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Stephan Steinhoff-Hanses

Religion in der Schule:
Die Freiheit zu glauben. Das Recht zu wissen

Der Religionsunterricht:
Das Fragen nach Gott wachhalten

Kinder und Jugendliche werden heute mit einer Situation konfrontiert, in der Orientierung schwerfällt. Gerade sie aber suchen nach Orientierung, wollen Antworten auf ihre Fragen, ja haben ein Recht auf klar formulierte Positionen, mit denen sie sich auseinandersetzen können. Mit ihrem häufig klaren und unverstellten Blick auf die Welt erkennen sie, wenn auch oft ohne dies ähnlich klar artikulieren zu können, dass die Sinnfrage sich nicht erst und nur in den Grenzsituationen von Tod und Leid stellt. Mit einem ausgeprägten Gespür für Gerechtigkeit etwa fragen sie danach, was gut und böse ist, wie man das eine vom anderen unterscheidet, um sich entscheiden zu können. Sie suchen ihren Platz in der Welt und wollen wissen, woher diese Welt kommt, die sie mehr und mehr auch als die ihre begreifen und zu ihrer machen, in der sie Behaustheit und Geborgenheit suchen. Und sie interessieren sich dafür, was aus dieser Welt wird, was die Zukunft bereithält und wie sie Einfluss nehmen können darauf. Sie hinterfragen die Ordnungssysteme im Kleinen wie im Großen, untersuchen Traditionen, erforschen die geistigen Grundlagen unserer Gesellschaft, dessen, was auch sie selbst und ihr Denken prägt. Sie verstehen sich zunehmend mehr als Kultur- und Naturwesen und stoßen bis zur Frage vor, was der Mensch denn nun eigentlich sei. Und, und, und...
Eine allzu idealistische Sicht der Dinge? Möglich, aber zugleich Ausdruck ungebrochener Hoffnung auf die Neugier und das Engagement der nachwachsenden Generation.
Wo aber ist Auseinandersetzung mit diesen Fragen möglich? Wo geschieht das unter kompetenter Anleitung? Wo findet sich der klare Bezugsrahmen für diese grundsätzlichen Fragen? Und wo hören sie Antworten, die von ihnen selbst verlangen, auf Dauer klare Positionen zu beziehen?
Der ideale Ort dafür ist der Religionsunterricht. Selbstverständlich nicht der alter Machart, jener Mischung aus katechetischer Unterweisung und frommer Bibelkunde, sondern ein von zeitgemäßer Methodik und Didaktik geprägter Unterricht, theologisch-wissenschaftlich verantwortet und auf der Grundlage durchdachter religionspädagogischer Konzepte. Und es liegt ja auf der Hand: Wer heute Religion unterrichten will, muss fachlich und pädagogisch gut sein und ist es in aller Regel auch. Wer heute den Kredit bei den Eltern und Schülern nicht leichtfertig verspielen will, muss um das Profil seines Unterrichts bemüht sein. Es dürfte kaum ein anderes Fach geben, in dem die Unterrichtenden vielfältiger gefordert und keines, in dem sie in vergleichbarer Weise persönlich gefragt sind.
Wo aber ist der entscheidende Unterschied zu einem lebenskundlichen, religionskundlichen Unterricht, der auch wichtige ethische Probleme mit einbezieht, sich aber, ganz der Diagnose postmoderner Befindlichkeit entsprechend und in pluralistischer Unangreifbarkeit auf die Position weltanschaulicher und religiöser Neutralität zurückzieht, dem fragenden jungen Menschen also gleichsam den Markt der möglichen Lebensentwürfe öffnet, sie ihm zur freien Auswahl anbietet?
Er liegt in der einzigartigen Chance, sich mit einer klaren Position und eindeutigen Aussagen auseinandersetzen zu können. Identitätsbildung geschieht durch Identifikation, aber nicht zuletzt auch durch Widerspruch, durch Reibung. Das setzt ein ernstzunehmendes Gegenüber voraus, jemanden, der nicht scheinbar hinter die "Sache" zurücktritt, sondern sich selbst mit ihr identifiziert und für sie einsteht.
