Kapitel 34: Neurogenetik

34.5 Verhaltensgenetik

34.5.1 Genetik und Verhalten: Grauzone zwischen Naturwissenschaft, Politik und Philosophie

Kein anderes Thema der Genetik ist mehr umstritten als die Frage, welchen Anteil das Genom am individuellen Verhalten und der Persönlichkeitsentwicklung hat.

Bis in die 60er Jahre setzte sich eine Auffassung des Menschen und seiner Persönlichkeit als von der Gesellschaft und frühkindlichen Erfahrungen geprägt durch, die sich im Kern auf die psychoanalytischen Theorien der Sozialisation von Sigmund Freud und Ernst Jung stützte. Die resultierende Philosophie suchte die Ursachen für Persönlichkeitskonflikte, asoziales Verhalten, Sucht, sowie neurotische und psychotische Persönlichkeitveränderungen ausschließlich im engeren sozialen Umfeld, der Erziehung und der Entwicklung der Betroffenen. Erbliche Faktoren wurden dabei allenfalls als prädisponierende Randbedingungen gesehen, nicht aber als auslösende Kriterien. Mit der immer tiefer gehenden Analyse des menschlichen Genoms bis zur molekularen Ebene war es nur eine Frage der Zeit, bis die Thematik der Verhaltensbiologie und Psychologie des Menschen auf der Ebene der modernen Genetik neu aufgegriffen wurde.

Von herausragendem medizinischen Interesse ist die genetische Grundlage von neurotischen oder psychotischen Erkrankungen, welche die Betroffenen oft in unsagbares Elend stürzen, oder deren Behandlung mit psychoaktiven Pharmaka von persönlichkeitsentstellenden Nebenwirkungen begleitet sein kann. Während die Diagnose und Definition solcher Krankheiten durch eindeutige Symptome relativ einfach und unumstritten ist, existiert daneben ein riesiges Feld von exzentrischen Verhaltensweisen, deren Interpretation und Definition als "abnormal" durch das jeweilige soziale Umfeld immer wieder zu Diskriminierung führt. Die vorurteilsbehaftete Ächtung von Personen oder Menschengruppen aufgrund vermuteter erblicher "Belastung" hat in der Vergangenheit mehrfach zu Verfolgung, Diskriminierung und Euthanasie geführt. Totalitäre Staaten haben "Dissidenten“ unter dem Vorwand von Gemütskrankheiten in psychiatrische Anstalten verbannt. Die zunächst rein theoretisch bestehende Möglichkeit, Persönlichkeitsmerkmale aufgrund von genetischen Analysen zu diagnostizieren, ist deshalb ein zweischneidiges Schwert.

Am besten illustrieren läßt sich die Problematik mit einem Beispiel aus neuerer Zeit: 1993 berichtete die renommierte Zeitschrift Science in einem Artikel des amerikanischen Genetikers Dean Hamer über Hinweise auf eine X-chromosomale Vererbung von homosexueller Neigung bei Männern. Die Studie stützte sich auf statistische Stammbaumanalysen einer großen Gruppe homosexueller Männer und ihrer Familien. Die wissenschaftliche Grundlage dieser Studie soll an dieser Stelle weder angezweifelt noch diskutiert werden, sondern vielmehr die Reaktionen verschiedener sozialer Interessengruppen (s. Literaturhinweise zur Diskussion der Methoden und Validität dieser Untersuchungen). Die Betroffenen selbst reagierten größtenteils enthusiastisch, denn die Grundlage einer angeborenen sexuellen Präferenz gäbe dieser Neigung den Charakter einer "natürlichen" und nicht frei gewählten Verhaltensweise außerhalb persönlicher Entscheidung und Verantwortung, die durch grundlegende Menschenrechte geschützt ist. Umgekehrt würde die zitierte Möglichkeit eines "Gentests" einer systematischen und prophylaktischen Diskriminierung Tür und Tor öffnen. Im englischen Parlament gab es Versuche, ein Gesetz zum Verbot der Nutzung genetischer Information zu verabschieden. Auf der Gegenseite wurde die Meinung vertreten, man solle das genetische Wissen im Interesse der Fortpflanzung zu Diagnose und "Behandlung" aberranter Verhaltensweisen einsetzen. Doch welche psychischen Schäden entstehen bei Betroffenen, wenn die punktuelle genetische Diagnose nicht dem Phänotyp entspricht? Vor voreiligen Schlüssen aus Publikationen über "Verhaltensgene“ und sogar vor einer bewußten Irreführung und einem "willkürlichen Mißverstehen der Genetik", wie bereits in der Geschichte geschehen, kann nur gewarnt werden.

Das vorliegende Kapitel soll durch sachliche Information helfen, sich selbst kritisch mit dem Problemfeld "Verhaltensgenetik“ auseinanderzusetzen. Auch hier werden wieder einfache Modellsysteme für die Grundlagenforschung herangezogen, so wird u.a. das Paarungsverhalten von Fliegen und das Brutpflegeverhalten von Mäusen besprochen. Die genetischen Grundlagen der "inneren Uhr“ werden ebenso behandelt wie diejenigen von Lernverhalten, wobei die Verschränkung von genetischen und umweltbedingten Faktoren für Verhalten deutlich werden sollte.

Kapitel 34: Neurogenetik
 
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