gnomons die
Schiefe der Ekliptik bestimmt, während Christus selbst (der "Sohn
Gottes!") bekanntlich gar keine astronomischen Kenntnisse besaß,
vielmehr Himmel und Erde, Natur und Mensch von dem
beschränktesten geocentrischen und anthropocentrischen
Standpunkte aus beurtheilte. Als größter Fortschritt der
Astronomie wird allgemein und mit Recht das heliocentrische
Weltsystem des Kopernikus betrachtet, dessen großartiges
Werk: "De revolutionibus orbium coelestium" selbst die
größte Revolution in den Köpfen der Menschen
hervorrieft. Indem er das herrschende geocentrische Weltsystem des
Ptolemäus stürzte, entzog er zugleich der reinen
christlichen Weltanschauung den Boden, welche die Erde als Mittelpunkt
der Welt und den Menschen als gottgleichen Beherrscher der Erde
betrachtete. Es war daher nur folgerichtig, daß der christliche
Klerus, an seiner Spitze der römische Papst die unschätzbare
Entdeckung des Kopernikus auf's heftigste bekämpfte.
Trotzdem brach sie sich bald vollständig Bahn, nachdem
Kepler und Galilei darauf die wahre "Mechanik des
Himmels" gegründet und Newton ihr durch seine
Gravitations-Theorie die unerschütterliche mathematische Basis
gegeben hatte (1686).
Ein weiterer gewaltiger und das ganze Universum umfassender
Fortschritt war die Einführung der Entwickelungs-Idee in
die Himmelskunde; er geschah 1755 durch den jugendlichen
Kant, der in seiner kühnen Allgemeinen Naturgeschichte
und Theorie des Himmels nicht die "Verfassung", sondern auch
den "mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes
nach Newton's Grundsätzen" abzuhandeln unternahm. Durch das
großartige "Système du monde" von
Laplace, der unabhängig von Kant auf dieselben
Vorstellungen von der Weltbildung gekommen war, wurde dann 1766
diese neue "Mécanique céleste" so fest
begründet, daß es scheinen konnte, unserem 19. Jahrhundert
sei auf diesem größten Erkenntniß-Gebiete nichts
wesenlich Neues von gleicher Bedeutung mehr vorbehalten. Und doch
bleibt ihm der Ruhm, auch hier ganz neue Bahnen eröffnet und
unseren Blick in's Universum unendlich erweitert zu haben. Durch die
Erfindung der Photographie und Photometrie, vor Allen aber der
Spektral-Analyse (durch Bunsen und Kirchhoff, 1860)
wurden die Physik und Chemie in die Astronomie eingeführt und
dadurch kosmologische Aufschlüsse von größter
Tragweite gewonnen. Es ergab sich nun mit Sicherheit, daß die
Materie im ganzen Weltall dieselbe ist, und daß deren
physikalische und chemische Eigenschaften auf den fernsten Fixsternen
nicht verschieden sind von denjenigen unserer Erde.
Die monistische Ueberzeugung von der physikalischen und
chemischen Einheit des unendlichen Kosmos, die wir dadurch
gewonnen haben, gehört sicherlich zu den werthvollsten
allgemeinen Erkenntnissen, welche wir der Astrophysik
verdanken, einem neuen, höchst interessanten Zweiger der
Astronomie. Nicht minder wichtig ist die klare, mit Hülfe jener
gewonnene Erkenntniß, daß auch dieselben Gesetze der
mechanischen Entwickelung im unendlichen Universum ebenso
überall herrschen wie auf unserer Erde; eine gewaltige,
allumfassende Metamorphose des Kosmos vollzieht sich ebenso
ununterbrochen in allen Theilen des unendlichen Universums wie in der
geologischen Geschichte unserer Erde; ebenso in der Stammesgeschichte
ihrer Bewohner wie in der Völkergeschichte und im Leben jedes
einzelnen Menschen. In einem Theile des Kosmos erblicken wir mit
unserem vervollkommneten Fernröhren gewaltige Nebelflecke, die
aus glühenden, äußerst dünnen Gasmassen
bestehen; wir deuten dieselben als Keime von Weltkörpern,
die Milliarden von Meilen entfernt und im ersten Stadium der
Entwickelung begriffen sind. Bei einem Theile dieser "Sternkeime" sind
wahrscheinlich die chemischen Elemente noch nicht getrennt, sondern
bei ungeheuer hoher Temperatur (nach vielen Millionen Graden
berechnet!) im Urelement (Prothyl) vereinigt; ja vielleicht
ist hier zum Theil die ursprüngliche "Substanz" noch nicht
in "Masse und Aether" gesondert. In anderen Theilen des
Universums begegnen wir Sternen, die bereits durch Abkühlung
gluthflüssig geworden sind; wir können ihre
Entwickelungsstufe annähernd aus ihrer verschiedenen Farbe
bestimmen. Dann wieder sehen wir Sterne, die von Ringen und Monden
umgeben sind wie unser Saturn; wir erkennen in dem leuchtenden
Nebelring den Keim eines neuen Mondes, der sich vom Mutter-Planeten
ebenso abgelöst hat wie dieser letztere von der Sonne. (Vergl.
Wilhelm Bölsche, Entwickelungsgeschichte der Natur,
1894.)
Von vielen "Fixsteren", deren Licht Jahrtausende braucht, um zu uns zu
gelangen, dürfen wir mit Sicherheit annahmen, daß sie
Sonnen sind, ähnlich denjenigen unseres eigenen
Sonnensystems. Wir dürfen auch weiterhin vermuthen, daß
sich Tausende von diesen Planeten auf einer ähnlichen
Entwickelungsstufe wie unsere Erde befinden, d. h. in einem
Lebensalter, in welchem die Temperatur der Oberfläche zwischen
dem Gefrier- und Siedepunkt des Wassers liegt, also die Existenz
tropfbaren flüssigen Wassers gestattet. Damit ist die
Möglichkeit gegeben, daß der Kohlenstoff auch hier,
wie auf der Erde mit anderen Elementen sehr verwickelte
Verbindungen eingeht, und daß aus seinen stickstoffhaltigen
Verbindungen sich Plasma entwickelt hat, jene wunderbare
"lebendige Substanz", die wir als alleinigen Eigenthümer
des organischen Lebens kennen. Die Moneren (z. B.
Chromaceen und Bakterien), die nur aus solchem
primitiven Protoplasma bestehen, und die durch
Urzeugung (Archigonie) aus jenen anorganischen
Nitrokarbonaten entstanden, können denselben
Entwickelungsgang auf vielen anderen, wie auf unserem eigenen
Planeten eingeschlagen haben; zunächst bildeten sich aus ihrem
homogenen Plasmakörper durch Sonderung eines inneren
Kerns vom äußeren Zellkörper einfachste
lebendige Zellen. Die Analogie im Leben aller Zellen aber -
ebensowohl der plasmodomen Pflanzenzellen wie der
plasmophagen Thierzellen - berechtigt uns zu dem Schlusse,
daß auch die weitere Stammesgeschichte sich auf vielen Sternen
ähnlich wie auf unserer Erde abspielt - immer natürlich die
gleichen engen Grenzen der Temperatur vorausgesetzt, in denen das
Wasser tropfbar-flüssig bleibt; für glühend-flüssige Weltkörper, auf denen das Wasser nur in
Dampfform, und für erstarrte, auf denen es nur in Eisform besteht,
ist organisches Leben in gleicher Weise ganz unmöglich.
Die Aehnlichkeit der Phylogenie, die Analogie der
stammesgeschichtlichen Entwickelung, die wir demnach bei vielen
Sternen auf gleicher biogenetischer Entwickelungs-Stufe annehmen
dürfen, bietet natürlich der konstruktiven Phantasie ein
weites Feld für farbenreiche Spekulationen. Ein Lieblings-Gegenstand derselben ist seit alter Zeit die Frage, ob auch
Menschen oder uns ähnliche, vielleicht höher
entwickelte Organismen auf anderen Sternen wohnen? Unter vielen
Schriften, welche diese offene Frage zu beantworten suchen, haben
neuerdings namentlich diejenigen des Pariser Astronomen Camille
Flammarion eine weite Verbreitung erlangt; sie zeichnen sich ebenso
durch reiche Phantasie und lebendige Darstellung aus, wie durch
bedauerliche Mangel an Kritik und an biologischen Kenntnissen. Soweit
wir gegenwärtig zur Beantwortung dieser Frage befähigt
scheinen, können wir uns etwa Folgendes vorstellen: I. Es ist sehr
wahrscheinlich, daß auf einigen Planeten unseres Systems (Mars
und Venus) und vielen Planeten anderer Sonnen-Systeme der
biogenetische Prozeß sich ähnlich wie auf unserer Erde
abspielt; zuerst entstanden durch Archigonie einfache Moneren und aus
diesen einzellige Protisten (zunächst plasmodome Urpflanzen,
später plasmophage Urthiere). II. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß aus diesen einzelligen Protisten sich im weiteren Verlauf der
Entwickelung zunächst sociale Zellvereie bildeten (Cönobien),
später gewebebildende Pflanzen und Thiere (Metaphyten und
Metazoen). II. Es ist auch fernerhin wahrscheinlich, daß im
Pflanzenreiche zunächst Thallophyten entstanden (Algen und
Pilze), später Diaphyten (Moose und Farne), zuletzt Anthophyten
(gymnosperme und angiosperme Blumenpflanzen). IV Es ist ebenso
wahrscheinlich, daß auch im Thierreiche der biogenetische
Proceß einen ähnlichen Verlauf nahm, daß aus
Blastäaden (Katallakten) sich zunächst Gasträaden
entwickelten, und aus diesen Niederthieren (Cölenterien)
später Oberthiere (Cölomarien). V. Dagegen ist es sehr
fraglich, ob die einzelnen Stämme dieser höheren Thiere
(und ebenso der höheren Pflanzen) einen ähnlichen
Entwickelungsgang auf anderen Planeten durchlaufen wie auf unserer
Erde. IV. Insbesondere ist es ganz unsicher, ob Wirbelthiere auch
außerhalb der Erde existiren, und ob aus deren phyletischer
Metamorphose sich im Laufe von vielen Millionen Jahre ebenso
Säugethiere und an deren Spitze der Mensch entwickelt haben wie
auf unserer Erde; es müßten dann Millionen von
Transformationen sich dort ganz ebenso wie hier wiederholt haben. VII.
Dagegen ist es viel wahrscheinlicher, daß auf anderen Planeten sich
andere Typen von höheren Pflanzen und Thieren entwickelt
haben, die unserer Erde fremd sind, vielleicht auch aus einem
höheren Tierstamme, der den Wirbelthieren an
Bildungsfähigkeit überlegen ist, höhere Wesen, die uns
irdische Menschen an Intelligenz und Denkvermögen weit
übertreffen. VIII. Die Möglichkeit, daß wir Menschen
mit solchen Bewohnern anderer Planeten jemals in direkten Verkehr
treten können, erscheint ausgeschlossen durch die weite
Entfernung unserer Erde von anderen Weltkörpern und die
Abwesenheit der unentbehrlichen atmosphärischen Luft in dem
weiten, nur von Aether erfüllten Zwischenraum.
Während nun viele Sterne sich wahrscheinlich in einem
ähnlichen biogenetischen Entwickelungs-Stadium befinden wie
unsere Erde (seit mindestens hundert Millionen Jahren!), sind andere
schon weiter vorgeschritten und gehen im "planetarischen Greisenalter"
ihrem Ende entgegen, demselben Ende, das auch unseser Erde sicher
bevorsteht. Durch Ausstrahlung der Wärme in den kalten
Weltraum wird die Temperatur allmählich so herabgesetzt,
daß alles tropfbar flüssige Wasser zu Eis erstarrt; damit
hört die Möglichkeit organischen Lebens auf. Zugleich zieht
sich die Masse der rotirenden Weltkörper immer stärker
zusammen; ihre Umlaufsgeschwindigkeit ändert sich langsam. Die
Bahnen der kreisenden Planeten werden immer enger, ebenso
diejenigen der sie umgebenden Monde. Zuletzt stürzen die Monde
in die Planeten und diese in die Sonnen, aus denen sie geboren sind.
Durch diesen Zusammenstoß werden wieder ungeheure
Wärme-Mengen erzeugt. Die zerstäubte Masse der
zerstoßenen kollidirten Weltkörper vertheilt sich frei im
unendlichen Weltraum, und das ewige Spiel der Sonnenbildung beginnt
von Neuem.
Das großartige Bild, welches so vor unseren geistigen Augen die
moderne Astrophysik aufrollt, offenbart uns ein ewiges Entstehen und
Vergehen der unzähligen Weltkörper, einen periodischen
Wechsel der verschiedenen kosmogenetischen Zustände, welche
wir im Universum neben einander beobachten. Während an einem
Orte des unendlichen Weltraums aus einem diffusen Nebelfleck ein
neuer Weltkeim sich entwickelt, hat ein anderer an einem weit
entfernten Orte sich bereits zu einem rotirenden Balle von
gluthflüssiger Materie verdichtet; ein dritter hat bereits an seinem
Äquator Ringe abgeschleudert, die sich zu Planeten ballen; ein
vierter ist schon zur mächtigen Sonne geworden, deren Planeten
sich mit sekundären Trabanten umgeben haben, den Monden u. s.
w. u. s. w. Und dazwischen treiben sich im Weltraum Milliarden von
kleineren Weltkörpern umher, von Meteoriten und
Sternschnuppen, die als scheinbar gesetzlose Vagabunden die Bahn der
größeren kreuzen, und von denen täglich ein
großer Theil in die letzteren hineinstürzt. Dabei ändern
sich beständig langsam die Umlaufs-Zeiten und die Bahnen der
jagenden Weltkörper. Die erkalteten Monde stürzen in ihre
Planeten, wie diese in ihre Sonnen. Zwei entfernte Sonnen, vielleicht
schon erstarrt, stoßen mit ungeheurer Kraft auf einander und
zerstäuben in nebelartige Massen. Dabei entwickeln sie so
kolossale Wärmemengen, daß der Nebelfleck wieder
glühend wird, und nun wiederholt sich das alte Spiel von Neuem.
In diesem Perpetuum mobile bleibt aber die unendliche Substanz
des Universum, die Summe ihrer Materie und Energie ewig
unverändert, und ewig wiederholt sich in der unendlichen Zeit der
periodische Wechsel der Weltbildung, die in sich selbst
zurücklaufende Metamorphose des Kosmos. Allgewaltig
herrscht das Substanz-Gesetz.
