Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens

Im Folgenden geht es um die Geschichte eine Gedichtes, das mich immer wieder beschäftigt hat, nicht zuletzt wegen dessen bemerkenswerter Geschichte. Gleichzeitig nehme ich das Gedicht zum Anlass, über andere zu reflektieren, welche auf dem Weg liegen, den dieses hinter sich hat. Der Weg setzt ein mit den ersten spärlichen Reaktionen und endet in der DDR der zu Ende gehenden Honecker-Ära.

I.

Diese Strophen erschienen zuerst im ‘Taschenbuch für das Jahr 1805’ zusammen mit acht anderen Gedichten Hölderlins unter dem Titel ‘Nachtgesänge’.
Charakteristisch für das Gedicht ist der unvermittelt bleibende Gegensatz, sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Der harmonischen geschlossenen Form und Bilderwelt der ersten Strophe steht die Zerrissenheit der zweiten Strophe gegenüber, die Zeilenlängen sind unregelmäßig, die Zeilen stehen mit der Satzgrammatik im Konflikt. Gegenüber der sich selbst genügenden Natur in der ersten Strophe ist das lyrische Ich in der zweiten Strophe rein beobachtend. Es hat an dieser Harmonie keinen Anteil außer dem des Anschauens. Die elegische Selbstreflexion in der zweiten Hälfte des Gedichtes drückt das Gefühl äußerster Vereinsamung aus, die Dinge sind zu Zeichen erstarrt, die nichts bedeuten, nur Kälte und Starre ausstrahlen. Das lyrische Ich weiß nicht, wie es zur Welt steht, es ist auf sich selbst zurückgeworfen und verloren in seiner grundlosen Subjektivität. (1)
Das Gedicht versucht nicht, die Trennung von Welt und Ich in einer höheren Idee aufzuheben, vielmehr wird die existentielle Heimat- und Ratlosigkeit des Menschen als Daseinsbefund offen gelassen. Darin steht das Gedicht außerhalb der ästhetischen Norm seiner Zeit: Es zeigt nicht jene Autonomie der Kunst gegenüber einer schlechten Wirklichkeit, von der aus dem Künstler die Versöhnung von Ideal und Leben im Reiche des ästhetischen Schein gelingt. Der Verfasser solcher Zeilen bleibt vielmehr im schmerzlich Empfundenen stecken, befreit sich nicht aus dessen Unmittelbarkeit und legt somit den Verdacht unzureichender ästhetischer Schaffenskraft, wenn nicht gar, wie wir sehen werden, nachlassender Geisteskraft, nahe.

Schon die wenigen Reaktionen auf die Veröffentlichung der ‘Nachtgesänge’ zeigen Irritation. Dem einen Rezensenten scheinen sie "Laute eines gestörten einst schönen Bundes zwischen Geist und Herz. Daher auch die Sprache schwerfällig, dunkel, oft ganz unverständlich und der Rhythmus eben so rauh." Der andere möchte dem "seltenen Sterblichen, der die neun Gedichte von Hölderlin zu verstehen sich mit Recht rühmen kann" einen stattlichen Preis aussetzen lassen, und würde "selbst den Verfasser nicht von der Mitbewerbung ausschließen"(2). Auch den Verehrern Hölderlins zeigte sich kein glücklicherer Ausweg, als Hölderlins Wahnsinn selbst für das Ungereimte dieser Verse verantwortlich zu machen. Als es 1846 in den von Christoph Theodor Schwab herausgegebenen ‘Sämtlichen Werken’ wieder auftauchte, gehörte es zu den Gedichten ‘Aus der Zeit des Irrsinns’.(3) Und dabei sollte es auch lange bleiben.

In der zwei Jahre später folgenden Monographie von Alexander Jung wird dann auch von dieser Setzung ausgegangen.