Es mag viele gründlich reflektierte und nachvollziehbare Argumentationen geben, warum wir mit unserem Lebensraum Erde sorgsam umgehen sollten. Begreifen wir Welt als Gottes Schöpfung und uns als seine mit freiem Willen ausgestattete Geschöpfe, so haben wir den Auftrag, die Erde zu bewahren und werden persönlich von dem darauf verpflichtet, der sie erschaffen hat.
Genauso gibt es viele einsichtige Überlegungen, warum der andere, der fremde Mensch in seiner Andersheit und Fremdheit zu akzeptieren ist. Sehe ich im anderen aber Gottes Ebenbild und weiß ich als Christ darüberhinaus, dass Gott selbst Mensch geworden ist, erkenne ich den letzten, tragenden Grund für das Zusammenleben aller Menschen, werde fähig zu liebender Zuwendung und Annahme.
Es gibt viele Spekulationen über ein Leben nach dem Tode, faszinierende und erschreckende. Zu wissen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, dass eine größere rettende Wirklichkeit mich schon in diesem Leben umfängt und trägt, hat nichts Spekulatives mehr, wird zur im Glauben tragenden Gewissheit.
Drei Beispiele von vielen möglichen, die eins zeigen sollen: Wenn es um die Selbstwerdung des jungen Menschen und seine Befähigung zur Lebensbewältigung geht, hat der Religionsunterricht gegenüber einem um weltanschauliche Neutralität bemühten Ersatzfach oder -unterricht entscheidende Vorteile. Er fordert letztlich Entscheidung, weil er mit einem Bekenntnis konfrontiert. Er bindet existentielle Fragen zurück an die persönliche Glaubwürdigkeit des Unterrichtenden und entbindet sie so von aller Abstraktheit und Lebensferne. Er hat nicht nur eine Fülle von Bezugswissenschaften, sondern vor allem aber eine klare, erste Bezugswissenschaft, die Theologie. Er befähigt zu Auseinandersetzung mit einer relevanten gesellschaftlichen Größe, der Kirche bzw. den Kirchen mit ihrer konkreten Wirklichkeit vor dem Anspruch des Evangeliums. Ausgehend vom kritischen und emanzipatorischen Potential des Glaubens hilft er vordergründige, falsche und fragwürdige Ansprüche (Konsum, Erfolg, Leistung) zu entlarven, gibt Anstöße zur Umkehr, zur Veränderung und zur Ausrichtung auf die Zukunft.
In all dem aber stellt er dem Menschen Gott an die Seite, der ihm in Wort und Tat verbunden ist. Er bleibt dabei Angebot und Einladung zur freien Annahme. Wer ja sagt, weiß sich liebevoll angenommen auch im Scheitern und Versagen, ist der unlösbaren Aufgabe enthoben, sich nur selbst tragen und erlösen zu müssen. Wie wir Mensch sein können aber hat uns Jesus Christus vorgelebt.
Wer nein sagt, weiß wozu er nein sagt, entscheidet sich, begründet und verantwortet, verharrt aber nicht in der wohligen Indifferenz des Pluralismus.
So betrachtet hat ein junger Mensch ein Recht auf Religionsunterricht (Art. 4 des Grundgesetzes). Es geht nicht um ein Privileg der Kirchen, es geht auch nicht um das Interesse von Staat und Gesellschaft, junge Menschen zu willigen und anpassungsbereiten (Staats-)bürgern zu erziehen, sondern es geht um die Freiheit des unabhängigen Blickes auf diese Welt und Menschheit, den nur die gemeinsame Vergewisserung eines letzten, lebenstragenden Grundes gewährleisten kann. Dass das nur in der konkreten Form der Religion, hier im geschichtlich gewachsenen und in der Regel konfessionell geprägten Glauben der Kirche(n) geschehen kann, ist angesichts unserer geistesgeschichtlichen und kulturellen Traditionen eine bare Selbstverständlichkeit. Genauso selbstverständlich aber sollte sein, dass Konfessionalität heute alles andere als enge Beschränkung und exklusive Selbstbezüglichkeit bedeutet. Voraussetzung für einen offenen Dialog ist jedoch die klare Beschreibbarkeit des eigenen Standpunktes, nur von dort aus können die entscheidenden, produktiven