II. Fortschritte der Geologie. Viel später als der Himmel
wurde die Erde und ihre Entstehung Gegenstand wissenschaftlicher
Forschung. Die zahlreichen Kosmogenien alter und neuer Zeit wollten
zwar über die Entstehung der Erde ebensogut Auskunft geben wie
über diejenige des Himmels; allein das mythologische Gewand, in
welches sie sich sämmtlich hüllten, verrieht sofort ihren
Ursprung aus der dichtenden Phantasie. Unter all den zahlreichen
Schöpfungssagen, von denen uns die Religions- und Kultur-Geschichte Kunde giebt, gewann eine einzige bald allen übrigen
den Rang ab, die Schöpfungsgeschichte des Moses, wie sie
im ersten Buche des Pentateuch (Genesis) erzählt wird. Sie
entstand nach dem Tode des Moses (wahrscheinlich erst 800 Jahre
später); ihre Quellen sind aber größtentheils viel
älter und auf assyrische, babylonische und indische Sagen
zurückzuführen. Den größten Einfluß
gewann diese jüdische Schöpfungssage dadurch, daß sie
in das christliche Glaubensbekenntniß hinübergenommen
und als "Wort Gottes" geheiligt wurde. Zwar hatten schon 500 Jahre vor
Christus die griechischen Naturphilosophen die natürliche
Entstehung der Erde auf dieselbe Weise wie die der anderen
Weltkörper erklärt. Auch hatte schon damals
Xenophanes von Kolophon die Versteinerungen, die
später so große Bedeutungen erlangten, in ihrer wahren
Natur erkannt; der große Maler Leonardo da Vinci hatte im
15. Jahrhundert ebenfalls diese Petrefakten für die fossilen
Ueberreste von Thieren erklärt, die in früheren Zeiten der
Erdgeschichte gelebt hatten. Allein die Autorität der Bibel,
insbesondere der Mythus von der Sündfluth, verhinderte jeden
weiteren Fortschritt der wahren Erkenntniß und sorgte
dafür, daß die mosaischen Schöpfungssagen noch bis in
die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Geltung blieben. In den
Kreisen der orthodoxen Theologen besitzen sie dieselbe noch bis auf den
heutigen Tag. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
begannen unabhängig davon wissenschaftliche Forschungen
über den Bau der Erdrinde, und wurden daraus Schlüsse auf
ihre Entstehung abgeleitet. Der Begründer der Geognosie,
Werner in Freiburg, ließ alle Gesteine aus dem Wasser
entstehen, während Voigt und Hutton (1788) richtig
erkannten, daß nur die sedimentären, Petrefakten
führenden Gesteine diesen Ursprung haben, die vulkanischen und
plutonischen Gebirgsmassen dagegen durch Erstarrung
feurigflüssiger Massen entstanden sind.
Der heftige Kampf, welcher zwichen jener neptunistischen und
dieser plutonistischen Schule entstand, dauerte noch
während der ersten drei Decennien des 19. Jahrhunderts fort; er
wurde erst geschlichtet, nachdem Karl Hoff (1822) das Princip
des Aktualismus begründet und Charles Lyell dasselbe mit
größtem Erfolge für die ganze natürliche
Entwickelung der Erde durchgeführt hatte. Durch seine "Principien
der Geologie" (1830) wurde die überaus wichtige Lehre von der
Kontinuität der Erdumbildung endgültig zur
Anerkennung gebracht, gegenüber der Katastrophentheorie von
Cuvier. Die Paläontologie, welche der Letztere durch
sein Werk über die fossilen Knochen (1812) begründet
hatte, wurde nun bald zur wichtigsten Hülfswissenschaft der
Geologie, und schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich
dieselbe so weit entwickelt, daß die Haupt-Perioden in der
Geschichte der Erde und ihrer Bewohner festgelegt waren. Die
dünne Rindenschicht der Erde war nun mit Sicherheit als die
Erstarrungs-Kruste des feurigflüssigen Planeten erkannt, dessen
langsame Abkühlung und Zusammenziehung sich ununterbrochen
fortsetzt. Die Faltung der erstarrenden Rinde, die "Reaktion des feurig-flüssigen Erdinnern gegen die erkaltete Oberfläche", und vor
Allem die ununterbrochene geologische Thätigkeit des Wassers
sind die natürlich wirkenden Ursachen, welche tagtäglich an
der langsamen Umbildung der Erdrinde und ihrer Gebirge arbeiten.
Drei überaus wichtige Ereignisse von allgemeiner Bedeutung
verdanken wir den glänzenden Fortschritten der Erdgeschichte.
Erstens wurden damit aus der Erdgeschichte alle Wunder
ausgeschlosen, alle übernatürlichen Ursachen beim Aufbau
der Gebirge und der Umbildung der Kontinente. Zweitens wurde unser
Begriff von der Länge der unheuren Zeiträume, die seit
deren Bildung verflossen sind, erstaunlich erweitert. Wir wissen jetzt,
daß die ungeheuren Gebirgsmassen der paläozoischen,
mesozoischen und cänozoischen Formationen nicht viele
Jahrtausende, sondern viele Jahrmillionen (weit über hundert!) zu
ihrem Aufbau brauchten. Drittens wissen wir jetzt, daß alle die
zahlreichen, in diesen Formationen eingeschlossenen
Versteinerungen nicht wunderbare "Naturspiele" sind, wie man
noch vor 150 Jahren glaubte, sondern die versteinerten Ueberreste von
Organismen, welche in früheren Perioden der Erdgeschichte
wirklich lebten, und welche durch langsame Umwandlung aus
vorhergegangenen Ahnenreihen entstanden sind.
III. Fortschritte der Physik und Chemie. Die zahllosen,
wichtigen Entdeckungen, welche diese fundamentalen Wissenschaften
im 19. Jahrhundert gemacht haben, sind so allbekannt, und ihre
praktische Anwendung in allen Zweigen des menschlichen Kulturlebens
liegt so klar vor Aller Augen, daß wir hier nicht Einzelnes
hervorzuheben brauchen. Allen voran hat die Anwendung der
Dampfkraft und Elektrizität dem 19. Jahrhundert den
charakteristischen "Maschinen-Stempel" aufgedrückt. Aber nicht
minder werthvoll sind die kolossalen Fortschritte der anorganischen und
organischen Chemie. Alle Gebiete unserer modernen Kultur, Medicin und
Technologie, Industrie und Landwirthschaft, Bergbau und
Forstwirthschaft, Landtransport und Wasserverkehr, sind bekanntlich
im Laufe des 19. Jahrhunderts - und besonders in dessen zweiter
Hälfte - dadurch so gefördert worden, daß unsere
Großväter aus dem 18. Jahrhundert sich in dieser fremden
Welt nicht auskennen würden. Aber werthvoller und
tiefgreifender noch ist die ungeheure theoretische Erweiterung unserer
Natur-Erkenntniß, welche wir der Begründung des
Substanz-Gesetzes verdanken. Nachdem Lavoisier (1789)
das Gesetz von der Erhaltung der Materie aufgestellt und Dalton
(1808) mittelst desselben die Atom-Theorie neu begründet hatte,
war der modernen Chemie die Bahn eröffnet, auf der sie in
rapidem Siegeslauf eine früher nicht geahnte Bedeutung gewann.
Dasselbe gilt für die Physik betreffend das Gesetz von der
Erhaltung der Energie. Die Entdeckung desselben durch Robert
Mayer (1842) und Hermann Helmholtz (1847) bedeutet auch
für diese Wissenschaft eine neue Periode fruchtbarster
Entwickelung; denn nun erst war die Physik im Stande, die
universelle Einheit der Naturkräfte zu begreifen und das
ewige Spiel der unzähligen Naturprozesse, bei welchen in jedem
Augenblick eine Kraft in die andere umgesetzt werden kann.
IV. Fortschritte der Biologie. Die großartigen und
für unsere ganze Weltanschauung bedeutsamen Entdeckungen,
welche die Astronomie und Geologie im 19. Jahrhundert
gemacht haben, werden noch weit übertroffen von denjenigen der
Biologie; ja wir dürfen sagen, daß von den zahlreichen
Zweigen, in welchen diese umfassende Wissenschaft vom organischen
Leben sich neuerdings entfaltet hat, der größere Theil
überhaupt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Wie
wir im ersten Abschnitte gesehen haben, sind innerhalb desselben alle
Zweige der Anatomie und Physiologie, der Botanik und Zoologie,
Ontogenie und Phylogenie, durch unzählige Entdeckungen und
Erfindungen so sehr bereichert worden, daß der heutige Zustand
unseres biologischen Wissens denjenigen vor hundert Jahren um das
Vielfache übertrifft. Das gilt zunächst quantitativ von
dem kolossalen Wachsthum unseres positiven Wissens auf allen jenen
Gebieten und ihren einzelnen Theilen. Es gilt aber ebenso und noch
mehr qualitativ von der Vertiefung unseres Verständnisses
der biologischen Erscheinungen, von unserer Erkenntniß ihrer
bewirkenden Ursachen. Hier hat vor allen Anderen Charles
Darwin (1859) die Palme des Sieges errungen; er hat durch seine
Selektions-Theorie das große Welträthsel von der
"organischen Schöpfung" gelöst, von der natürlichen
Entstehung der unzähligen Lebensformen durch allmähliche
Umbildung. Zwar hatte schon fünfzig Jahre früher der
große Lamarck (1809) erkannt, daß der Weg dieser
Transformation auf der Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung
beruhe; allein es fehlte ihm damals noch das Selektions-Princip, und es
fehlte ihm vor Allem die tiefe Einsicht in das wahre Wesen der
Organisation, welche erst später durch die Begründung der
Entwickelungsgeschichte und der Zellentheorie gewonnen wurde. Indem
wir allgemein die Ergebnisse dieser und anderer Disciplinen
zusammenfassen und in der Stammesgeschichte der Organismen den
Schlüssel zu ihrem einheitlichen Verständniß fanden,
gelangten wir zur Begründung jener monistischen Biologie,
deren Principien ich (1866) in meiner "Generellen Morphologie"
festzulegen versucht habe. (Vergl. meine "Natürliche
Schöpfungsgeschichte", X. Aufl. 1902, und Carus Sterne:
"Werden und Vergehen", IV. Aufl. 1900).
V. Fortschritte der Anthropologie. Allen anderen
Wissenschaften voran steht in gewissem Sinne die wahre
Menschenkunde, die wirklich vernünftige Anthropologie.
Das Wort des alten Weisen: "Mensch, erkenne dich selbst"
(Homo, nosce to ipsum) und das andere berühmte Wort:
"Der Mensch ist das Maß aller Dinge" sind ja von Alters her
anerkannt und angewendet. Und dennoch hat diese Wissenschaft - im
weitesten Sinne genommen - länger als alle anderen in den Ketten
der Tradition und des Aberglaubens geschmachtet. Wir haben im ersten
Abschnitt gesehen, wie langsam und spät sich erst die
Kenntniß vom menschlichen Organismus entwickelt hat. Einer ihrer
wichtigsten Zweige, die Keimesgeschichte, wurde erst 1828 (durch
Baer) und ein anderer, nicht minder wichtiger, die Zellenlehre,
erst 1838 (durch Schwann) sicher begründet. Noch
später aber wurde die "Frage aller Fragen" gelöst, das
gewaltige Räthsel vom "Ursprung des Menschen". Obgleich
Lamarck schon (1809) den einzigen Weg zur richtigen
Lösung desselben gezeigt und "die Abstammung des Menschen
vom Affen" behauptet hatte, gelang es doch Darwin erst
fünfzig Jahre später, diese Behauptung sicher zu
begründen, und erst 1863 stellte Huxley in seinen
"Zeugnisssen für die Stellung des Menschen in der Natur" die
gewichtigsten Beweise dafür zusammen. Ich selbst habe sodann in
meiner Anthropogenie (1874) den ersten Versuch gemacht, die ganze
Reihe der Ahnen, durch welche sich unser Geschlecht im Laufe vieler
Jahrmillionen aus dem Thierreich langsam entwickelt hat, im
historischen Zusammenhang darzustellen.
______
Schlußbetrachtung
Die Zahl der Welträthsel hat sich durch die angeführten
Fortschritte der wahren Natur-Erkenntniß im Laufe des
neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf
ein einziges allumfassendes Universal-Räthsel
zurückgeführt, auf das Substanz-Problem. Was ist
denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder,
welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum
verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder
Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott?
Können wir heute behaupten, daß die wunderbaren
Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses "Substanz-Räthsel" gelöst oder auch nur, daß sie uns dessen
Lösung sehr viel näher gebracht haben?
Die Antwort auf diese Schlußfrage fällt natürlich sehr
verschieden aus, entsprechend dem Standpunkte des fragenden
Philosophen und seiner empirischen Kenntniß der wirklichen Welt.
Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innersten Wesen der
Natur heute vielleicht noch ebenso fremd und verständnißlos
gegenüberstehen, wie Anaximander und Empedokles
vor 2400 Jahren, wie Spinoza und Newton for 200 Jahren,
wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja wir müssen
sogar eingestehen, daß uns dieses eigentliche Wesen der Substanz
immer wunderbarer und räthselhafter wird, je tiefer wir in die
Erkenntniß ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je
gründlicher wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und
deren Entwickelung kennen lernen. Was als "Ding an sich" hinter
den erkennbaren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch
nicht. Aber was geht uns dieses mystische "Ding an sich"
überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung
besitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existirt oder nicht?
Ueberlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über
dieses ideale Gespenst den "reinen Metaphysikern" und erfreuen wir
uns statt dessen als "echte Physiker" an den gewaltigen realen
Fortschritten, welche unsere monistische Natur-Philosophie
thatsächlich errungen hat.
Da überragt alle anderen Fortschritte und Entdeckungen des
verflossenen "großen Jahrhunderts" das gewaltige, allumfassende
Substanz-Gesetz, das "Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft
und des Stoffes". Die Thatsache daß die Substanz überall
einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen ist, stempelt
dasselbe zugleich zum universalen Entwickelungs-Gesetz. Indem
dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm
untergeordnet wurden, gelangten wir zur Ueberzeugung von der
universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der
Naturgesetze. Aus dem dunklen Substanz-Problem entwickelte
sich das klare Substanz-Gesetz. Der Monismus des Kosmos, den
wir darauf begründen, lehrt uns die ausnahmslose Geltung der
"ewigen, ehernen, großen Gesetze" im ganzen Universum. Damit
zertrümmert derselbe aber zugleich die drei großen Central-Dogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den
persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit
des Willens.
Viele von uns sehen gewiß mit lebhaftem Bedauern oder selbst mit
tiefem Schmerze dem Untergange der Götter zu, welche unsern
theuern Eltern und Voreltern als höchste geistige Güter
galten. Wir trösten uns aber mit dem Worte des Dichters:
"Das Alte stürzte, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen!"
Die alte Weltanschauung des Ideal-Dualismus mit ihren
mystischen und anthropistischen Dogmen versinkt in Trümmer;
aber über diesem gewaltigen Trümmerfelde steigt hehr und
herrlich die neue Sonne unseres Real-Monismus auf, welche uns
den wundervollen Tempel der Natur voll erschließt. In dem reinen
Kultus des "Wahren, Guten und Schönen", welcher der Kern
unserer neuen monistischen Religion bildet, finden wir reichen
Ersatz für die verlorenen anthropistischen Ideale von "Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit".