"In einfachen, fast nur skizzenhaft, fast kinderspielartig, aber doch malerisch hingeworfenen Zügen veranschaulicht uns der Dichter das Gesagte in den vorliegenden beiden Strophen. So könnte dieses Gedicht als das Erzeugniß eines völlig gesunden wunderbar fein und so zu sagen das Dingliche wie sein eigenes Gemüthsleben empfindenden Zustandes betrachtet werden." (4)

Der Interpret vermag seine Betroffenheit angesichts der Hölderlinschen Verse und der darin sich ausprechenden Seelenstimmung nicht zu verleugnen, und fast ist es ihm, als wäre der Dichter gar nicht verrückt gewesen. Aber wie anders ließe sich die zwar ergreifende, aber doch ungestaltete Anschaulichkeit jener Verse erklären, als durch das schicksalhafte Auseinanderfallen von Schaffensdrang und Geisteskraft?
Auch Wilhelm Dilthey, fast genau ein Jahrhundert nach dem ersten Erscheinen der ‘Nachtgesänge’, empfindet noch den unglücklichen Widerspruch zwischen einer lyrischen Sprache, deren bildliche Intensität durchaus neue Qualitäten aufweist, und einem aus dem Gleichgewicht geratenen Formungswillen.
"Unreguliert gehen Gefühl und Phantasie ihre exzentrische Bahn, in sich gekehrt brütet der Dichter über dem Schicksal", anstatt "große allgemeine Ideale ...im heiteren Lichte des Idealismus der Freiheit" leuchten zu lassen.
"Seine Sprache geht in ihrer bildlichen Stärke bis zu Seltsamen und Exzentrischen. Es ist darin eine eigene Mischung von krankhaften Zügen mit dem Gefühl des lyrischen Genies für einen neuen Stil. Ein paar Zeilen haben sich erhalten, die wohl Bruchstücke eines größeren Ganzen waren, eine flüchtige Niederschrift mit manchen Inkorrektheiten; sie mögen doch diese Richtung Hölderlins zu einer neuen lyrischen Sprache vergegenwärtigen."

Vier Jahre später ist in Dr. med Wilhelm Langes ‘Hölderlin - Eine Pathographie’ zum selben Gedicht zu lesen:

"Das Kranke an diesen Versen kann wohl nur von solchen, die täglich mit Katatonischen umzugehen haben, gleichsam gefühlsmaßig erfaßt werden. Das Ganze steht da als ein imposanter Ausdruck der Vereinsamung; seine Umgebung erschien dem Kranken fremd und rückte in eine unheimliche, unfaßbare Ferne. Die Unfähigkeit zur Abstraktion ließ den Kranken am unmittelbaren sinnlichen Eindruck haften.." (6)

Immer wieder, bis weit ins 20. Jahrhundert, spielt nun das biographische Faktum der Verrücktheit in die Rezeption dieses Gedichtes hinein. Dem auf das Idealische ausgehenden ästhetischen Bewusstsein ist der Text durch seine Offenheit und damit Ungestaltheit fremd, den romantischen Verehrern ist er - seiner Ausstrahlung zum Trotz - verrückt, weil der Verfasser verrückt ist. Immer mehr drängt sich die Kunde vom Wahnsinnigen im Turm zwischen Text und Leser und drückt der Lektüre ihre Zeichen auf. Diese haften dem Gedicht an als Stigma des ästhetischen Misslingens oder als pathologisches Syndrom.

Ein dritter, gänzlich anderer Weg des Verstehens tut sich erst den jungen Intellektuellen des expressionistischen Jahrzehnts auf: Wahnsinn als Sphäre künstlerischer, ja sogar menschlicher Freiheit. Diesen lautstarken und unglücklichen Aufrührern gegen die Welt der Väter und Philister sind Gedicht und Verfasser heilig, weil sie der geistlosen Sphäre des Bürgerlichen ent-rückt sind.


II.

