16.2.10
Erste Tübinger Grabungskampagne im antiken
Sigeion bei Troia
Funde belegen zentrale Schaltstelle für den
Schwarzmeerhandel
Ein Grabungsteam um Prof. Dr. Thomas Schäfer vom Institut
für Klassische Archäologie der Universität Tübingen
führte im November und Dezember 2009 eine erste Grabungskampagne
im antiken Sigeion durch. Diese Stadt liegt nur wenige Kilometer
von Troia entfernt direkt an den Dardanellen und kontrollierte
in der Antike den gesamten Handel und Verkehr mit dem Schwarzen
Meer. Bei der Grabungskampagne wurden die antiken Schichten erreicht
und erste Grundmauern von griechischen Häusern der klassischen
und archaischen Zeit freigelegt. Von herausragender Bedeutung
war der Fund einer hellenistischen Ehreninschrift, die nicht
nur die Existenz der Stadt Sigeion noch im dritten Jahrhundert
vor Christus bezeugt, sondern auch die Herkunft aus dem berühmten
Heiligtum der Athena von Sigeion. Die Wissenschaftler hoffen,
dieses Heiligtum in den kommenden Jahren lokalisieren zu können.
Die Bedeutung des Forschungsvorhabens, das bereits seit 2005
läuft und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt
wird, liegt in der seltenen Chance, eine historisch bekannte
und bedeutende Stadt exemplarisch zu erforschen, die nur in einem
fest umrissenen Zeitraum von kaum mehr als 400 Jahren existierte
(vom 7. Jh. bis zum 3. Jh. v. Chr.) und in römischer und
byzantinischer Zeit nicht mehr überbaut wurde. Wegen seiner
exponierten strategischen Lage wurde Sigeion mehrfach angegriffen.
Die Stadt war ohne die Möglichkeit von Subsistenzwirtschaft
und bedeutende Ressourcen auf die Schlüsselstellung für
den regen Schwarzmeerhandel und die daraus resultierenden Einnahmen
angewiesen. Sigeion war wie nur wenige Städte unterschiedlichsten
politischen, militärischen und kulturellen Einflüssen
ausgesetzt. Dass Sigeion eine Schaltstelle des Schwarzmeerhandels
und damit eines bedeutenden Kulturtransfers war, bestätigen
die bislang ausgegrabenen Keramikfunde.
Die ersten Jahre des Forschungsvorhabens dienten archäologischen
Oberflächenbegehungen, die durch geophysikalische Tiefensondierungen
mit Radar und Geomagnetik ergänzt wurden. Im November 2009
gelang es schließlich, vom türkischen Kultusministerium
eine der äußerst selten erteilten neuen Grabungslizenzen
zu erhalten.
Sigeion ist eine Gründung des späten 7. Jahrhunderts
vor Christus, entweder durch Mytilene auf Lesbos oder Athen.
Beide Städte rangen jahrzehntelang um die Kontrolle der
Stadt. Alkaiaos von Mytilene, der Dichterkollege und Landsmann
der berühmten Sappho, verlor dabei seinen Schild, den die
siegesbewussten Athener dem Heiligtum der Athena von Sigeion
weihten. Ab 530 v. Chr. wurde die Stadt unter der Herrschaft
des athenischen Tyrannen Peisistratos endgültig attisch.
Sein Sohn Hippias floh hierher, als er im Jahre 510 v. Chr. von
den sich neu etablierenden Demokraten aus Athen vertrieben wurde.
Sigeion war Mitglied des ersten delisch-attischen Seebundes und
wurde in den Tributlisten zwischen 475 und 418 v. Chr. mit einem
jährlichen Beitrag von 1000 bis 6000 Drachmen geführt.
Dies lässt auf die Zahl von etwa 2500 Bürgern schließen.
Seit 355 v. Chr. herrschte der Tyrann Chares in Sigeion, der
sich 334 v. Chr. Alexander dem Großen unterwarf. Im dritten
Jahrhundert v. Chr. verlor die Stadt ihre Unabhängigkeit
an das wieder gegründete benachbarte Ilion/Troia, wohin
die ehemaligen Bewohner Sigeions zwangsweise umsiedelten. Auf
dem Platz der antiken Stadt wurde ein neuzeitliches Dorf errichtet,
das bereits 1915 während der Kämpfe um die Dardanellen
zerstört wurde. Michael Seifert,
Eberhard Karls Universität Tübingen |