In der vorliegenden Behandlung der Welträthsel habe ich meinen
konsequenten monistischen Standpunkt scharf betont und den
Gegensatz zu der dualistischen, heute noch herrschenden
Weltanschauung klar hervorgehoben. Ich stütze mich dabei auf
die Zustimmung von fast allen modernen Naturforschern, welche
überhaupt Neigung und Muth zum Bekenntniß einer
abgerundeten philosophischen Ueberzeugung besitzen. Ich möchte
aber von meinen Lesern nicht Abschied nehmen, ohne versöhnlich
darauf hinzuweisen, daß dieser schroffe Gegensatz bei
konsequentem und klarem Denken sich bis zu einem gewissen Grade
mildert, ja selbst bis zu einer erfreulichen Harmonie gelöst werden
kann. Bei völlig folgerichtigem Denken, bei
gleichmäßiger Anwendung der höchsten Principien auf
das Gesamtgebiet des Kosmos - der organischen und
anorganischen Natur -, nähern sich die Gegensätze des
Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und Mechanismus bis zur
Berührung. Aber freilich, konsequentes Denken bleibt eine seltene
Natur-Erscheinung! Die große Mehrzahl aller Philosophen
möchte mit der rechten Hand das reine, auf Erfahrung
begründete Wissen ergreifen, kann aber gleichzeitig nicht
den mystischen, auf Offenbarung gestützten Glauben
entbehren, den sie mit der linken Hand festhält. Charakteristisch
für diesen widerspruchsvollen Dualismus bleibt der Konflikt
zwischen der reinen und der praktischen Vernunft in der kritischen
Philosophie des höchstgestellten neueren Denkers, des
großen Immanuel Kant.
Dagegen ist immer die Zahl derjenigen Denker klein gewesen, welche
diesen Dualismus tapfer überwanden und sich dem reinen
Monismus zuwendeten. Das gilt ebensowohl für die konsequenten
Idealisten und Theisten, wie für die folgerichtig denkenden
Realisten und Pantheisten. Die Verschmelzung der anscheinenden
Gegensätze, und damit der Fortschritt zur Lösung des
fundamentalen Welträthsels, wird uns aber durch das stetig
zunehmende Wachsthum der Natur-Erkenntniß mit jedem Jahre
näher gelegt. So dürfen wir uns denn der frohen Hoffnung
hingeben, daß das anbrechende zwanzigste Jahrhundert
immer mehr jene Gegensätze ausgleichen und durch Ausbildung
des reinen Monismus die ersehnte Einheit der Weltanschauung in
weiten Kreisen verbreiten wird. Unser größter Dichter und
Denker, dessen 150. Geburtstag wir 1899 begingen, Wolfgang
Goethe, hat dieser Einheits-Philosophie schon im Anfange des
neunzehnten Jahrhunderts den vollendeten poetischen Ausdruck
gegeben in seinen unsterblichen Dichtungen: Faust, Prometheus, Gott
und Welt!
"Nach ewigen, ehernen
Großen Gesetzen
Müssen wir Alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden."
___________
Stellung der Psychologie im System der biologischen
Wissenschaften.
Biologie
Organismen-Kunde
(Anthropologie, Zoologie und Botanik)
|
---|
Morphologie
Formenlehre
| Biogenie
Entwickelungsgeschichte
| Anatomie
Organlehre
| Histologie
Gewebelehre
| Ontogenie
Keimesgeschichte
| Phylogenie
Stammesgeschichte
| Physiologie
Funktionslehre
|
|
Anmerkungen und Erläuterungen
______
1) Kosmologische Perspektive (S. 11). Der geringe Spielraum,
welchen unser menschliches Vorstellungsvermögen uns bei
Beurtheilung großer Dimensionen in Raum und Zeit gestattet, ist
ebenso eine reiche Fehlerquelle von anthropistischen Illusionen wie ein
mächtiges Hinderniß der geläuterten monistischen
Weltanschauung. Um sich der unendlichen Weltdehnung des
Raumes bewußt zu werden, muß man einerseits
bedenken, daß die kleinsten sichtbaren Organismen (Bakerien)
riesengroß sind gegenüber den unsichtbaren Atomen und
Molekeln, welche weit jenseits der Sichtbarheit auch bei Anwendung
der stärksten Mikroskope liegen; andererseits muß man die
unbegrenzten Dimensionen des Weltraumes erwägen, in welchem
unser Sonnen-System nur den Werth eines einzelnen Fixsternes hat und
unsere Erde nur einen winzigen Planeten der mächtigen Sonne
darstellt. - In entsprechender Weise werden wir uns der unendlichen
Ausdehnung der Zeit bewußt, wenn wir uns einerseits an
die physikalischen und physiologischen Bewegungen erinnern, die
innerhalb einer Sekunde sich abspielen, and andererseits an die
ungeheuere Länge der Zeiträume, welche die Entwickelung
der Weltkörper in Anspruch nimmt. Selbst der
verhältnißmäßig kurze Zeitraum der
"organischen Erdgeschichte" (innerhalb deren das organische
Leben auf userem Erdball sich entwickelt hat) umfaßt nach
neueren Berechnungen weit über hundert Millionen Jahre, d. h.
mehr als 100 000 Jahrtausende!
Allerdings lassen die geologischen und paläontologischen
Thatsachen, auf welche sich diese Berechnungen gründen, nur
sehr unsichere und schwankende Zahlen-Angaben zu. Während
wohl die meisten sachkundigen Autoritäten gegenwärtig
für die Länge der organischen Erdgeschichtee 100-200
Millionen Jahre annehmen, beläuft sich dieselbe nach anderen
Schätzungen nur auf 25-50 Millionen; nach einer genauen
geologischen Berechnung der neuesten Zeit auf mindestens
vierzehnhundert Jahrmillionen. Vergl. meinen Cambridge-Vortrag
über den Ursprung des Menschen, 1898, S. 51: "Wenn wir aber
auch ganz außer Stande sind, die absolute Länge der
phylogenetischen Zeiträume annähernd sicher zu
bestimmen, so besitzen wir dagegen andererseits sehr wohl die Mittel,
die relative Länge derselben ungefähr
abzuschätzen. Nehmen wir hundert Millionen Jahre als Minimal-Zahlen, so würden sich dieselben auf die fünf Hauptperioden
der organischen Geschichte etwa folgendermaßen vertheilen:
- Archozoische Periode (Primordial-Zeit), vom Beginn des
organischen Lebens bis zum Ende der kambrischen Schichtenbildung;
Zeitalter der Schädellosen. - 52 Millionen,
- Paläozoische Periode (Primär-Zeit), vom Beginn
der silurischen bis zum Ende der permischen Schichtenbildung; Zeitalter
der Fische. - 34 Millionen,
- Mesozoische Periode (Sekundär-Zeit), vom Beginn der
Trias-Periode bis zum Ende der Kreide Periode; Zeitalter der Reptilien. -
11 Millionen,
- Cänozoische Periode (Tertiär-Zeit), vom Beginn
der eocänen bis zum Ende der pliocänen Periode; Zeitalter
der Säugethiere. - 3 Millionen,
- Anthropozoische Periode (Quartär-Zeit), vom Beginn der
Diluvial-Zeit (in welchen wahrscheinlich die Entwickelung der
menschlichen Sprache fällt) bis zur Gegenwart; Zeitalter des
Menschen, mindestens 100 000 Jahre = 0,1 Million.
Um die ungeheuere Länge dieser phylogenetischen
Zeiträume dem menschlichen Auffassungs-Vermögen
näher zu bringen und namentlich die relative Kürze der
sogenannten "Weltgeschichte" (d. h. der Geschichte der
Kulturvölker!) zum Bewußtsein zu bringen, hat kürzlich
einer meiner Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), die
angenommene Minimal-Zahl von hundert Jahr-Millionen durch
chronometrische Reduktion auf einen Tag projicirt. Durch
diese "verjüngende Projektion" vertheilen sich die 24 Stunden des
"Schöpfungs-Tages" folgendermaßen auf die fünf
phylogenetishen Perioden;
- Archozoische Periode (52 Jahrmillionen) = 12 St. 30 Min. (=
von Mitternacht bis 1/2 1 Uhr Mittags).
- Paläozoische Periode (34 Jahrmillionen) = 8 St. 5 Min.
(von 1/2 1 Uhr Mittags bis 1/2 9 Uhr Abends).
- Mesozoische Periode (11 Jahrmillionen) = 2 St. 38 Min. (von
1/2 9 Uhr bis 1/4 12 Uhr Abends).
- Cänozoische Periode (3 Jahrmillionen) = 43 Min. (von
1/4 12 Uhr Abends bis 2 Min. vor Mitternacht).
- Anthropozoische Periode (0,1-0,2 Jahrmillionen) = 2 Min.
- Kultur-Periode, sogenannte "Weltgeschichte" (6000 Jahre) = 5
Sek.
Wenn man also nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nicht die
Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organischen
Entwickelung auf unserem Erdball annimmt und diese auf 24 Stunden
projicirt, so beträgt davon die sogenannte "Weltgeschichte"
nur fünf Sekunden (Prometheus, Jahrg. X, 1899, {Nr.
492, S. 381}).
2) Neovitalismus (S. 22). Nachdem die mystische Lehre von
der übernatürlichen "Lebenskraft" durch den
Darwinismus ihren Todesstoß erhalten hatte und bereits vor
zwanzig Jahren glücklich überwunden schien, ist dieselbe
neuerdings wieder aufgelebt und hat sogar im letzten Decennium
zahlreiche Anhänger wieder gewonnen. Der Physiologie
Bunge, der Pathologie Rindfleisch, der Botaniker
Reinke u. A. haben den wiedererstandenen Wunderglauben an
die immaterielle und intellektuelle Lebenskraft mit großem Erfolg
vertheidigt. Den größten Eifer haben dabei einige meiner
früheren Schüler bewiesen. Diese "modernsten"
Naturforscher sind zu der Ueberzeugung gelangt, daß die
Entwickelungslehre und insbesondere der Darwinismus eine haltlose
Irrlehre ist, und daß "Geschichte überhaupt keine
Wissenschaft" ist. Einer derselben hat sogar die Diagnose gestellt,
daß "alle Darwinisten an Gehirnerweichung leiden". Da nun
trotz des Neovitalismus die große Mehrzahl der modernen
Naturforscher (wohl mehr als neun Zehntel!) in der Entwickelungslehre
den größten Fortschritt der Biologie in unserem Jahrhundert
erblickt, wird man wohl diese bedauerliche Thatsache durch eine
furchtbare cerebrale Epidemie erklären müssen. Alle diese
albernen Verdammungsurtheile von Seiten unklarer und einseitig
gebildeter Specialisten schaden unserer modernen Entwickelungslehre
und Geschichtswissenschaft ebenso wenig die die Bannflüche des
Papstes.
Der Neovitalismus wird in seiner ganzen Dürftigkeit und
Haltlosigkeit klar, wenn man ihn den Thatsachen der Geschichte
in der ganzen organischen Welt gegenüberstellt. Diese historischen
Thatsachen der "Entwickelungsgeschichte" im weitesten Sinne, die
Fundamente der Geologie, der Paläontologie, der Ontogenie u. s. w.
sind in ihrem natürlichen Zusammenhang nur durch
unseres monistische Entwickelungslehre erklärbar, und
diese verträgt sich weder mit dem alten noch mit dem neuen
Vitalismus. Daß gerade jetzt der letztere an Ausdehnung gewinnt,
erklärt sich zum Theil auch aus der bedauerlichen Thatsache der
allgemeinen Reaktion im geistigen und politischen Leben, welche
das letzte Decennium des neunzehnten Jahrhunderts vor demjenigen des
achtzehnten in höchst unvorteilhafter Weise auszeichnet. In
Deutschland insbesondere hat der sogenannte "neue Kurs"
höchst depravirende byzantinische Zustände nicht nur im
politischen und kirchlichen Leben, sondern auch in Kunst und
Wissenschaft hervorgerufen. Indessen bedeutet diese moderne Reaktion
im Großen und Ganzen doch nur eine vorübergehende
Episode.
3) Teleologie von Kant (S. 105). Durch die erstaunlichen
Fortschritte der modernen Biologie ist die teleologische
Naturerklärung von Kant vollkommen widerlegt
worden. Die Physiologie hat inzwischen den Beweis geführt,
daß alle Lebenserscheinungen auf chemische und physikalische
Processe zurückzuführen sind, und daß es zu ihrer
Erklärung weder eines persönlichen Schöpfers
als Werkmeister noch einer räthselhaften, zweckmäßig
bauenden Lebenskraft bedarf. Die Zellentheorie hat uns gezeigt,
daß alle verwickelten Lebensthätigkeiten der höheren
Thiere und Pflanzen von den einfachen physikalisch-chemischen
Vorgängen im Elementar-Organismus der mikroskopischen
Zellen abzuleiten sind, und daß die matierelle Grundlage
derselben das Plasma des Zellenleibes ist. Das gilt ebenso von den
Erscheinungen des Wachsthums und der Ernährung wie von
denjenigen der Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung. Das
biogenetische Grundgesetz lehrt uns, daß die räthselhaften
Erscheinungen der Keimesgeschichte (die Entwickelung der Embryonen
wie die Verwandelung der Jugendformen) auf Vererbung von
entsprechenden Vorgängen in der Stammesgeschichte der Ahnen
beruhen. Die Descendenz-Theorie aber hat das Räthsel
gelöst, wie die Vorgänge in dieser Stammesgeschichte, die
physiologischen Thätigkeiten der Vererbung und Anpassung, im
Laufe langer Zeiträume einen beständigen Wechsel der
Artformen, eine langsame Transformation der Species bedingen.
Die Selektions-Theorie endlich führt den klaren Nachweis,
wie bei diesen phylogenetischen Vorgängen die
zweckmäßigsten Einrichtungen entstehen. Darwin hat
damit ein mechanisches Erklärungs-Princip der organischen
Zweckmäßigkeit zur Geltung gebracht, welches schon vor
mehr als 2000 Jahren Empedokles geahnt hatte; er ist damit der
"Newton der organischen Natur" geworden, dessen
Möglichkeit Kant entschieden bestritten hatte.
Diese historischen Verhältnisse, die ich schon vor 30 Jahren (im
fünften Kapitel der Natürlichen Schöpfungsgeschichte)
hervorgehoben hatte, sind so interessant und wichtig, daß ich sie
hier nochmals betonen wollte. Es erscheint dies nicht nur deshalb
angemessen, weil die moderne Philosophie mit besonderem Nachdruck
den "Rückgang auf Kant" verlangt, sondern auch weil
daraus hervorgeht, daß selbst die größten Metaphysiker
blind in schwere Irrthümer bei Beurtheilung der wichtigsten
Fragen verfallen können. Kant, der nüchterne und
klare Begründer der "kritischen Philosophie", erklärt mit
größter Bestimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung
für "ungereimt", welche schon 70 Jahre später von
Darwin thatsächlich gemacht wurde, und er spricht dem
Menschengeiste für alle Zeit eine bedeutungsvolle Einsicht ab,
welche derselbe durch die Selektions-Theorie des Letzteren
thatsächlich erlangte. Man sieht, wie gefährlich das
kategorische "Ignorabimus" ist!
Angesichts der übertriebenen Verehrung, welche Kant in
der neueren Deutschen Philosophie gezollt wird, und welche bei vielen
"Neu-Kantianern" in eine unbedingte, abgöttische Anbetung
übergeht, wird es uns gestattet sein, hier die menschlichen
Unvollkommenheiten des großen Königsbergers Philosophen
zu beleuchten und verhängnißvollen Schwächen seiner
"kritischen" Weltweisheit. Seine dualistische, mit den Jahren immer
zunehmende Richtung zur transcendentalen Metaphysik war bei
Kant schon durch die mangelhafte und einseitige Vorbildung auf
der Schule und der Universität bedingt. Seine dort erlangte
akademische Bildung war überwiegend philologisch,
theologisch und mathematisch; von den
Naturwissenschaften lernte er nur Astronomie und Physik
gründlich kennen, zum Theil auch Chemie und Mineralogie.