Für Gottfried Benn, der es als Beteiligter wohl wissen darf, beginnt die expressionistische Lyrik in Deutschland mit dem Erscheinen von Alfred Lichtensteins Gedicht ‘Dämmerung’ und Jakob van Hoddis' ‘Weltende’ im Jahr 1911.(1) Für ihn waren es auch die Jahre des ‘Sturms’ und der ‘Aktion’, deren Erscheinen er jeden Monat mit Ungeduld erwartete (2). In Herwarth Waldens Zeitschrift ‘AKTION’ und im Jahre 1911 wird Hölderlins ‘Hälfte des Lebens’ abgedruckt. Mit dieser literaturhistorisch vielleicht marginalen Koinzidenz beginnt die Wiederentdeckung Hölderlins, nun im Lichte eines veränderten Lebensgefühls und einer neuen Ästhetik.(3) Ein Vorschein dieser Auferstehung findet sich in folgendem Gedicht des 17-jährigen Georg Heym:

In diesen Versen ereignet sich die Apotheose des geliebten Dichters zum gemarterten und schließlich erlösten Gottessohn. Sein lichtvolles Dasein in der herrschenden Fisternis, seine tiefere Empfindungsfähigkeit inmitten tierischer Abgestumpftheit müssen unausweichlich den Untergang herbeiführen, dieser ist seine Bestimmung, denn der große Geist, und man darf vermuten: der Künstler, muss der geistlosen Menge zum Opfer fallen. Glücklich derjenige, dessen Sinne ein Gott-Vater mit Wahnsinn umhüllt. Unverkennbar sucht das lyrische Ich die Nähe zum mehrfach mit ‘du’ angesprochenen Heros zu beschwören, er steht auf der Seite des Gemarterten, als empfindsamer Geist teilt er dessen schmerzvolles Dasein. Aber wird ihm ‘auch’ dauerhafte Erlösung zuteil? Wohl nicht, denn gerade das ist ja das Dilemma, die Tragik des modernen, ‘reflektierten’ (Hegel) Geistes, dass er sich des Illusionären aller Versöhnungs- und sonstigen Fluchtwege bewusst ist und in keiner Welt mehr sich gänzlich aufgehoben zu fühlen vermag: So mag dem Modernen vielleicht ein Gott nah sein, aber ein Rettendes wächst ihm von daher noch lange nicht.

Ebenfalls in Herwart Waldens AKTION erscheint 1914 ein Aufsatz über die ‘Ethik des Geisteskranken’. Aber nicht um irgendwelche Geisteskranken geht es dem Autor, Wieland Herzfelde, sondern um jene, "die uns seelisch, ethisch entrückt sind, wie Hölderlin, Nietzsche." Dem Geisteskranken "schlägt die Einbildungskraft Brücken von einer Unmöglichkeit nach der anderen; zahllose Stege baut sie ihm, er wählt, wie`s ihm beliebt... Wieviel ärmer sind wir! Für uns gibt es nur die eine nüchterne, langweilige, unverrückbare, zwingende Wirklichkeit. Dem Künstler gelingt es zuweilen, sich aus den Fesseln des realen Seins zu befreien, doch bald schleppt ihn der Häscher der Notwendigkeit, der Bruder des Philistertums, die phantasielose, seelenfremde Logik wieder zurück in die Armut der nackten Tatsächlichkeit." (4)

Der Wahnsinnige befindet sich im Zustand der seelisch-geistigen Schwerelosigkeit. Das Reich der Notwendigkeit zwingt ihm nicht seine seelenlose Logik auf, es vermag nur seinen Körper zu knechten. Seine Seinsweise negiert die bürgerlichen Tugenden, und seine befreite Phantasie ermöglicht ihm jene rauschhaften Glückserfahrungen, nach denen der heutige Künstler sich vergeblich sehnt. So ist der Geisteskranke der wahre Anti-Bürger und leider auch dessen bevorzugtes Opfer. Das hat er mit dem Künstler gemeinsam. Insofern dessen Schaffen sich nicht mehr auf die symbolischen Gestaltung von anerkannt Allgemeinem richtet, sondern besessen aus der Unmittelbarkeit seiner je eigenen Befindlichkeit schöpft, muss seine Existenz gesellschaftlich fragwürdig werden. Vor dem Hintergrund dieser Idee vom Künstler, dessen Leben und Werk sich schicksalshaft tragisch gegen die Welt stemmen, gewinnt Hölderlin als Identifikationsfigur ein scharfes Profil. Seine Lebensproblematik ist dem expressionistischen Dichter nachvollziehbar, sein gesellschaftliches Außenseitertum macht er sich zu eigen. Und wo findet sein Leiden an der Deformiertheit des modernen Menschen, wo findet die Erfahrung von Heimat- und Grundlosigkeit prägnanter sprachliche Gestalt als in den 14 Zeilen unseres Hölderlin-Gedichtes? Dem Expressionisten ist das Ungereimte, Dissonante dieser zwei Strophen gerade nicht Ausdruck eines poetischen Scheiterns, sondern präzise Wiedergabe seiner Wirklichkeitserfahrung. Insbesondere Georg Heym und Georg Trakl schöpfen aus dem Metaphernvorrat dieses Gedichtes, es wird ihnen zum Steinbruch, aus dem sie die prägnantesten Bilder heraussprengen, um sie in ihre poetische Sprache einzubauen. Zwei Beispiele:

In zwei knappen Strophen wird uns eine bedrückend öde Winterlandschaft vor Augen gestellt; wir sehen und hören eine farblose Welt voll unangenehmer Geräusche (’knarren’,’klagen’). Die Sprache dieser Strophen ist kurzatmig, sie stockt und staut sich, Zisch- und R-Laute herrschen vor. Plötzlich dann, in der siebten Zeile, die ‘Blumen’ und die ‘goldene Zeit’, sie erscheinen wie Fremdkörper sowohl in der Sprache als auch in der Bildwelt dieses Gedichtes; und plötzlich wird diese, bisher recht konkrete Winterlandschaft symbolisch aufgeladen, sie ist nicht mehr Natur, sondern ein Zustand, der unser immerwährendes Hier und Jetzt kennzeichnet. Kälte und Dunkelheit sind nicht mehr bloß jahreszeitliche Unbilden, vielmehr unentrinnbares Schicksal. Die ‘Blumen’ stehen im Gedicht als isolierte Zeichen, als Signaturen eines fernen und unwiederbringlich Vergangenen. Die Engführung von ‘Blumen’ und ‘Winter’ verschärft die Botschaft ins Hoffnungslose: Aus dem Paradies verstoßen und dem ewigen Winter ausgesetzt, ist der jetzige, der moderne Mensch heimatlos, sein Dasein ist ein grundloses mal Hier- und mal Dortsein.
Das zweite Gedicht stammt von Georg Trakl aus dem Jahre 1913: Vor dem Hintergrund eines verdämmernden Herbsttages werden Bilder von ausgesuchter Gegensätzlichkeit aufgereiht. Die Rufe der Hirten und der Lärm der Schmiede stehen im Kontrast zu den ‘sprachlos’ sich neigenden Blumen, dem Aufbäumen des Pferdes steht die Erstarrung am Waldsaum gegenüber. Die Farben sind konträr und intensiv, insbesondere das Gelb der Blumen und das Blau des Sees sind direkt aufeinander bezogen. Der Tag neigt sich dem Ende zu und auch die Natur ist im Vergehen begriffen, in diesem Stimmungsfeld ist ‘sprachlos’ eine Gestalt jener Mattigkeit und Traurigkeit, die sich über diese Herbstwelt legt, und gegen welche alles Aufbäumen, Aufflattern und Aufflackern vergeblich sein wird. (5) Zwar ist der Herbst ein natürlicher Vorgang, und in dem Wissen um die Wiederkehr des Frühlings ist es wohl möglich, dieses ewige Wiederkehr des Sterbens zu bejahen, dennoch: etwas geht zuende und was ist, wenn einem das schlichte Vertrauen zum Lauf der Welt, zur Sinnhaftigkeit des Vergehens verloren gegangen ist? "Es ist ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht." schreibt Georg Trakl in seinem Todesjahr an L.v.Ficker.
Die jungen Dichter des expressionistischen Jahrzehntes liebten die sanften Töne und leisen Farben nicht. Sie übertönten ihr Unglück oft genug mit grellen Posen und provokanten Thesen. Für sie war eine Welt am Zerbrechen und dies noch vor dem politischen Zusammenbruch des Kaiserreiches, ihnen waren die Saturiertheit und Selbstzufriedenheit der Väter- und Gründergeneration verdächtig - die Scherben und Trümmer zerfallender Weltbilder aber real. Die literarischen Techniken, mit denen sie experimentierten, die Wirklichkeitsfragmente, die sie sich auswählten, reflektieren diesen Weltverfall. Und mit diesen Dichtern, die den Nonsens propagierten (DaDa) und den Bürger verschreckten, zu Rauschmitteln griffen (Benn) und daran starben (Trakl), den Krieg als das