Kapitel 34: Neurogenetik

34.3.4 Genetische und epigenetische Mechanismen der Weg- und Zielfindung wachsender Axone

Wie wir gesehen haben, hat die Gehirnanlage -auch bei Vertebraten- eine deutlich segmentale Organisation. Diese tritt jedoch zunehmend hinter der funktionellen Organisation zurück, die sich durch Zuwanderung und Bildung der zellulären Fortsätze der Nervenzellen, der Dendriten und Axone, herausbildet. In dem vorliegenden Abschnitt soll exemplarisch am Beispiel des axonalen Wachstums verdeutlicht werden, wie die genetischen Randbedingungen der epigenetischen Spielregeln die richtigen funktionellen Verknüpfungren im Nervensystem garantieren. Die auswachsenden Axone haben häufig enorme Wegstrecken zurückzulegen (bei großen Säugetieren sind bei der Regeneration von Nerven mehrere Meter möglich). Im Zielgebiet angekommen dürfen sie im allgemeinen nicht mit allen Zellen synaptische Kontakte eingehen, sondern nur mit wenigen Auserwählten. Dementsprechend unterscheidet man drei Phasen bei der Herstellung von neuronaler Konnektivität:

  • Axonale Wegfindung (pathway selection),
  • Zielgebietserkennung (target selection),
  • Erkennung der Zielzellen (address selection).

Vor allem bei Vertebraten kommt die Wanderung undifferenzierter Neurone zu ihrer endgültigen Position als Problem hinzu. Besonders weite Wege haben die Neurone des peripheren Nervensystems, die in der Neuralleiste entstehen und von dort zu den Ganglien des peripheren Nervensystems wandern, zurückzulegen. Die Faktoren, welche die grundlegenden Prozesse (Chemotaxis und/oder Kontaktführung) regulieren, sind denjenigen verwandt, die auch an der Axonogenese beteiligt sind. Die Behandlung der axonalen Wegfindung in diesem Kapitel trägt deshalb konzeptionell auch zum Verständnis der Zellwanderung bei.

Die genetische Implementierung dieser Prozesse ist nicht nur eine spannende Frage für die Grundlagenforschung, sondern auch von akutem medizinischen Interesse, da sie auch bei Regenerationsprozessen, also nach Verletzungen, wichtig werden.

Beliebte Versuchsobjekte, an denen Probleme axonalen Weg- und Zielfindens veranschaulicht werden können, stellen die Nervenverbindungen vom Auge zum Gehirn bei Vertebraten (Abb. 34-35) und Invertebraten (Abb. 34-36) dar. Die Auge-Gehirn-Verbindungen sind in besonders eindrucksvoller Weise topologisch, hier spricht man von retinotop, geordnet. Das bedeutet, daß die Verbindungen vom Auge zu den nachgeschalteten Gehirnregionen so angelegt sind, daß die Nervenendigungen im Gehirn die Nachbarschaftsbeziehungen ihrer Zellkörper in der Retina widerspiegeln. Die Retinotopie wird über mehrere Schaltstationen beibehalten. Gleichzeitig findet noch eine Aufspaltung in parallele Funktionskanäle statt, was sich in der Ausbildung synaptischer Schichten widerspiegelt (s. z.B. Abb. 34-36). Diese geordnete Verdrahtung ist die Grundlage für die neuronale Bildanalyse in allen Sehsystemen. Auswachsende visuelle Nervenfasern müssen mehrere Aufgaben bewältigen. Sie müssen ihren Weg zum Zielgebiet und dort die richtige retinotope Position finden und schließlich nur mit solchen Zellen Kontakte herstellen, die zum gleichen Funktionskanal gehören. Sie müssen in der richtigen visuellen Säule in der richtigen Schicht ihre spezifische(n) Zielzelle(n) auffinden. Dies kann durch ein zellautonomes Wachstumsprogramm nach der Art „25 µm geradeaus, dann 2 µm links etc.“ nicht geleistet werden, sondern es müssen molekulare Erkennungsmechanismen gefordert werden. Auch strukturelle Gehirnmutanten (Abb. 34-37) machen dies deutlich. Durch Mutation bedingte Wegabweichungen können von Axonen korrigiert werden. Regulation statt Steuerung ist offensichtlich.

Bereits vor mehr als hundert Jahren postulierte Ramon y Cajal (1893), daß Nervenfortsätze sich bei ihrem Wachstum an chemischen Gradienten orientieren. Er gelangte zu dieser Vorstellung durch seine genauen mikroskopischen Beobachtungen. 1963 formulierte dann R.W. Sperry die Chemoaffinitätstheorie, die besagt, daß wachsende Axone ihre Zielzellen aufgrund chemischer Markierungen erkennen können. Basis für diese Hypothese waren Experimente am Frosch. Bei Amphibien besitzen die Sehfasern die Fähigkeit, nach einer Verletzung zu regenerieren. Wurde der optische Nerv der Frösche durchtrennt und das Auge um 180° gedreht, stellten die Axone trotzdem die alte Verschaltung im Tectum wieder her. Gezeigt wurde dies von Sperry mit Verhaltensexperimenten. Wenn ein Beutetier (eine Fliege) einem normalen Frosch von oben angeboten wurde, sprang er nach oben. Nach Operation, Augendrehung und Regeneration sprang er jedoch nach unten (Abb. 34-38). Offensichtlich waren die Axone in der Lage gewesen, ihre alten Zielgebiete im Tectum wiederzufinden. Sie wählten nicht neue, die Drehung kompensierende Zielgebiete. Die Attraktivität zwischen wachsender Nervenfaser und Zielgebiet war also „genetisch“ vordefiniert und nicht, wie wir heute sagen würden, aktivitätsabhängig.

Andererseits ist in den letzten Jahren zunehmend deutlich geworden, daß aktivitätsabhängige Prozesse beim „Tuning“ und „Zurechtstutzen“ der präsynaptischen axonalen Endbäumchen, also bei der Erkennung der richtigen Zielzellen (address selection), eine wichtige Rolle spielen. Die genetischen Faktoren, die für die aktivitätsunabhängige Wegfindung und Zielerkennung identifiziert wurden, sind zum Teil die gleichen, die an der aktivitätsabhängigen Feinverdrahtung beteiligt sind. Letzteres ist ein Prozeß, der viel mit den molekularen und zellulären Prozessen zu tun hat, die dem Lernvermögen von Organismen zugrundeliegen. Er wird deshalb unter anderem Blickwinkel auch in Abschnitt 34.5.5 besprochen. Der Schwerpunkt des vorliegenden Abschnitts liegt auf den genetischen Grundlagen für die aktivitätsunabhängigen Mechanismen, „pathway selection“ und „target recognition“. Es kann gezeigt werden, daß die zeit- und ortsspezifische Regulation der Expression von Oberflächenmolekülen und extrazellulären Stoffgradienten den Schlüssel zum Verständnis dieser Prozesse liefert.

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