Dagegen blieb ihm das weite Gebiet der Biologie, selbst in dem
bescheidenen Umfange der damaligen Zeit, größtentheils
unbekannt. Von den organischen Naturwissenschaften hat er weder
Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Physiologie studiert; daher
blieb auch seine Anthropologie, mit der er sich lange Zeit
beschäftigte, höchst unvollkommen. Hätte Kant
statt Philologie und Theologie mehrere Jahre Medizin studiert,
hätte er sich in den Vorlesungen Anatomie und Physiologie eine
gründliche Kenntniß des menschlichen Organismus, in
dem Besuche der Kliniken eine lebendige Abbildung von dessen
pathologischen Veränderungen angeeignet, so würde nicht
nur die Anthropologie, sondern die gesammte Weltanschauung
des "kritischen" Philosophen eine ganz andere Form gewonnen haben.
Kant würde sich dann nicht so leichten Herzens über
die wichtigsten, schon damals bekannten biologischen Thatsachen
hinweggesetzt haben, wie es in seinen späteren Schriften (seit
1769) geschah.
Nach Vollendung seiner Universtäts-Studien mußte
Kant sich neun Jahre hindurch sein Brod als Hauslehrer
verdienen, vom 22.-31. Lebensjahre, also gerade in jener wichtigsten
Periode des Jünglings-Lebens, in welcher nach aufgenommener
akademischer Bildung die selbstständige Entwickelung des
persönlichen und wissenschaftlichen Charakters für das
ganze folgende Leben sich entscheidet. Hätte Kant, der den
größten Theil seines Lebens in Königsberg fest saß
und niemals die Grenzen der Provinz Preußen überschritt,
damals größere Reisen ausgeführt, hätte er
seinem lebhaften geographischen und anthropologischen Interesse
durch reale Anschauungen lebendige Nahrung zugeführt, so
würde diese Erweiterung seines Gesichtskreises auf die Gestaltung
seiner idealen Weltanschauung sicher in höchst wohlthätiger
Weise eingewirkt haben. Auch der Umstand, daß Kant
niemals verheirathet war, kann bei ihm wie bei anderen
philosophierenden Junggesellen als Entschuldigung für
mangelhafte und einseitige Bildung angesehen werden. Denn der
weibliche und der männliche Mensch sind zwei wesentlich
verschiedene Organismen, die erst in ihrer gegenseitigen
Ergänzung das volle Bild des normalen Gattungs-Begriffs "Mensch"
ausgestalten.
4) Kritik der Evangelien (S. 125). S. E. Verus, Vergleichende
Uebersicht (Vollständige Synopsis) der vier Evangelien in
unverkürztem Wortlaut. Leipzig 1897. Schlußwort:
"Jede Schrift muß aus dem Geist ihrer Zeit verstanden und
beurtheilt werden. Die "Evangelien"-Dichtungen entstammen
einer ganz unwissenschaftlichen Zeit und Kreisen voll rohen
Aberglaubens; sie sind für ihre Zeit, nicht für die
gegenwärtige oder gar für "alle Zeiten" geschrieben worden,
aber auch nicht als Geschichtsbücher, sondern als
Erbauungschriften, zum Theil als kirchliche Streitschriften. Nur das
Interesse der Kirche, ihrer Priesterschaft und der mit ihnen
verbundenen gesellschaftlichen Einrichtungen verlangte es, den
Ursprung jener Schriften auf "Apostel" (Matthäus, Johannes) oder
"Apostelschüler" (Markus, Lukas) zurückzuführen, und
reicht allein schon hin, auf ganz einfache natürliche Weise ihr
Jahrhunderte lang fortbestehendes Ansehen zu erklären, das man
gern auf übernatürliche Einflüsse
zurückzuführen pflegt.
"Die ursprüngliche Form dieser Dichtungen hat in den ersten
Jahrhunderten mannigfache Veränderungen erlitten und ist
gegenwärtig nicht mehr festzustellen. Die Sammlung der Schriften
des Neuen Testaments hat sich nur sehr langsam gebildet, und
über ihre Anerkennung ist zum Theil erst nach Jahrhunderten ein
Einverständniß erzielt worde. Alles, was an
Glaubenssatzungen aus den Schriften jener kritiklosen Zeit hergeleitet
wird wird, beruht auf Willkür, Irrthum, wenn nicht
bewußter Fälschung.
"Zu jeder Zeit großen Druckes haben die Juden auf einen Retter
(Messias) gehofft. So begrüßt Jesaias 45 1, nach Ablauf
der babylonischen Gefangenschaft (597-538), den Perserkönig
Cyrus (einen Nichtjuden), der dem Volke die Freiheit schenkte,
als Messias. Ein Hoherpriester Josua führte die Juden in die
Heimath zurück, und die Sage schuf einen älteren Josua, der
als "Moses" Nachfolger sein Volk nach Kanaan gebracht hätte. Nach
der Zerstörung Jerusalems (70 u. Z.) erklärte der gelehrte
Jude Josephus, der Menschheit bleibe nunmehr ein größerer
Tempel, der nicht von Menschenhänden gebaut sei, und sah in
Kaiser Vespasian einen Messias, der der ganzen Welt die wahre
Freiheit bringe. Aber auch im weiten Römerreich träumte
mancher Dichter und Denker von einem "Weltheiland", und in
wenigen Jahrzehnten traten eine ganze Reihe von "Messiassen" auf. Zu
jenen beiden Josuas schuf das poetisch thätige Volksgemüth
einen dritten Josua (griechisch Jesus).
"Das Leben eines solchen, besonders eines schwärmerisch
angelegten Armenfreundes, Wunderthäters und Weltheilandes
war nicht eben allzu schwer zu beschreiben: Erlebnisse, Thaten, Reden
lieferten (von den damals im Morgenlange seit Jahrhunderten allgemein
verbreiteten Krischna- und Buddha-Sagen ganz abgesehen) Vorbilder
des Alten Testaments; ein Moses, ein Elias, ein Elisa, hinter denen er
natürlich nicht zurückbleiben durfte, Worte der Psalmen
und Propheten. Vielfach nahmen dabei die Verfasser bildlich Gemeintes
buchstäblich. Die Kirchenväter hielten noch manche
Wundererzählung für ein Gleichniß, während die
Kirche jetzt so ziemlich Alles, auch das Wunderlichste,
buchstäblich genommen haben will.
"Das Bild des Messias gestaltete sich ganz allmählich aus. In den
nachweislich vor den "Evangelien"-Dichtungen entstandenen
"Paulus"-Briefen findet sich von ihm nichts als Tod und
Auferstehung. Aus wörtlich aufgefaßten Prophetenstellen
dichtete man dann Lehre und Heilthätigkeit hinzu. Zuletzt erst
fragte man sich: wo, wie, von wem ist er geboren? wie lange hat er
gelebt? u. A. Sobald einmal das Beispiel einer solchen Dichtung (wie die
später "Nach Markus", dann "Evangelium nach Markus" genannte)
gegeben war, ergoß sich eine Flut ähnlicher Dichtungen, zum
Theil geschmackloser Zerrbilder, zum Theil in den Grenzen einer Art
Möglichkeit gehaltener Lebensbilder. Jede Gegend, ja jede
bedeutendere Gemeinde hatte ihr Evangelium, und oft nannte sich
dieses nach einem bekannt gewordenen Namen; unter solchen fremden
Namen zu schreiben, galt für durchaus erlaubt.
"Diese "Evangelien"-Dichtungen versetzen ihren Helden in die erste
Hälfte des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Aber weder
jüdische Schriftsteller (wie Philo und Josephus) noch
römische und griechische (wie Tacitus, Sueton, Plinius, Dio Cassius)
dieser und der nächstfolgenden Zeit kennen einen solchen
"Jesus von Nazaret" oder die aus seinem Leben erzählten
Vorfälle; ja nicht einmal eine Stadt Nazareth ist bekannt."
5) Christus und Buddha (S. 131). Dem ausgezeichneten Werke
von S. E. Verus: "Vergleichende Uebersicht der vier Evangelien"
(Einzig vorhandene Quelle für ein Leben Jesu, Leipzig 1897)
entnehme ich folgende Mittheilung: "Professor Rudolf Seydel hat
in mehreren fleißigen Arbeiten, die auch von namhaften
theologischen Gelehrten, wie Professor Pfleiderer, anerkannt
werden, die "Evangelien-Dichtungen" mit den verschiedenen,
nachweislich vor unserer Zeitrechnung entstandenen indischen und
chinesischen Lebensbeschreibungen Buddhas verglichen und
Folgendes als zweifellos festgestellt: Die Grundlage des Lebens
der beiden "Religionsstifter" bildet ein belehrendes und heilendes
Wanderleben, meist in Begleitung von Schülern, bisweilen
unterbrochen von Ruhepausen (Gastmäler,
Wüsteneinsamkeit); daneben Predigten auf Bergen und Aufenthalt
in der Hauptstadt nach feierlichem Einzuge. Aber auch in vielen
Einzelheiten und ihrer Reihenfolge zeigt sich eine überraschende
Uebereinstimmung.
"Buddha ist ein fleischgewordener Gott, als Mensch
königlicher Abkunft. Er wird auf übernatürliche Weise
gezeugt und geboren, seine Geburt auf wunderbare Weise vorher
verkündet. Götter und Könige huldigen dem
Neugeborenen und bringen Geschenke dar. Ein alter Brahmane erkennt
in ihm sofort den Erlöser von allen Uebeln. Friede und Freude
zieht auf Erden ein. Der junge Buddha wird verfolgt und wunderbar
gerettet, feierlich im Tempel dargestellt, als zwölfjähriger
Knabe von den Eltern mit Sorgen gesucht und mitten unter Priestern
wiedergefunden. Er ist frühreif, übertrifft seine Lehrer und
nimmt zu an Alter und Weisheit. Er fastet und wird versucht. Er nimmt
ein Weihebad im heiligen Flusse. Einzelne Schüler eines weisen
Brahmanen gehen zu ihm über. Berufungswort ist "Folge
mir". Einen Schüler weiht er nach indischem Brauch unter
einem Feigenbaum. Unter den Zwölfen sind drei
Musterschüler und einer ein ungerathener. Die früheren
Namen der Schüler werden geändert. Daneben findet sich
ein weiterer Kreis von achtzig Schülern. Buddha sendet seine
Schüler, mit Unterweisungen versehen, zwei und zwei aus. Ein
Mädchen aus dem Volke preist seine Mutter selig. Ein reicher
Brahmane möchte ihm folgen, kann sich aber nicht von seinen
Gütern trennen; ein anderer besucht ihn Nachts. Seiner Familie gilt
er nichts; er findet aber bei Vornehmen und bei Frauen Anhang.
"Buddha tritt als Lehrer mit Seligpreisungen auf; besonders spricht er in
Gleichnissen. Seine Lehren zeigen (oft sogar in der Wahl der Worte)
überraschende Aehnlichkeit; er lehnt Wunder ab, verachtet
irdische Güter, empfiehlt Demut, Friedfertigkeit, Feindesliebe,
Selbsterniedrigung und Selbstüberwindung, ja Enthaltung von
geschlechtlichem Verkehr. Er lehrt auch sein Vordasein. In seinen
Todesahnungen betont er, daß er heim, in den Himmel gehe, und in
den Abschiedsreden ermahnt er die Schüler, verheißt ihnen
einen Fürsprech ("Tröster") und weist auf eine allgemeine
Weltzerstörung hin. Heimatlos und arm zieht er umher, als Arzt,
Heiland, Erlöser. Die Gegner werfen ihm vor, daß er die
Gesellschaft der "Sünder" bevorzuge. Noch kurze Zeit vor seinem
Tode ist er bei einer "Sünderin" zu Gast geladen. Ein Schüler
bekehrt ein Mädchen aus verachteter Klasse an einem Brunnen.
Zahlreiche Wunder bestätigen seine Gottheit (er wandelt auf dem
Wasser u. a.). Feierlich zieht er in die Residenz ein und stirbt unter
Wunderzeichen: die Erde bebt, die Enden der Welt stehen in Flammen,
die Sonne erlischt, ein Meteor fällt vom Himmel. Auch Buddha
fährt zur Hölle und zum Himmel".
_________
Nachwort
zur Schrift über die "Welträthsel".
_________
Die ersten Auflagen meiner Schrift über die "Welträthsel",
die im Herbste des Jahres 1899 erschienen, fanden einen sehr raschen
Absatz; innerhalb weniger Monate wurden zehntausend Exemplare
verkauft. Es war mir daher zu meinem Bedauern nicht möglich,
sofort die Verbesserungen einiger Fehler vorzunehmen, auf welche ich
erst durch mehrere inzwischen erschienene Gegenschriften aufmerksam
gemacht wurde. Erst bei dieser Gelegenheit einer späteren Auflage
fand ich hinreichend Muße, jene Irrthümer zu berichtigen.
Schon während des ersten Jahres nach dem Erscheinen meines
Buches wurden mehr als hundert verschiedene Besprechungen
desselben in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht, sowie ein
Dutzend größere Broschüren. Eine übersichtliche
Zusammenstellung und kritische Vergleichung gab im Herbst 1900 einer
meiner Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), in seiner
Broschüre "Der Kampf um die Welträthsel" (Bonn,
Emit Strauß. II. Aufl. 1900). Später ist die Zahl der
Gegenschriften noch bedeutend gestiegen, nachdem Uebersetzungen des
Buches in die englische, französiche, italienische und spanische
Sprache erschienen waren und auch in diesen Nachbarländern
starken Absatz gefunden hatten. Gegenwärtig mag die Anzahl der
verschiedenen Besprechungen wohl mehrere Hundert betragen.
Dieser unerwartete Erfolg eines philosophischen Buches legte dem
Verfasser gewissermaßen die Pflicht auf, wenigstens die
wichtigsten von jenen Gegenschriften zu beantworten und die zum Theil
sehr schweren Vorwürfe zu widerlegen. In der That fühlte
ich mich auch zu einer solchen umfassenden Entgegnung, zu der ich
direkt und indirekt vielfach aufgefordert wurde, meiner Neigung
zuwider fast gezwungen. Die Ausführung derselben wurde aber
durch meine zweite Reise nach Indien vereitelt, die ich im August 1900
nach Java und Sumatra antrat und über welche ich in meinen
"Malayischen Reisebriefen" Bericht erstattet habe ("Insulinde", Bonn,
Emil Strauß, 1901).