große Purgatorium herbeisehnten (Heym) und darin umkamen (Stramm), mit Dichtern, die den Wahnsinn feierten (Herzfelde), fürchteten und im Irrenhaus endeten (v.Hoddis), nimmt deutlich sichtbar und laut vernehmbar Gestalt an, was heute die ‘Moderne’ genannt wird. Und in dieser erst gewinnt Hölderlins Werk seine wirkungsgeschichtliche Mächtigkeit. Damit gelangen wir zu einem dritten Element Hölderlinscher Wirkung: Nicht nur als wahnsinniger Welt-Aussteiger oder Anti-Philister, und nicht nur als Lieferant von prägnanten Sprachbildern ragt er ins 20. Jahrhundert hinein, sondern auch als Vorarbeiter für literarische Techniken, die jetzt erst Sinn machten.
Norbert v. Hellingrath prägte 1910 den Begriff der ‘harten Fügung’ zur Kennzeichnung des Hölderlinschen Spätstiles mit seinen Inversionen und offenen syntaktischen Formen, seinen sich zunehmend vereinzelnden Satzteilen und "gewichtigen Worten", die sich der Satzsyntax entgegenstellen (6).
Werfen wir noch einmal einen Blick auf unser Gedicht und betrachten seine Syntax: Schon der erste Satz bezieht seine innere Spannung aus der Nachstellung des Subjektes ("das Land"); dann folgt unvermittelt die Anrufung der "holden Schwäne", die jetzt zum Subjekt des neuen Teilsatzes werden. Obzwar dieser mit der Konjunktion ‘und’ eingeleitet wird, ist die Wortstellung invertiert wie die eines subordinierten Nebensatzes. In der zweiten Strophe ist der Sprachfluss mehrfach gestaut, und der dazwischengedrängte Temporalsatz schiebt die Objekte weiter hinaus. Schließlich werden zwei satzlogisch nicht aufeinander angewiesene Hauptsätze aneinandergereiht, der zweite wiederum invertiert und damit in Gegenstellung zum vorausgehenden gebracht ("Die Mauern.../...die Fahnen"). Experimentiert man ein bisschen mit diesen beiden Gliedsätzen und isoliert sie noch stärker voneinander, etwa so: dann gelangt man zur Technik des expressionistischen Zeilenstils, wie sie für die von Gottfried Benn eingangs genannten Gedichte ‘Dämmerung’ und ‘Weltende’ charakteristisch ist. Selbst aus dieser Perspektive vermag die Faszination unseres Gedichtes für expressionistische Lyriker spürbar zu werden.
Auch Th.W.Adorno hat das Ureigene in der späten Lyrik Hölderlins auf einen technischen Begriff gebracht: ‘Parataxis’.
"Hölderlin kennt Formen, die in erweitertem Sinn, insgesamt parataktisch heißen dürften. Die bekannteste unter ihnen ist ‘Hälfte des Lebens’. Auf eine an Hegel gemahnende Weise sind Vermittlungen des vulgären Typs, ein Mittleres außerhalb der Momente, die es verbinden soll, als äußerlich und unwesentlich eliminiert...; nicht zuletzt das verleiht Hölderlins später Dichtung ihr Antiklassizistisches, gegen Harmonie sich Sträubendes.(...) Jede der beiden Strophen der ‘Hälfte des Lebens’ bedarf ... in sich ihres Gegenteils. Auch darin erweist Inhalt und Form bestimmbar sich als eines; die inhaltliche Antithese von sinnhafter Liebe und Geschlagensein bricht, um Ausdruck zu werden, ebenso die Strophe auseinander, wie umgekehrt die parataktische Form den Schnitt zwischen die Hälften des Lebens selbst erst vollzieht." (7)