Schritte aufeinander zu getan werden. Religionsunterricht kann nicht die Trennung der Kirchen aufheben, die Zusammenlegung evangelischer und katholischer Lerngruppen hat noch nichts mit Ökumene zu tun. Durch eine offene, partnerschaftliche Ausrichtung und Konzeption, die Bereitschaft zum Gespräch und zu sinnvoller Kooperation kann er vielmehr helfen, den ökumenischen Prozess voranzubringen. Alle Unterschiede einfach einzuebnen, geht nicht nur an den geschichtlichen Tatsachen vorbei, es missachtet auch die Lebensgeschichte des einzelnen und dessen konfessionelle Prägung.
Für die wachsende Zahl der nicht getauften Kinder und Jugendlichen und auch für diejenigen, die in von der Lebenspraxis her areligiösen Familien aufgewachsen sind, stellt sich die Frage nur auf den ersten Blick anders. Die einfache Gleichung aufzumachen, dass ein wie auch immer gestaltetes Ersatzfach das natürliche "Auffangbecken" für diese Schülerinnen und Schüler sei, ignorierte die oben entwickelte Argumentation. Immer häufiger wird der Religionsunterricht der womöglich einzige Ort sein, wo die Begegnung mit der befreienden Kraft des Glaubens auch für diese Schülergruppe möglich wird. Zugleich aber sollten die der Orientierung dienenden Fächer sich in einer Kooperation üben, die zum Modell für das Mit- und Nebeneinander unterschiedlicher Orientierungen in einer offenen und pluralen Gesellschaft werden kann. Der Religionsunterricht kann dabei nur gewinnen, vor allem dann, wenn sein unverwechselbares Profil deutlich wird.
Eines muss bei alldem klar bleiben: Religionsunterricht kann die gelebte Glaubensgemeinschaft nicht ersetzen. Die genuinen Orte religiöser Identifikation bleiben die Familie, die Gemeinde, der Gottesdienst, das sozial-caritative Engagement. Der im Unterricht vermittelte Sinnhorizont muss sich im konkreten Leben bewähren. Jammern und Klagen über die vermeintlich schlechten Zeiten für Glaube und Religion nutzt dabei wenig. Es kommt darauf an, da, wo man steht, deutlich werden zu lassen, dass der Glaube gut tut, dass er zu leben hilft, dass er Antworten bereithält auf die tiefempfundene Ahnung, es müsse doch mehr als alles geben. Das glaubwürdige und gelebte Bekenntnis von Christinnen und Christen in dieser säkularen Gesellschaft und ihr offensives Einstehen für den Glauben hilft dem Religionsunterricht am meisten. Da, wo an die Stelle einer defensiven und apologetischen Haltung- geprägt von der Angst um den Verlust sicher geglaubter gesellschaftlicher Positionen - eine positive, selbstbewusste Haltung tritt, die die befreiende und erlösende Kraft christlichen Glaubens spürbar und erfahrbar werden lässt, überall da wird Entscheidendes auch für den Religionsunterricht getan. Und da liegt die Aufgabe der Gemeinden die spirituelle Grundlage zu schaffen für die Fragen, die der Religionsunterricht den jungen Menschen zu beantworten sucht, wenn es um einen gelebten und zugleich intellektuell verantworteten und befragten Glauben geht.
(In: Profil. Das Magazin für Gymnasium und Gesellschaft 6 (1997)

 

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