Wollte ich eine eingehende Antwort auf alle verschiedenen, gegen die
"Welträthsel" gerichteten Angriffe geben, so würde ein
neues Buch entstehen, weit umfangreicher als das erste. Eine derartige
ausführliche Gegenschrift aber erscheint mir bei der
gegenwärtigen Lage des großen Kampfes um die
Weltanschauung weder nothwendig noch zweckmäßig; es
genügt vielmehr, wenn ich in diesem kurzen "Nachwort" die
wichtigsten Einwände beleuchte, starke
Mißverständnisse aufkläre und meinen principiellen
Standpunkt nochmals klar darlege. Die äußere Veranlassung
dazu giebt mir gerade jetzt, nachdem mit der letzten (achten) Auflage
16 000 Exemplare des Buches in deutscher Sprache verbreitet sind, die
Veröffentlichung der billigen Volksausgabe. Zu einer solchen war
ich schon im Laufe des letzten Jahres von mehreren Seiten dringend
aufgefordert worden; ich konnte mich aber zur Erfüllung dieses
Wunsches - trotz mancher Bedenken - erst jetzt entschließen,
bewogen durch den starken Erfolg der englischen Uebersetzung. Von
dieser hatte die "Rationalist Press Association" in London zu Ende
vorigen Jahres eine billige Volksausgabe veranstaltet und innerhalb
dreier Monate 30 0000 Exemplare abgesetzt. Durch die deutsche
Volksausgabe wird es nunmehr auch unbemittelten Gebildeten
(namentlich Lehrern und Studirenden) möglich sein, sich mit dem
Inhalt des Buches bekannt zu machen; ich habe darin
thatsächliche Irrthümer verbessert, viele Sätze
gekürzt und überflüssiges Beiwerk (Motti, Litteratur-Angaben), sowie sämmtliche Anmerkungen fortgelassen.
Der überraschende Erfolg der "Welträthsel" erklärt
sich wohl großentheils durch das stetig wachsende
Bedürfniß weiter Bildungskreise nach einer klaren,
einheitlichen Weltanschauung. Die Gewinnung einer solchen wird
von Tag zu Tag schwieriger durch das erstaunliche Wachstum der
empirischen Specialforschung und die damit verknüpfte vielfache
Arbeitstheilung in allen einzelnen Wissensgebieten. Je mehr sich hier
der denkende Beobachter in der unübersehbaren Masse von
besonderen Einzelheiten zu verlieren droht, desto lebhafter wird auf der
anderen Seite sein Bedürfniß nach der Gewinnung
einheitlicher Gesichtspunkte und einer allgemeinen Uebersicht
über das ganze Erkenntnißgebiet. Eine solche
Philosophie kann aber nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage
ruhen, auf kritischer Zusammenfassung aller allgemeinen Ergebnisse der
Erfahrungswissenchaften. Zu einer solchen echten "Naturphilosophie" ist
jeder denkende und wissenschaftliche gebildete Mensch berechtigt; sie
ist nicht das privilegirte Eigenthum einer bevorzugten Gelehrten-Kaste.
Die allgemeinen Betrachtungen, welche in diesem "Nachwort zu den
Welträthseln" voranschicken möchte sind ganz dieselben,
welche David Strauß vor dreißig Jahren in seiner
meisterhaften Broschüre gegeben hat: "Ein Nachwort als Vorwort
zu den neuen Auflagen meiner Schrift: Der alte und der neue
Glaube" (Bonn, Emil Strauß, 1873). Alles, was hier in
vollkommenster Form der größte Theologe des 19.
Jahrhunderts über die Entstehung und Absicht seines
berühmten Buches sagt, über die Motive und Methoden
seiner zahlreichen Gegner, zur Begründung und Vertheidigung
seines "Bekenntnisses" - alles das gilt wörtlich auch für mich
und meine "Welträthsel". Denn auch dieses Buch ist nur das offene
und ehrliche Bekenntniß eines Mannes, der ein halbes Jahrhundert
hindurch nach Erkenntniß der Wahrheit geforscht hat, und
der nun die allgemeinen Ergebnisse seiner mühsamen
Forschungen nach bestem Wissen und Gewissen seinen Mitmenschen
nutzbar machen möchte. Indem ich also bezüglich aller
allgemeinen Beziehungen auf jenes klassische "Bekenntniß" von
David Strauß und auf die Erklärungen seines
bedeutungsvollen "Nachworts" hinweise, begnüge ich mich hier
mit einer kurzen Entgegnung auf diejenigen Broschüren
über die Welträthsel, welche am dringendsten dazu
auffordern; es sind die beiden philosophischen Schriften von
Paulsen und Adickes, die beiden theologischen von
Loofs und Nippold.
Unter allen Gegenschriften, die seit drei Jahren gegen mein Buch
veröffentlicht wurden, hat mich keine in so hohem Maße
überrascht und befremdet, als diejenige von Friedrich
Paulsen, Professor an der Universität Berlin. Sie erschien im
Juli 1900 im ersten Hefte der 101. Bandes der Preußischen
Jahrbücher, unter dem Titel: Ernst Haeckel als Philosoph;
sie wurde dann später abgedruckt in einer Sammlung von
Aufsätzen, betitelt "Philosophia militans"; gegen
Naturalismus und Klerikalismus". Diese Schmähschrift verurtheilt
nicht allein mein ganzes Buch in den schärfsten Ausdrücken,
sie übergießt nicht nur alle angreifbaren Stellen desselben
mit Spott und Hohn - sondern, was schlimmer ist: Paulsen verschweigt
viele wichtige Sätze meiner Weltanschauung, in denen er mit mir
übereinstimmt, und rupft dagegen aus dem Reste alle die
Sätze heraus, die ihm zum Angriff geeignet erscheinen. Eine
verblüffende Dreistigkeit ist es, wenn Paulsen
fortwährend behauptet, daß ich die Philosophie
überhaupt verwerfe, während ich mehr Gewicht auf sie lege,
als die meisten andern Naturforscher; was ich bekämpfe ist die
herrschende falsche Metaphysik! Es genügt zur
Charakteristik von Paulsen's Pamphlet, wenn ich hier seine
Schlußsätze wörtlich anführe: "Ich habe mit
brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand
der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres
Volkes. Das ein solches Buch möglich war, das es geschrieben,
gedruckt, gelesen, bewundert, geglaubt werden konnte bei dem Volk,
das einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer besitzt, das ist
schmerzlich! Indessen "Nosce te ipsum!"
Dieses maaßlose Verdammungsurtheil von Paulsen
gehört zu den härtesten und heftigsten, die mir in den
langen vierzig Jahren meiner litterarischen Kämpfe entgegen
geschleudert worden sind. Der unbefangene Leser könnte
vermuthen, daß ein scharfer persönlicher Gegensatz hinter
demselben sich verberge; indessen ist das nicht der Fall. Weder kenne
ich Professor Paulsen persönlich, noch habe ich jemals in einer
litterarischen Beziehung zu ihm gestanden - ausgenommen daß ich
auf Seite 2 der "Welträthsel" seine "Einleitung in die Philosophie"
vor vielen ähnlichen Büchern dem Leser zum Studium
empfohlen habe. Sein Buch ist vortrefflich geschrieben und giebt eine
klare Uebersicht über die wichtigsten Probleme der
Weltanschauung. Der persönliche Standpunkt des Verfassers ist
der herrschende, durch die Autorität von Kant gedeckte
Dualismus, obgleich gerade Paulsen am wenigsten berechtigt ist,
sich zum Vertheidiger von Kant aufzuwerfen; daß gerade
ihm der Verständniß für die Kantische Philosophie in
hohem Maaße abgeht, wird von den tüchtigsten
Kantforschern einstimmig behauptet (z. B. von Cohen,
Vorländer, Goldschmidt u. A.). Andererseits
bemüht Paulsen sich doch, in den meisten kosmologischen Fragen
den Anforderungen der modernen Naturwissenschaft gerecht zu
werden, und stimmt darin mit den wichtigsten Hauptsätzen
meines Monismus überein. Daher haben mehrere unparteiische
Zuschauer dieses Kampfes darauf hingewiesen, daß der von
Paulsen geschaffene schroffe Gegensatz zu meinen Principien ein ganz
künstlicher ist, und daß seine scharfen Angriffe unbegreiflich
sind. (Man vergleiche hierzu die angeführte Schrift von
Heinrich Schmidt, S. 45-48.) Die einzig mögliche
Erklärung derselben liegt in dem maaßlosen (auch von
anderen Gegnern getheilten) Aerger über den litterarischen Erfolg
meiner "Welträthsel" und darüber, daß
überhaupt ein Naturforscher sich untersteht, Studien über
"Philosophie" zu veröffentlichen. Denn dieses Recht steht nach
ihrer Ansicht nur den privilegirten "Fachmännern" zu; sie halten
eben für wahre "Philosophie" nur die transcendentale, auf
"Erkenntnisse I>a priori" gegründete Metaphysik; hingegen bin
ich mit den meisten anderen Naturphilosophen der Ueberzeugung,
daß die ersten Grundlagen aller wahren Philosophie auf der
Naturerkenntniß beruhen und durch denkende Erfahrung a
posteriori entstanden sind. Auf eine Widerlegung der
gehässigen und sophistischen Angriffe von Paulsen im Einzelnen
einzugehen, würde zu Nichts führen; es ist ihm nicht um
Erkenntniß der Wahrheit zu thun, sondern um Vernichtung eines
verhaßten Gegners. Da Paulsen jedoch als unterhaltender
Feuilleton-Schreiber mit Recht sehr beliebt ist und als redegewandter
Lehrer der Metaphysik in Berlin großen Einfluß übt,
möchte ich noch besonders darauf hinweisen, daß er als
selbstständiger Philosoph keine Geltung hat und nicht einen
einzigen neuen Gedanken oder Begriff in die "Weltweisheit"
eingeführt hat; daher auch sein Ingrimm über die
zahlreichen neuen Lehrsätze und Begriffe, zu deren Aufstellung
ich im Laufe fünfzigjähriger Gedankenarbeit durch das
beständige Bestreben geführt wurde, die moderne
Entwickelungslehre zur festen Grundlage unserer gesammten
Weltanschauung zu machen.
Ein weit ehrlicherer und anständigerer Gegner als der Berliner
Sophist ist Erich Adickes, Professor der Philosophie in Kiel -
obgleich auch er mich als Philosoph für eine Null
erklärt. Seine Gegenschft (130 S. stark) ist betitelt "Kant
contra Haeckel"; Erkenntnißtheorie gegen
naturwissenschaftlichen Dogmatismus" (Berlin 1901). Schon in diesem
Titel ist richtig der unversöhnliche Gegensatz ausgesprochen, in
welchem sich unser moderner Monismus zu dem durch Kant
vertretenen Dualismus befindet. Seit dreißig Jahren predigt
die herrschende Schul-Philosophie ihr "Zurück zu Kant" als
einziges Rettungsmittel, während gleichzeitig die moderne Biologie
auf den Schultern von Darwin ihre Antwort ruft: "Zurück
zur Natur!" Dieser principielle Gegensatz zwischen der Kantischen
Metaphysik und der Darwinschen Entwickelungslehre hat sich
neuerdings immer schärfer entwickelt, je mehr die letztere ihr
erklärendes Licht über das ganze weite Gebiet des
organischen Lebens und des darin inbegriffenen menschlichen
Seelenlebens ergoß.
Kant und Darwin! Unter diesem Titel veröffentlichte der
treffliche Philosoph Fritz Schulze in Dresden einen interessanten
"Beitrag zur Geschichte der Entwickelungslehre" (Jena 1875); er hatte
darin aus den verschiedenen Schriften von Kant die
interessantesten Aussprüche zusammengestellt, auf deren Grund
man den großen Philosophen von Königsberg geradezu als
einen der ersten und bedeutendsten Vorläufer von Darwin
bezeichnen könnte. Allein ich habe schon in der ersten Auflage
meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868, Vortrag
V) darauf hingewiesen, daß diese großartigen
Entwickelungsgedanken des monistischen Naturphilosophen Kant in
schroffem Gegensatze zu den mystischen Lehren stehen, welche
später der dualistische Metaphysiker Kant zur Grundlage seiner
ganzen Erkenntniß-Theorie machte, und welche heute wieder in
höchstem Ansehen stehen. Man muß eben bei jeder
Betrachtung seiner Lehren zuerst fragen: "Welcher Kant ist gemeint?
Kant Nr. I., den Begründer der monistischen Kosmogenie,
der kritische Ergründer der "reinen Vernunft"? - oder
Kant Nr. II., der Verfasser der dualistischen "Kritik der
Urtheilskraft", der dogmatische Erfinder der "praktischen
Vernunft"?" Kant I. behauptete "die Verfassung und den
mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach
Newton'schen Grundsätzen", und stellte den Satz auf, daß
"der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung aller
Erscheinungen einschließe". Kant II. dagegen vertrat "die
nothwendige Unterordnung des Princips des Mechanismus unter das
teleologische, in Erklärung eines Dinges als Naturzweck": es
sei "ungereimt, zu hoffen, daß wir die organisirten Wesen und
deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Principien
der Natur erklären können". Kant I., der kritische
Naturphilosoph, wies überzeugend nach, daß die drei Central-Dogmen der Metaphysik: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, für die
"reine Vernunft" unzugänglich und unbeweisbar seien. Kant
II. dagegen, der dogmatische Glaubensheld, behauptete, daß diese
drei mystischen Phantasiegebilde unentbehrliche "Postulate der
praktischen Vernunft" seien. Dieser durchgreifende Gegensatz
zwischen zwei unversöhnlichen Principien, zwischen der
theoretischen reinen Erkenntniß und den praktischen
Glaubenssätzen, zieht sich durch die ganze lange Gedankenarbeit
Kant's von Anfang bis zum Ende durch und ist nie zum Ausgleich
gelangt. Alle neueren unbefangenen Geschichtsschreiber der
Philosophie, insbesondere Ueberweg-Heinze, A. Lange, A. Rau, Vaihinger
- ja selbst Paulsen! - haben diesen unheilvollen Zwiespalt
übereinstimmend anerkannt; er muß von vornherein unser
Mißtrauen gegen eine "Erkenntniß-Theorie" erregen, die sich
auf einer so dualistischen Grundlage aufbaut. (Vergl. H. Schmidt,
a. a. O. S. 46-48.)
Gerade diese vielberufene Erkenntniß-Theorie nun ist es,
die von den eifrigen dualistischen Gegnern der "Welträthsel"
meinem Monismus als sicherste Waffe entgegengehalten wird. Ihr
gegenüber kann ich mich nur darauf berufen, daß die ganze
neuere Naturwissenschaft seit dreihundert Jahren, seit Bacon und
Newton, die unbefangene Erfahrung, die
"voraussetzungslose" Erforschung der durch Sinnesthätigkeit
erkannten Thatsachen, als Ausgangspunkt aller sicheren
Erkenntniß festhält, also a posteriori verfährt.
Kant hingegen schließt umgekehrt a priori, aus der
inneren Selbstbetrachtung seiner Vernunft, auf die Existenz und
Beschaffenheit der Außenwelt. Die "Anfangsgründe der
Naturwissenschaft" sind für Kant "metaphysisch" und
transcendental, für unsere monistiche Weltanschauung hingegen
physikalisch und empirisch. Ebenso verhält es sich mit der
Mathematik; ihre festen und unanfechtbaren Grundsätze bestehen
nach Kant vor aller Erfahrung und unabhängig von ihr; nach
unserer Ueberzeugung sind dieselben (- wie schon Stuart Mill u.
A. gezeigt haben -) die letzten, abstrakten Ergebnisse von
Vernunftschlüssen, die durch eine lange Kette von Erfahrungen im
Laufe der Kultur-Entwickelung allmählich errungen wurden.