Parataxe ist zunächst einmal die Nebenordnung von Satzgliedern oder Sätzen im Gegensatz zur Unterordnung oder Hypotaxe. Parataktische Gefüge sind Reihungen oder Aufzählungen, sie breiten sich in der Horizontalen aus, im Nach- und Nebeneinander. Parataktische Gefüge werden mehr von der Kraft der Assoziation als vom Gesetz der Logik beherrscht. Das Spektrum reicht von der ‘disparaten Parataxe’, dem Zusammenzwingen des nicht-Zusammengehörenden bis zur satzlogischen Verknüpfung identischer Satzglieder vermittels Konjunktionen wie ‘und’,’oder’,’aber’.
Th.W.Adorno jedoch bezieht seinen Begriff ‘Parataxis’ nicht allein auf Syntax und Struktur eines Gedichtes, er zielt damit geradewegs auf das Incommensurable in Hölderlins Spätwerk: Zwar scheinen die großen, mehrfach untergliederten Satzperioden zu dominieren, unvergleichlich wird dessen Werk jedoch, wo es durch "kunstvolle Störungen" (a.a.o.S.471) der traditionellen Logik der Synthese ausweicht.
Hölderlin selbst hat darüber reflektiert:

"Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziel der Zweck folgt, ist dem Dichter gewiß nur höchst selten brauchbar." (8)

Doch wenden wir uns noch einmal dem Mikrokosmos der Hölderlinschen Satzsyntax zu. 1951 führte die ‘Weltwoche’ bei deutschen Dichtern eine Umfrage nach ihren drei Lieblingsgedichten durch. Auch Gottfried Benn wurde gefragt, und fast hätte er ‘Hälfte des Lebens’ zu seinen Lieblingsgedichten gezählt, störte ihn darin nicht das kleine Wörtchen ‘und’ in der fünften Reihe der ersten Strophe, denn

"(von Trunkenheit und Küssen ist in den vorhergehende Reihen nicht die Rede, sondern von Birnen und Rosen und allerdings von einem See). Nun sagt der Dichter "ihr holden Schwäne", er findet also wohl Schwäne im allgemeinen hold, dann holt er aus der speziellen aktuellen Situation mit Hilfe von "und" die trunkenen Schwäne heran, keinZweifel, er sieht sie im Augenblick überzeugend trunken, aber dann ist die allgemeine Schwänebezeichnung "hold" nicht gesehen, sondern konventionell. ... Mancher wird sagen, man dürfe Heiligtümer der Lyrik nicht so betrachten, ich meine, man darf. Sie bleiben Heiligtümer." (9)

In der Tat, welch respektlos unsensible Herangehensweise, könnte man spontan sagen. Ist Benn hier mehr kühl sezierender Arzt als einfühlender Dichter?
In seinem 1951 gehaltenen Vortrag über ‘Probleme der Lyrik’ bringt er den Begriff des ‘Artistischen’ wieder zu Ehren, damit den Stil- und Formwillen bezeichnend, welcher der spontanen lyrischen Inspiration gegenübertritt. Letztere mag das schöpferische Ereignis auslösen, aber erst die intellektuelle Gestaltungskraft schafft das gelungene Gedicht. Das formale, das geistige Prinzip

"nimmt diese Verse sofort in die Hand, legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie, sucht nach pathologischen Stellen... raffiniert und skeptisch." (10)