Ja, Entwickelung ist auch hier das Zauberwort, welches alle
"Welträthsel" (- bis auf das eine letzte, das Substanz-Problem! -) zur Lösung führt. Wie sich der graue
Rindenmantel unseres Großhirns, des wichtigsten Seelen-Organs,
im Laufe der Tertiär-Zeit aus der einfacheren Großhirn-Rinde
unserer Primaten-Ahnen phylogenetisch entwickelt hat, so sind auch
dessen physiologische Funktionen gleichzeitig aus der niederen
Seelenthätigkeit der Letzteren bis zu den Anfängen des
Zählens und Messens bei der niederen Naturvölkern
fortgeschritten und von diesen später hoch hinauf zu der
Mathematik der Kulturvölkter.
Kant oder Darwin! So muß es auf diesem Gebiete der
Erkenntniß-Theorie jetzt heißen. Entweder giebt es,
wie Kant II. behauptet, zwei verschiedene Welten, eine empirische
(durch Erfahrung und Verstand erkennbare) und eine intelligible (nur
dem Glauben und dem Gemüth zugängliche) Welt; -
oder diese beiden Welten sind eine und dieselbe, wie uns die von
Darwin neu begründete Entwickelungs-Theorie lehrt.
Gemäß dieser letzteren gilt der Mechanismus der Natur, der
Alles nach festen Gesetzen bewirkt, auch für das gesammte, auf
Gehirnthätigkeit beruhende Seelenleben des Menschen; es giebt
keine "absolute Freiheit".
"Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen
Müssen wir Alle unseres Daseins Kreise vollenden."
Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo man sich überzeugen
wird, daß die sogenannte "kritische Philosophie" in Wahrheit rein
dogmatisch ist. Ein Dogma, d. h. ein subjektiver, von aller
Erfahrung unabhängiger Glaubenssatz, ist die "intelligible Welt"
von Kant, jenes unbekannte "Jenseits", in dem die "ewigen Ideen" von
Plato wohnen, die "unsterblichen Seelen" und der "persönliche
Gott". Ein Dogma ist das räthselhafte "Ding an sich", das
hinter allen Erscheinungen stecken soll, und von dessen Existenz auch
Kant selbst nichts weiß. Ein Dogma ist der kategorische
Imperativ, der ein unbedingtes und allgemein gültiges
Sittengesetz für alle verschiedenen Menschen-Rassen aufstellen
will. Ein Dogma ist die Behauptung, daß die
Anfangsgründe der Naturwissenschaft metaphysisich sind und
a priori entstanden seien. Und so ist dogmatisch jenes ganze
große Lehrgebäude der praktischen Vernunft, welches den
durch die reine Vernunft gefundenen Wahrheiten widerspricht, aber
trotzdem als "kritische" Weltweisheit verstanden wird.
Die Autorität von Kant hat sich seit hundert Jahren in der
deutschen Philosophie eine ähnliche Vorherrschaft errungen, wie
sie im Mittelalter Aristoteles besaß. In unzähligen
Schriften wird der Schild dieser dualistischen Autorität den
Ansprüchen der monistischen Naturwissenschaft
entgegengehalten. Aber die wichtigste und zugleich dankbarste Aufgabe
dieser "Kant-Studien" hat noch Niemand gelöst, nämlich auf
einem Druckbogen in knapper und klarer Form die fundamentalen
Widersprüche der beiden Weltanschauungen von Kant
gegenüber zustellen: links auf 8 Seiten die monistischen
Erkenntnisse der empirischen Welt durch die reine Vernunft von Kant
I.; rechts auf 8 Seiten die dualistischen Principien der intelligiblen Welt
durch die praktische Vernunft von Kant II.
Auf diesen letzteren stützt sich ganz und gar Erick Adickes,
nach dessen Ansicht "die Weltanschauung das Gebiet nicht des
Wissens, sondern des Glaubens" ist, mithin die Wahrheit
sich der Dichtung unterordnen muß. Er meint, daß ich nicht
nur als Philosoph gleich Null, sondern auch ein Mensch ohne
Gemüth sei, weil ich dem Gemüth das Recht bestreite,
gegenüber der Vernunft die Wahrheit erkennen zu wollen.
Weniger schroff und einseitig ist Julius Baumann in seiner
Broschüre: "Haeckel's Welträthsel nach ihren starken und
schwachen Seiten, mit einem Anhang über Haeckel's theologische
Kritiker" (II. Aufl.). Ich würde mich mit diesem Professor der
Philosophie in Göttingen bezüglich der meisten Punkte
verständigen können, wenn es mir möglich
wäre, ihn von der Berechtigung derjenigen monistischen
Grundanschauungen zu überzeugen, zu welchen ich durch das
Studium der allgemeinen und vergleichenden Biologie im Laufe eines
Jahrhunderts mit Nothwendigkeit naturgemäß geführt
worden bin.
Dasselbe gilt auch von demjenigen Theologen, der unter allen Gegnern
der Welträthsel nicht nur den höflichsten und
versöhnlichsten Ton anschlägt, sondern auch am
eingehendsten und ehrlichsten seine abweichenden Ansichten zu
begründen sucht. Es ist dies mein hochverehrter Kollege, der
liberale Professor der Kirchengeschichte Friedrich Nippold.
Derselbe wurde vor zwanzig Jahren Nachfolger des berühmten
Theologen Carl Hase, eines geistreichen und vielseitig gebildeten
Gelehrten, mit welchem ich länger als zwanzig Jahre hindurch
zahlreiche freundschaftliche und eingehende Gespräche über
die höchsten Fragen von "Gott und Welt", wie über die
wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft zu führen das Glück
hatte; ebenso wie mit einem anderen hochangesehenen Kollegen unserer
Universität Jena, dem verstorbenen Richard Lipsius. Wenn
ich hier dankbar der vielfachen Belehrung und Anregung gedenke,
welche ich im Laufe von 42 Jahren von diesen drei hervorragenden
Theologen empfangen habe, und wenn ich dabei mich auf die
persönliche und wissenschaftliche Werthschätzung dieser
ehrenhaften Männer der Wissenschaft berufe, so erblicke ich
darin zugleich die kürzeste und beste Abwehr der
schmählichen und verächtlichen Angriffe, welche zahlreiche
Gegner der "Welträthsel" gegen meine Person und meine
Lebensarbeit gerichtet haben, allen voran der Theologe Friedrichs
Loofs in Halle und der Philosoph Friedrich Paulsen in
Berlin.
Friedrich Nippold hielt schon am 10. Mai 1884, als er den
Lehrstuhl von Carl Hase übernahm, eine Antrittsrede, die
großes Aufsehen unser seinen theologischen Kollegen und
lebhaften Beifall unter seinen Kollegen anderer Fakultäten erregte,
unter dem Titel: "Die naturwissenschaftliche Methode in ihrer
Anwendung auf die Religionsgeschichte." In dieser geistvollen Rede
stellt der Vertreter der Kirchengeschichte an seine Fach-Kollegen die
ungewohnte Anforderung, daß sie bei ihren historischen und
litterarischen Forschungen dieselben Methoden anwenden sollen, wie
die moderne Naturwissenschaft; dabei gedenkt der Redner der
gewaltigen Erfolge von Alexander Humboldt und Hermann
Helmholtz, von Faraday und Bunsen, von
Tyndall und Charles Darwin. "Mit offenem Sinn und
warmem Herzen tritt die wissenschaftliche Theologie, tritt vor Allem die
Religionsgeschichte an die staunenswerthen Entdeckungen heran,
welche die Gegenwart der führenden Wissenschaft dankt und
welche der ganzen Zeit ihre Signatur geben." Und ebenso wie Carl
Ernst Baer unter seine klassische Entwickelungsgeschichte der
Thiere (1828) das bezeichnende Leitwort setzte: "Beobachtung und
Reflexion", so verlangt auch Nippold 1884 für die
Religionsgeschichte in erster Linie scharfe klare Beobachtung der
Thatsachen, und erst nachher den unbefangenen und
"voraussetzungslosen" Aufbau der Schlüsse, die sich aus jenen
Thatsachen ergeben. Mit vollem Rechte stellt er dieser "exakten
naturwissenschaftlichen Methode" die "herrschende konfessionalistisch-dogmatische" gegenüber, und bezeichnet die erstere als empirisch,
die letztere als infallibilistisch; zugleich spricht er der letzteren "in allen
ihren Formen gleich sehr den Charakter strenger Wissenschaftlichkeit
ab" (S. 12).
Diese bedeutungsvolle Antrittsrede von Nippold ist freilich nicht
nach dem Geschmacke der orthodoxen Theologen, welche leider auch
heute noch in den größten deutschen Staaten die
einflußreichste Macht bilden; sie gereicht aber um so mehr zur
hohen Ehre unserer freien Thüringer Univesität Jena und
unserem kleinen Großherzogthum Weimar, der unantastbaren
Freistätte ehrlicher Wahrheitsforschung und furchtloser Lehre.
Veröffentlicht wurde diese Rede erst später, in dem offenen
"kollegialen Sendschreiben", welches Friedrich Nippold in Folge
des Welträthsel-Streites an mich gerichtet hat (Berlin 1901). Der
beschränkte Raum dieses Nachwortes gestattet es mir leider nicht,
eine eingehende Antwort auf alle Einwürfe meines hochverehrten
Kollegen zu geben; ich muß mich mit der Versicherung
begnügen, daß ich ihm für die gewordene reiche
Belehrung auf dem mir ferner liegenden theologischen Gebiete
aufrichtig dankbar bin. Auch ist es mir in längeren, eingehenden
Gesprächen gelungen, eine erfreuliche Verständigung
über viele der wichtigsten Anschauungen herbeizuführen,
soweit eine solche zwischen einem unbefangenen, philosophisch
gebildeten Theologen und einem aufrichtigen, nach philosophischer
Erkenntniß strebenden Naturforscher überhaupt
möglich ist.
Ganz anders verhält es sich mit einem orthodoxen Theologen, mit
Friedrich Loofs, Professor der Kirchengeschichte in Halle. Sein
"Anti-Haeckel", 1900 in Halle erschienen, ist in der Hauptsache
eine auserlesene Sammlung der verschiedensten Schimpfwörter
und Beleidigungen; Heinrich Schmidt hat in seiner
Broschüre auf zwei Seiten (19, 20) eine Musterkarte derselben
gegeben. Die ehrenvollen Bezeichnungen: "Dummheit, Unwissenheit,
Ignoranz, Unkenntniß, Unsinn" u. s. w. , verstärkt durch die
angenehmen Beiwörter: "unglaublich, ungeheuerlich, unehrlich,
unredlich, anstößig, widerwärtig, verächtlich, zu
dumm" u. s. w. - werden in diesem schmutzigen Pamphlet so oft
wiederholt, daß es selbst dem frömmsten Gläubigen zu
viel werden muß. Indessen hat das Machwerk von Loofs (in
mehreren Auflagen weit verbreitet) auch seine komischen Seiten, und
ich möchte nicht den Ausdruck des Dankes für die heiteren
Stunden unterlassen, welche der fromme Hallenser Fananiker dadurch
mir und meinen Jenenser Freunden bereitet hat. Nachdem nämlich
der Herr Kirchenrath "gezeigt hat, daß der Verfasser der
Welträthsel ein normales wissenschaftliches Gewissen nicht hat,
und daß man ihm auf keinem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit
Sorgfalt und ernsten Wahrheitsinn zutrauen kann", schließt er
seine Philippica mit folgenden Sätzen: "Das sind harte Worte.
Meine ganzen Ausführungen sind ehrverletzend für
Professor Haeckel und sollen es sein. Ich habe so geschrieben, daß
jedes Gericht mich der Beleidigung des Jenenser Kollegen wird
schuldig sprechen müssen, wenn ich nicht zugleich den
Wahrheitsbeweis für meine Behauptungen erbracht habe. Nur
durch ein richterliches Urtheil nach vorausgegangenem
Sachverständigen-Gutachten würde ich mich für
widerlegt halten."
Dieser Gedanke ist wirklich kostbar! Die Entscheidung über die
Wahrheit in dem großen Kampfe der Weltanschauungen dem
juristischen Ermessen eines deutschen Richter-Kollegiums - in letzter
Instanz des Reichsgerichts! - zu überlassen! Unsere braven
Juristen sind gewiß zum größten Theile rechtliche Leute;
aber die Befähigung zur Entscheidung über philosophische
Grundfragen, zu welcher vor Allem gründliche biologische
Bildung gehört, werden die Meisten von ihnen wohl selbst
ablehnen. Vielleicht erwartet aber Herr Kollege Loofs, daß
ich ihm als Antwort auf seine ehrverletzenden Beschimpfungen einen
Kartellträger schicke und ihn zu einem Duell auf "krumme
Säbel oder Pistolen" fordere? Dann wird er umsonst warten! Nach
meiner Ueberzeugung ist jedes Duell entweder als "Gottes-Urtheil"
vernunftwidrig oder gehört als barbarische Unsitte zum "groben
Unfug" - ganz abgesehen davon, daß diese rohe Form der Rache
den milden Grundlehren der christlichen Religion direkt ins Gesicht
schlägt!
Was überhaupt das Verhalten eines vernünftigen und
ehrenhaften Mannes gegenüber öffentlichen Beleidigungen
und Beschimpfungen betrifft, so halte ich im Allgemeinen die Praxis
Friedrich's des Großen für richtig; er ließ die gegen ihn
gerichteten Pamphlete niedriger hängen, damit die Leute sie
besser lesen könnten. So habe ich seit 36 Jahren verfahren, seit
zuerst meine "Natürliche Schöpfungsgeschichte",
später (1874) meine "Anthropogenie" eine Fluth von
geharnischten Gegenschriften hervorriefen. Anfangs habe ich noch
gelegentlich (- in den Vorreden späterer Auflagen -) wenigstens
gegen die schlimmsten Angriffe protestirt und auf die Grundlosigkeit
vieler Verleumdungen und Verdrehungen hingewiesen (- besonders von
Seiten rechtgläubiger christlicher Fanatiker -). Später habe
ich auch das unterlassen, weil es mir bei meinen litterarischen
Kämpfen nicht um die Rechtfertigung meiner Person,
sondern um die Vertheidigung meiner guten Sache, der
"voraussetzungslosen" Erkenntniß der Wahrheit, zu thun ist.
Das möchte ich besonders noch geltend machen gegenüber
einem eifrigen (- mir persönlich unbekannten -) Gegner, der mich
seit Jahren mit unermüdlicher Hartnäckigkeit verfolgt, Dr.
phil. E. Dennert, Schuldirektor in Godesberg a. Rh. Nachdem
dieser fromme Mann in zahlreichen Aufsätzen seiner
Entrüstung über die Entwickelungslehre Ausdruck gegeben
und eine komiche Abhandlung "Am Sterbelager des Darwinismus"
geschrieben, hat er neuerdings mir die Ehre einer besonderen
Schmähschrift erwiesen: "Die Wahrheit über Ernst Haeckel
und seine Welträthsel, nach dem Urtheil seiner Fachgenossen"
(Halle 1901). Die Wahrheit über den Inhalt und Charakter dieses
Pamphlets ist folgende: Dennert hat mit anerkennenswerthem
Fleiße die meisten von den zahlreichen Angriffen
zusammengetragen, welche im Laufe von 36 Jahren, während
langer und heftiger litterarischer Kämpfe, gegen mich und meine
Schriften gerichtet worden sind. Diese Angriffe sind von der
allerverschiedensten Art: etwa ein Drittel bezieht sich auf
entgegengesetzte Ansichten über specielle naturwissenschaftliche
Streitfragen, die noch heute unentschieden sind; ein zweites Drittel
betrifft unmittelbar den großen Kampf der Weltanschauungen, der
vor vierzig Jahren durch Charles Darwin entfesselt wurde und
der noch lange fortdauern wird - es ist natürlich, daß hier die
unversöhnlichen Gegensätze um so heftiger auf einander
stoßen, je klarer und konsequenter sie entwickelt werden: Hier
Kant I., Spinoza und Goethe: Monismus, Vernunft
und Pantheismus: dort Kant II., Paulsen und
Dennert: Dualismus, Aberglaube und Theismus. Das letzte Mittel
von Dennert's Schmähschrift, im Geiste von Loofs
und Paulsen geschrieben, ist eine bunte Sammlung von
Verdächtigungen und Schmähungen aller Art, die theils auf
sophistischen Entstellungen und Verdrehungen meiner Lehren beruhen,
theils auf reinen Erfindungen und Verleumdungen. Der moralische
Charakter dieser verächtlichen Angriffe wird dadurch nicht
gebessert, daß der fromme Dr. Dennert sich mit
besonderem Behagen auf undankbare frühere Schüler von
mir beruft. Ich bekleide mein Lehramt an der Universität Jena
jetzt seit 84 Semestern und habe in diesem langen Zeitraum vor mehr
als sechstausend Schülern vorgetragen; darunter befinden sich
nicht wenige, welche als Lehrer und Forscher auch den
größeren deutschen Universitäten zur Zierde gereichen.
Natürlich fehlt es aber auch dazwischen auch nicht an solchen
Charakteren, die nicht aus Ueberzeugung, sondern aus egoistischen
Gründen in heimtückische Gegner sich verwandelt haben.
Viele Feinde habe ich mir dadurch zugezogen, daß ich die "faulen
Kompromisse" im Kampfe um die Wahrheit verschmähe und
rücksichtslos die Folgeschlüsse aus den Erkenntnissen ziehe,
die ich durch eifriges Studium der Natur und der Menschenwelt
während eines halben Jahrhunderts gewonnen habe. Gewiß
habe ich in der Taktik jenes Kampfes oft große Fehler begangen;
aber unbeirrt habe ich stets das eine große Ziel meiner
Lebensarbeit im Auge behalten: Reine Erkenntniß der Wahrheit auf
Grund unbefangener Naturforschung.
Mit diesen persönlichen Bemerkungen möchte ich ein
für allemal auf die unzähligen Angriffe anworten, welche
von theologischen, metaphysischen und anderen Gegnern gegen meine
Person und meinen Charakter - besonders als Verfasser der
"Welträthsel" - gerichtet worden sind. Falls ein unbekannter Leser
mehr darüber zu erfahren wünscht, so findet er dies in dem
"Lebensbild" von Wilhelm Bölsche (Leipzig 1900).
Meine Gegner thun mir übrigens viel zu viel Ehre an, wenn sie
immer den Monismus, wie ich ihn 1892 in meiner Altenburger
Rede entworfen und in den "Welträthseln" ausgeführt habe,
als Privat-Ansicht meiner Person behandeln. Derselbe ist vielmehr der
Ausdruck der klaren einheitlichen Weltanschauung der modernen
Naturwissenschaft am Schlusse des 19. Jahrhunderts. Was ich hier
als mein persönliches Bekenntniß formulirt habe, das ist in
derselben (- oder in einer sehr ähnlichen -) Form die innerste
Ueberzeugung der großen Mehrzahl der denkenden modernen
Naturforscher - wohlverstanden der denkenden! Denn es giebt
auch in der riesigen Maschinen-Werkstätte der modernen
Naturforschung eine Masse gedankenloser Tagelöhner, die zwar
ihre kleine Special-Arbeit vortrefflich ausführen, aber nach dem
großen Ganzen des Betriebes gar nicht fragen; es giebt selbst unter
den angesehenen und verdienten Naturforschern nicht wenige, denen
die Gewinnung einer bestimmten Weltanschauung ganz
gleichgültig ist, die nur neue Thatsachen, keine Begriffe finden
wollen. Wer in solcher Resignation auf eine wissenschaftliche
Begründung seiner Weltanschauung überhaupt verzichtet,
sich aber gleichzeitig einem beliebigen "Glauben" in die Arme wirft, mit
dem ist natürlich nicht weiter zu verhandeln.
Durch Tausende von Gesprächen, die ich im Laufe eines halben
Jahrhunderts mit gebildeten Männern und Frauen der
verschiedensten Berufskreise gehabt habe, bin ich zu der festen
Ueberzeugung gelangt, daß der Monismus schon jetzt viel
mehr Anhänger besitzt, als man gewöhnlich annimmt - und
Tausende von zustimmenden Briefen, die in den drei Jahren seit
Erscheinen der "Welträthsel" an mich gerichtet wurden, haben
diese Ueberzeugung bestätigt. Ganz besonders gilt das von den
Kreisen der denkenden Naturforscher und Naturfreunde; sicher die
größere Hälfte, wahrscheinlich mehr als dreiviertel
derselben steht auf dem Boden meiner "Welträthsel". Meine
Gegner bestreiten dies und weisen auf die geringe Zahl von namhaften
Naturkundigen hin, die sich meinem "Bekenntniß" öffentlich
angeschlossen haben. Die Erklärung dieser Erscheinung ist aber
sehr einfach: Erstens fühlen überhaupt viele denkende
Naturforscher gar kein Bedürftniß, ihre innerste
Ueberzeugung Anderen mitzutheilen - dagegen ist Nichts zu sagen. -
Zweitens sind zahlreiche treffliche Gelehrte (darunter mehrere meiner
nächsten Freunde) der Ansicht, daß man diese
höchsten und werthvollsten Ergebnisse der Wissenschaft für
sich behalten müsse und nicht dem "Volke" preisgeben
dürfe, weil dieses Mißbrauch damit treiben könne -
eine esoterische Auffassung, der ich nicht zustimmen kann und die
schon von Lessing schlagend widerlegt worden ist; vollends
heute, wo das Licht der Naturforschung in alle dunklen Winkel leuchtet
und vermöge ihrer praktischen Verwerthung alle Volkskreise
erhellt, halte ich es für ganz vergeblich, der Verbreitung
naturphilosophischer Erkenntniß Schranken ziehen zu wollen. -
Drittens endlich (und das ist das Wichtigste!) ist die große
Mehrzahl der überzeugten Monisten durch äußere
Gründe gezwungen, ihre wahre Weltanschauung zu verleugnen
und demgemäß zu handeln. In den beiden größten
und einflußreichsten deutschen Staaten, in Preußen und
Bayern, ist die Reaktion auf dem Gebiete des höheren
Geisteslebens beständig im Steigen begriffen; die Unterrichts-Ministerien werden von dem orthodoxen Klerus beherrscht; Pfarrer,
welche nur wenig von den befohlenen Glaubens-Formen abweichen,
werden abgesetzt; Lehrer, welche die Entwickelungslehre in die Schule
einführen wollen, werden ihrer Stellung beraubt. - Wer will von
diesen armen ehrlichen Männern verlangen, daß sie ihre
Lebensstellung dem Bekenntniß ihrer Weltanschauung opfern?
Und was würde durch dieses Martyrium erreicht? Man kann
diesen Gewissenszwang, der vielen tausend Trägern der Bildung
und Gesittung auferlegt wird, und der in vieler Beziehung
demoralisirend wirkt, auf das Tiefste bedauern; allein das
läßt sich vorläufig nicht ändern!
Sehr zu beklagen ist es auch in dieser Beziehung, daß
kürzlich der deutsche Kaiser in seinem vielbesprochenen
Handschreiben an Admiral Hollmann (vom 15. Februar 1903) ein
Glaubensbekenntniß abgelegt hat, welches weder mit seinen
früheren wiederholten Aeußerungen, noch mit dem hohen
Standpunkte der Wissenschaft im Beginne des 20. Jahrhunderts in
Einklang zu bringen ist. Bekanntlich hatte Wilhelm II. schon seit
längerer Zeit die wichtigsten Forschungen über "Bibel und
Babel" mit besonderem Interesse verfolgt und mit Rücksicht
auf dieselben die Freiheit der Forschung und Lehre auch auf dem
Gebiete der Religionsgeschichte gebührend betont. Noch vor
Kurzem hatte er in der bekannten Rede in Görlitz liberale
Ansichten darüber geäußert, welche ein volles
Verständniß für die hohe Bedeutung der freien
Entwickelung in jedem Zweige der Wissenschaft bekundeten. In
vollem Gegensatze zu dieser oft ausgesprochenen
zeitgemäßen Auffassung legt der Kaiser jetzt ein
Glaubensbekenntniß ab, welches die vor tausend Jahren
herrschenden, jetzt aber längst überwundenen
Anschauungen, besonders in Betreff der "Offenbarung" widerspiegelt.
Meine monistische Weltanschauung ist aus einem Gusse und verbindet
einheitlich und widerspruchslos die verschiedenen Hauptobjekte, die ich
in den vier Theilen meiner "Welträthsel" als "Mensch, Seele, Welt
und Gott" gegenüber gestellt habe. Indessen gebe ich gern zu, was
viele Gegner hervorheben, und was ich selbst schon auf S. 5 meines
Vorworts betont habe, daß in diesen vier Theilen "Studien
von sehr ungleichem Werthe zu einem Ganzen zusammengefügt
sind". Mit Bezug hierauf möchte ich noch folgende
Erläuterungen über die verschiedene Begründung und
Ausführung der vier Theile ganz besonders hervorheben.
Der erste, anthropologische Theil bildet die feste Grundlage und
den gemeinsamen Ausgangpunkt für sämmtliche Gebiete
meiner monistischen Philosophie; hier bin ich im eigentlichen Sinne
Fachmann und berufe mich darauf, daß ich schon 1866 (im
siebenten Buch der "Generellen Morphologie") "Die Anthropologie als
Theil der Zoologie" begründet habe. Daß der Mensch, als
Organismus betrachtet, ein Säugthier ist, und daß er
alle Merkmale besitzt, welche diese Thierklasse so auffällig von
allen übrigen Klassen scheiden, das hat Linné schon
1735 in seinem grundlegenden System der Natur festgestellt, und das
hat seither noch kein Naturforscher bestritten. Dieser Satz gilt ebenso
für Goethe und Darwin, für Kant und Moses, wie für
den Akka und Patagonier, für den Wedda und Australneger.
Dieser Fundamental-Satz hat aber seine volle Bedeutung
für die Philosophie erst innerhalb des letzten halben Jahrhunderts
gewonnen, seitdem die vergleichende Anatomie und Physiologie die
volle Uebereinstimmung unserer Organisation mit den Primaten, die
vergleichende Ontogenie und Phylogenie den gemeinsamen Ursprung
mit diesen höchstentwickelten Säugethieren nachgewiesen
hat. Ich muß ganz besonders betonen, daß diese feste
zoologische Basis der "Welträthsel" von keinen einzigen
meiner Gegner mit Erfolg angegriffen worden ist, und doch sollten hier
vor allem die ernsten Versuche der Widerlegung einsetzen.
Der zweite, psychologische Theil hat dagegen die heftigsten
Angriffe zahlreicher Gegner hervorgerufen. Vor Allen kann sich
Paulsen nicht genug thun in Hohn und Spott über
Lehrsätze, die er irrthümlich für meine
persönlichen Phantasie-Gebilde ausgiebt, während sie
allgemein anerkannte Thatsachen der vergleichenden Physiologie
sind. Der Berliner Metaphysiker offenbart hier eine erstaunliche
Unwissenheit in dem großen und wichtigen Gebiete der Zellenlehre,
der Protistenkunde, der Entwickelungsgeschichte der Gewebe und
Organe, der Physiologie und Pathologie des Nervensystems u. s. w.
Deutlicher als irgendwo tritt in diesen kindischen Angriffen von
Paulsen der bedauerliche Mangel an biologischen Kenntnissen
hervor, den er mit den meisten seiner Kollegn theilt; und doch
behaupten diese Herren für sich allein auf unseren
Universitäten das Monopol der wahren "Philosophie". In
der That ist diese Nichts als eine dualistische Metaphysik, eine
"Begriffs-Akrobatik", die sich um die reichen psychologischen Ergebnisse
der modernen Naturforschung nicht im Mindesten kümmert,
sondern mit gewandten Luftsprüngen und Equilibristen-Künsten auf dem hochgespannten Drahtseit der "reinen
Spekulation" umhertanzt. Wenn Paulsen sich vielfach den
Anschein giebt, den Anforderungen der modernen Naturwissenschaft
gerecht zu werden, so ist dies eben nur leerer Schein; eine
täuschende Maske, unter welcher sich die dualistische Mystik um
so sicherer einschleicht. Wenn ich im Gegensatz zu diesem herrschenden
Dualismus die Psychologie als Theil der Physiologie betrachte, so
stehe ich dabei auf dem Schultern meines hochverehrten Lehrers
Johannes Müller, der im sechsten Buche seiner klassischen
Physiologie des Menschen diese Auffassung ebenso klar als
naturgemäß vertritt. Wenn dagegen einzelne neuere
Physiologien (- auf Grund einer falschen dualistischen Erkenntniß-Theorie! -) die Psychologie wieder von der Physiologie abtrennen
wollen, so ist das ein bedauerlicher Rückschritt; folgerichtig
müßten sie dann auch die Psychiatrie von der Medicin
abtrennen und die Behandlung der Geistenkranken nicht den
naturkundigen Aerzten übertraten, sondern den unwissenden
Schäfern und "Naturheilkünstlern", oder noch besser den
"Gesundbetern", die in der "Metropole der Intelligenz" noch heute ihr
Wesen treiben.