Und so finden wir unser Gedicht im Laboratorium des reflektierten Dichter-Kritikers wieder, nicht mehr im heimlich-unheimlichen Dunkel inspirierter Kongenialität, sondern im kalten Lampenschein des analysierenden Intellekts. Benn nimmt die Anwesenheit der koordinierenden Konjunktion ‘und’ im Zentrum der ersten Strophe beim Wort und als Aufforderung, die Kriterien der Satzlogik anzuwenden:
Welche identischen Satzglieder werden hier aufeinander bezogen? Wo sind sie zuvor eingeführt worden? Und er ist doppelt unzufrieden:
Dieses ‘und’ erscheint ihm weder satzlogisch motiviert, noch poetisch gerechtfertigt! Durch dieses ‘und’ bleibt in der poetischen Textur ein unbereinigter Rest grammatikalischen Zwangs zurück, welcher der dichterischen Vision Tiefe nimmt, den Anschein von Synthese erweckt und die Bruchkanten des Textes zu glätten versucht.
"Es darf nichts zufällig sein in einem Gedicht", postuliert er in seinem Vortrag von 1951, der Lyriker muss sein Gedicht "abdichten gegen Einbrüche, Störungsmöglichkeiten" (a.a.o.S.347).

Unser Ausgangspunkt war das expressionistische Jahrzehnte. Nun befinden wir uns in einem fortgeschrittenen Stadium der Moderne, in welcher zum einen der Anspruch intellektueller Präzision herrscht (’Artistik’), zum anderen die Idee kausaler Zwänge abgelehnt wird (’diktatorische Phantasie’) und zum dritten die dichterische Rede sich noch kompromissloser gegen die Sprache des Alltags und der Medien abzudichten versucht (’Sprachmagie’). Dieser Weg führt schließlich in die Spätphase der hermetischen Dichtung , zur Lyrik von Paul Celan, Günter Eich oder Johannes Bobrowski, die sich alle auf ihre je eigene Weise zum Hölderlinschen Werk gestellt haben. (11)

Doch zum Abschluss noch eine Dichterstimme, die weder kritisch scharf und theoretisierend noch hermetisch verrätselt ist, sondern ganz persönlich und warm: Marie Luise Kaschnitz schreibt 1959 für die Artikelserie ‘Mein Gedicht’ über ‘Hälfte des Lebens’: In jeder Phase ihres Lebens habe sie es auf andere Weise gelesen und empfunden, zuerst sehr konkret als Veranschaulichung der Jahreszeiten, dann als schmerzliche Klage über das Altern und den Verlust der Jugend, und schließlich als furchterregende Schilderung des jedem Menschen bekannten "Seelenzustandes der inneren Verödung und Kälte", als "bestürzende Verdichtung menschlicher Seelenangst, dass das Gedicht mir heute zuweilen nur noch erträglich ist, wenn ich es ritornellartig lese, also die Jahreszeiten wieder wörtlich nehme, in ihrem ewigen Wechsel, ihrem Kommen und Gehen." (12)


III.

Ende der 60er Jahre war Hölderlins Name in der Bundesrepublik in vieler Munde. Die außerordentlich starke und weitgestreute Rezeption nährte sich hauptsächlich aus drei Quellen: Hölderlins 200. Geburtstag 1970, Piere Bertaux` Thesen über den ‘Jakobiner’ Hölderlin und die Diskussion um die Anti-Psychiatrie, nach der Wahnsinn, insbesondere Schizophrenie, als höhere Form der Wirklichkeitsbewältigung verstanden werden konnte. (1) Plötzlich stand Hölderlin inmitten vieler Fronten: zwischen den Hermeneutikern und den materialistischen Historikern, zwischen den Streitern um das richtige Editionsprinzip, zwischen einer alten und einer neuen Hölderlin-Gesellschaft, zwischen der Psychiatrie und der Anti-Psychiatrie. (2)

In der DDR gestaltete sich die Rezeption weniger heftig: Hölderlin war von Anbeginn Teil des nationalen kulturellen Erbes, d.h. er wurde denjenigen Dichtern zugerechnet, deren Utopie einer befreiten Menschheit auf die sozialistische Zukunft vorauszudeuten vermochte.