Der dritte, kosmologische Theil der "Welträthsel" ist viel
anfechtbarer als die beiden ersten. Hier handelt es sich um die
höchsten, allgemeinsten und schwierigsten Fragen der
Naturphilosophie. Im Vordergrunde meiner Betrachtung steht hier die
feste und unerschütterliche Ueberzeugung von der Einheit der
Natur, von der allgemeinen Gültigkeit des Substanz-Gesetzes in allen Gebieten der organischen und anorganischen Natur
- ebenso in der Psychologie wie in der Astronomie, in der Biogenie wie
in der Geologie. Besonders betonen muß ich hierbei meinen
Gegensatz zu Kant II., und zu dem modernen, wiederaufgelebten
Vitalismus. Zu welchen starken Absurditäten und unbegreiflichen
Widersprüchen dieser letztere führt kann man aus den
bekannten Schriften des Kieler Botanikers Reinke sehen: "Die
Welt als That" (1899) und "Einleitung in die theoretische Biologie"
(1901). Duch seine Hypothese der "Dominanten" (- ein neues Wort
für das alte Dogma der besonderen "Lebenskraft" -) schleicht sich
wieder die Mystik in die Weltanschauung ein, der dualistische
Aberglaube an Schöpfungen und andere Wunder. Wenn im
Gegensatze hierzu mein Monismus als "Materialismus" verdächtigt
wird, so ist das nur in einem gewissen Sinne richtig, nur insofern, als in
meinem allgemeinen Substanz-Begriffe stets Stoff und Kraft, Materie
und Energie untrennbar verbunden sind. Ich kenne keine "todte und
rohe Materie", keine Substanz ohne Empfindung. Die einfachste
chemische Erscheinung (z. B. die Wahlverwandtschaft) und das
einfachste physikalische Phänomen (z. b. Massenanziehung) sind
nicht begreiflich ohne die Annahme, daß das Vermögen der
Empfindung und Bewegung ebenso ein untrennbares Attribut der
Substanz ist, wie die ausgedehnte und raumerfüllende Materie
(Masse und Aether). Wenn man aber im Sinne aufgeklärter
Theologie "Gott" als die Summe aller Kräfte und Wirkungen
betrachtet, so kann man auch behaupten, daß mein Monismus mit
dem reinsten Monotheismus zusammenfällt.
Der vierte, theologische Theil meines Buches ist der weitaus
schwächste und angreifbarste, und ich habe ihn nur den drei
übrigen angeschlossen, weil ich die Bedeutung des theoretischen
Monismus auch für die wichtigsten Fragen der praktischen
Philosophie andeuten wollte. Wenn meine einheitliche und
naturgemäße Weltanschauung richtig ist, so muß sie
auch zu einer zeitgemäßen Reform der Religion und
Sittenlehre, mindestens zu einer natürlichen Begründung
derselben hinführen. Aber auf diesen wie auf allen anderen
Gebieten der angewandten Philosophie und des praktischen Lebens
gehen naturgemäß die Ansichten auch der gebildeten
Menschen weit auseinander, und die persönlichen Lebens-Erfahrungen führen viele, sonst übereinstimmende Denker
zu den verschiedensten Schlüssen.
Was zunächst die Religion betrifft, so ist es eine
offenkundige Unwahrheit, wenn viele meiner Gegner mich ohne
Weiteres als Feind derselben hinstellen. Es war mein vollkommener
Ernst, wenn ich 1892 in meiner Altenburger Rede den "Monismus als
Band zwischen Religion und Wissenschaft" zu begründen
versuchte; und ebenso war es meine volle Ueberzeugung, wenn ich im
18. Kapitel der "Welträthsel" "unsere monistische Religion", und im
19. "unsere monistische Sittenlehre" auf dem Grunde unserer modernen
Entwickelungslehre festzustellen versuchte. Der Unterschied dieser
monistischen Religion und Ethik von allen anderen Formen derselben
besteht nur darin, daß wir als festes Fundament derselben
ausschließlich die reine Vernunft in Anspruch nehmen, die
Weltanschauung auf Grund der Wissenschaft, der Erfahrung und des
vernünftigen Glaubens (der wissenschaftlichen Hypothese). Im
Gegensatze dazu stehen alle Religions-Formen, welche sich auf
sogenannte "Offenbarungen" stützen, d. h. auf
übernatürliche Erscheinungen, welche der
wissenschaftlichen Erfahrung und der reinen Vernunft widersprechen,
mithin dem weiten Phantasie-Gebiete der Dichtung
angehören, oder dem Bereiche des unvernünftigen Glaubens,
d. h. des "Aberglaubens".
Das Christenthum in dieser Beziehung zu betrachten - wenn auch
nur vorübergehend - war unvermeidlich, wenn ich meinem Buche
einen gerundeten Abschluß geben wollte; und so war ich denn
gezwungen, im 17. Kapitel der "Welträthsel" eine allgemeine
Übersicht über "den wachsenden Gegensatz zwischen
moderner Naturerkenntniß und christlicher Weltanschauung" zu
geben; ich mußte den neuen Glauben der Vernunft und den alten
Glauben der Offenbarung gegenüber stellen. Wenn darauf hin
viele meiner Gegener mich schlechthin als "Feind des Christenthums"
denunziren, so entspricht das nicht der Wahrheit. Denn ich habe stets
den werthvollen Kern seiner reinen Sittenlehren anerkannt, vor Allem
das ethische Grundgesetz oder die "goldene Regel", das auch den Kern
unserer monistischen Ethik bildet. Zwar war dasselbe nicht neu (wie ich
im 19. Kapitel gezeigt habe); aber es bleibt das hohe Verdienst des
Christenthums, das Gebot der Menschenliebe und Selbstverleugnung
mehr als alle anderen Religionen betont und zu einem der wichtigsten
Kultur-Faktoren erhoben zu haben. Im Laufe von fast zwei
Jahrtausenden hat sich der ethische Werth des echten Christenthums -
trotz aller Verunstaltungen durch seine "Kirche" und deren Diener - so
vielseitig fruchtbar bewährt und ist so eng mit den
verschiedensten Einrichtungen des höheren Kulturlebens
verwachsen, daß es in der Hauptsache deren Grundlage auch in der
Zukunft bilden wird.
Anders ist der Werth des dogmatischen Christenthums, welchem
als Hauptpflicht der blinde Glaube an einen bunten orientalischen
Sagenkreis gilt, an Wunder und Zaubermärchen und an
Legenden von übernatürlichen Erscheinungen, welche im
Lichte der reinen Vernunft als unmöglich erscheinen. Dieses
dogmatische Lehrgebäude ist im Laufe des neunzehnten
Jahrhunderts haltlos zusammengebrochen. Die scharfsinnige Kritik der
Kirchengeschichte hat gelehrt, daß die Lehren des Alten und Neuen
Testaments auf Traditionen von sehr verschiedenem Alter und Werthe
beruhen. Die Archäologie des Orients hat nachgewiesen, daß
ein großer Theil der Bibel von Babel stammt und daß der
Monotheismus der Hebräer schon lange vor Moses in Babylon
Wurzel hatte. Die kritischen Forschungen nach dem "Leben Jesu" haben
uns überzeugt, daß diese herrliche Ideal-Figur des
christlichen Trinitäts-Glaubens nicht der "Sohn Gottes", sondern
ein edler Mensch von höchster sittlicher Vollkommenheit war (-
vorausgesetzt die historische Existenz seiner Person, die doch auch von
kritischen Theologen bestritten wird! -). Die fortgeschrittene Kosmologie
und Astronomie hat das geocentrische Himmelsbild des Alterthums
ebenso zerstört, wie die moderne Biologie des anthropocentrische
Menschenbild des Christenthums. Endlich hat uns die
Entwickelungslehre bewiesen, daß das Menschengeschlecht weiter
nichts ist, als ein spät aus Primaten-Ahnen entstandener Zweig
des Säugethierstammes, und daß die Seele der einzelnen
Person ebenso wenig unsterblich sein kann, wie die der anderen
Wirbelthiere.
Dieser fundamentale Gegensatz der modernen Wissenschaft gegen den
christlichen Wunderglauben ist nicht nur durch die unbefangenen
Forschungen der verschiedensten historischen und philosophischen
Autoritäten zur Gewißheit geworden, sondern auch durch die
kritischen Untersuchungen des bedeutendsten christlichen Theologen
selbst; ich erinnere nur an die bahnbrechenden Deutschen David
Strauß und Ludwig Feuerbach, an den Franzosen
Ernst Renan und den Engländer Stewart Ross. Der
Letztere hatte 1896 unter dem Pseudonym Saladin eine
besonders scharfe "kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen Religions-Gebäudes auf Grund der Bibelforschung"
gegeben. Daß ich mich in meinem 17., besonders hart angegriffenen
Kapitel mehrfach auf diese Autorität bezogen habe, ist mir von
meinen theologischen Gegnern zum allerschwersten Vorwurf gemacht
worden. Wie weit dieser fachlich berechtigt ist, vermag ich nicht zu
entscheiden, da die spezielle Theologie mir fern liegt. Ich kann nur
entgegnen, daß erstens Saladin unzweifelhaft ein sehr
vielseitig gebildeter Theologe ist, und daß andererseits seine
unumwundene Kritik der Bibel, besonders der klare Nachweis
unzähliger Irrthümer und Widersprüche in diesem
"Wort Gottes", dem unbefangenen gesunden Menschenverstand ohne
Weiteres einleuchtet. In vielem Einzelnen hat gewiß Saladin
(- zu dem ich keinerlei persönliche Beziehungen habe -) ebenso
geirrt, wie alle anderne Bibel-Ausleger. Auch muß ich vielfach den
gehässigen Ton seiner scharfen Angriffe auf "Jehova's Gesammelte
Werke" mißbilligen. Wenn aber jetzt evangelische und katholische
Theologen diesen englischen Kollegen in der heftigsten Weise angreifen
und mit den derbsten Schimpfwörtern beehren, so dürften
sie daran zu erinnern sein, daß sie unter sich vielfach gegenseitig
in gleicher Weise verfahren. Von demselben Ton und Werth sind die
Bannflüche, welche der römische Papst gegen alle
Andersgläubigen schleudert, und die Verdammungs-Urtheile, mit
denen die orthodoxen Häupter der evangelischen Synoden die
liberalen Theologen des Protestanten-Vereins belegen.
Unzweifelhaft besitzen viele Sagen und Legenden der "Biblischen
Geschichte" (- nicht alle! -) einen hohen ethischen und namentlich
pädagogischen Werth, ebenso wie viele Mythen und
Erzählungen anderer Religionen, und wie diejenigen des
klassischen Alterthums. Auch sind die Phantasie-Gebilde derselben von
höchster Bedeutung für alle Zweige der Kunst, der
Dichtkunst und der Tonkunst ebenso wie der bildenden Kunst. Wir
verdanken ihnen eine Fülle der herrlichsten Schöpfungen
des Menschengeistes; und für unser Gemüth ist diese
Ideal-Welt eine unerschöpfliche Quelle der Erbauung und
des Trostes inmitten unseres unvollkommenen realen Lebens. Aber
dieselben Ideal-Gebilde bergen in sich die höchsten Gefahren,
wenn sie als reale Wahrheiten gepredigt werden, von deren
Anerkennung Seligkeit oder Verdammnis abhängt; und wenn sie
zur Grundlage oder gar zur Voraussetzung der Wissenschaft
gemacht werden. Dann gleitet die letztere unaufhaltsam auf der schiefen
Ebene der Mystik in die Arme des Aberglaubens; sie wird zur
Todfeindin der reinen Vernunft.
Vollends verderblich werden diese Ideal-Gebilde der Dichtung,
wenn sie als übernatürliche "Offenbarungen" gedeutet und
von der praktischen Vernunft zu politischen und weltlichen Zwecken
gemißbraucht werden. Dann entwickelt sich jenes verderbliche
Uebergewicht der geistlichen über die weltliche Macht, jene
unzähmbare Herrschsucht der Kirche, welche den Staat lediglich
zu ihren egoistischen Zwecken ausbeutet. Je höher und
anspruchsvoller sich die einheitliche Organisation der Kirche erhebt,
desto gefährlicher wird sie für den von ihr bedrohten
Kulturstaat. Das lehrt vor Allem die Geschichte des Papismus oder
Ultramontanismus, der großartigsten und erfolgreichsten
Hierarchie in der gesammten Kulturgeschichte.
Der Hinweis auf diese größte Gefahr der modernen Kultur
erscheint gerade jetzt geboten, wo im deutschen Reichstage des
römische Centrum den Ausschlag giebt, und wo diese politische
Partei den Deckmantel der Religion benutzt, um jede freie Entwickelung
der modernen Kultur zu hemmen und den denkenden Geist in Fesseln zu
schlagen. Täglich wird dieser Kulturkampf
gefahrdrohender. Die leitenden Staatsmänner der beiden
größten deutschen Staaten, ebenso des überwiegend
protestantischen Preußens, wie des katholischen Bayerns, weichen
in unbegreiflicher Verblendung und Feigheit vor den maaßlos
frechen Angriffen der ultramontanen Kirche zurück, und der
jammervolle Reichstag fördert diese Niederlagen. Während
in dem republikanischen Frankreich die einsichtige und energische
Regierung den römischen Klerus zum Gehorsam gegen die
Staatsgesetze zwingt und den vatikanischen Todfeind der modernen
Kultur mit fester Hand niederhält, geschieht in dem
monarchischen Deutschland das Gegentheil. Der deutsche Reichstag, der
sich mit vielen Debatten (z. B. über die "Lex Heinze") vor der
ganzen gebildeten Welt lächerlich gemacht hat, fordert beharrlich
vom Bundesrat die Zulassung der Jesuiten, die selbst in vielen
katholischen Staaten wegen ihres gemeingefährlichen Treibens
immer wieder ausgewiesen werden. Dagegen werden die Altkatholiken,
welche die ursprüngliche katholische Religion in ihrer Reinheit
wieder herstellen wollen, und deren Förderung im eigensten
Interesse des Staates läge, von diesem im Stich gelassen. Die
Reichsregierung läßt sich von den Schmeichelworten des
römischen Papstes und seiner Bischöfe umgarnen und macht
ihren gefährlichsten Feinden die größten Koncessionen.
Dieser bedauerlichen Sachlage gegenüber muß der energische
Kampf gegen den Ultramontanismus allen Vaterlands-Freunden
zur sittlichen Pflicht gemacht werden. Denn dieser mächtige Feind
der höheren Geisteskultur ist viel gefährlicher als die Social-Demokratie. Das hat einleuchtend Graf von Hoensbroech gezeigt,
der in seinem großen Werk "Das Papstthum in seiner social-kulturellen Wirksamkeit" (Leipzig 1901) auf Grund der sichersten
historischen Quellen den ganzen ungeheueren Trug der römischen
Hierarchie entlarvt hat. Wohin dieselbe unsere Sittlichkeit führt,
zeigt die bekannte Liguori-Moral (vergl. Graßmann,
sowie die Wiesbadener Vorträge von Friedrich Nippold:
"Prinz Max von Sachsen und Prälat Keller als Vertheidiger der
Liguorischen Moral").
Die mächtigste Waffe in diesem neuen Kulturkampfe bleibt die
Aufklärung und Bildung des Volkes; kein Weg führt sicherer
zu derselben, als derjenige der unbefangenen Natur-Erkenntniß,
und vor Allem ihrer jüngsten herrlichen Frucht, der
Entwickelungslehre. Wenn in diesem heißen Kampfe der
laute Ruf erschallt: "Völker Europas, wahrt Eure heiligsten
Güter", - so können wir von unserem monistischen
Standpunkt aus darunter nur die Wahrung der Vernunft
gegenüber dem Aberglauben verstehen. Unser Monismus
ist im Sinne von Goethe zugleich der reinste Monotheismus. In
diesem Sinne mag auch diese neue Ausgabe der Welträthsel - als
ein ehrliches und offenes "Glaubensbekenntniß der reinen
Vernunft" - dazu dienen, in weiten Kreisen die veredelnde Bildung des
Volkes zu heben und den Kultus unserer idealen Gottheit zu
fördern, der Dreieinigkeit des Wahren, Guten und
Schönen!
Jena, am 2. April 1903.
Ernst Haeckel.
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