"In unserer Deutschen Demokratischen Republik wird der visionäre Traum des jakobinischen Dichters durch die wissenschaftlich begründete, revolutionäre Tat vollzogen: Friedrich Hölderlin und Karl Marx als Produkt der Dialektik der Geschichte." (3)

Die gelungensten Werke des Dichters vermittelten demnach "Ahndungen" einer noch zu erringenden Harmonie. Die Literaturgeschichtsschreibung richtete ihr Augenmerk vor allem auf den Hölderlin der ‘vaterländischen Gesänge’ und dessen kompromisslose Anstrengungen, auf sein ‘Volk’ dichtend und dadurch bildend einzuwirken. Da jedoch der utopische Gehalt seiner Dichtung zu wirklichkeitsfern und unkonkret war, und auch seine Persönlichkeit zu weltabgewandt, um sich einen festen Sitz im Leben zu erobern, musste er scheitern. Was also für die Nationalliteratur als Erbgut bleibt, ist "das hohe Pathos revolutionärer Bestrebungen", während das tragische Schicksal auf das "Schuldkonto einer unhumanen Klassengesellschaft" geht. (4)

Wo nun ist bei dieser prophetischen, der Schönheit und Menschheitsemanzipation geweihten Hölderlin-Gestalt der Ort eines Gedichtes wie des unsrigen? Wie fügen sich Verse, deren schroffe Dissonanz bar jeden utopischen Gehaltes scheinen, in das Werk des heroischen Sehers?

"Aus einer lyrischen Nachlese (1805) ragt ein kleines Gedicht hervor", heißt es in den ‘Erläuterungen zur Deutschen Literatur’ 1957, "es gehört zu den schönsten und ergreifendsten der deutschen Dichtung: ‘Hälfte des Lebens’ betitelte es der bereits von der geistigen Umnachtung heimgesuchte Dichter ... Diese wenigen Zeilen mögen andeuten, was der Mensch und Dichter Hölderlin war und was er ... durch die widernatürliche Hemmung seiner Entwicklung nicht sein konnte." (5)

Ist es hier noch der Wahnsinn, der das Gedicht zeichnet, so sind es zwanzig Jahre später die "zerstörerischen Kräfte einer gesellschaftlichen Umwelt", deren Misere ihn überwältigte:

"Der Schmerz Hölderlins ist die Widerspiegelung der nationalen Rückständigkeit..." (a.a.O. 8.Auflage 1977, S.61)

Wie so oft in der DDR rezipierten die Schriftsteller, vor allem aus der nachwachsenden Generation, das ‘klassische Erbe’ auf ihre Weise. Sie interessierten sich mehr für den Gescheiterten, den von allen guten Geistern Verlassenen und von vielen - nicht zuletzt Goethe und Schiller - Missverstandenen. Mit dem Hölderlin im Grenzbereich von Vernunft und Wahnsinn beschäftigen sich z.B. Gerhard Wolfs Erzählung ‘Der arme Hölderlin’ (1972) und Stefan Hermlins Hörspielcollage ‘Scardanelli’ (1970). Hier ist Hölderlin einer, der einen vergeblichen Kampf führte gegen die seelische Vereinsamung, gegen die Entfremdung in der arbeitsteiligen Welt. Auch in der Lyrik wird Hölderlin auf vielfältige Weise und aus den unterschiedlichsten Motiven herbeizitiert, selten als ‘Erbstück’ und immer öfter als Beunruhigungsfaktor, als Anti-Dotum gegen post-revolutionäre Selbstgefälligkeit. Zum Beispiel in Wolf Biermanns ‘Hölderlin-Lied’:

Der Eröffnungssatz zitiert refrainartig Hyperions Klage über die Deutschen: "Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht... Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Haus..." Der Hölderlin-Bezug ist jedoch nicht nur zitierend, sondern auch identifizierend: Damals wie heute hat der Dichter eine revolutionäre Sendung, aber damals wie heute ist der herrschende Geist ihm widrig und die herrschende Sprache ihm unsäglich. So steht das lyrische ‘Wir’ zwar nicht sprachlos, geichwohl aber unverstanden in der Kälte.
Zitiert wird auch in Volker Brauns ‘Die Mauer’ betitelten Gedicht aus dem Jahre 1965: Nicht nur der Blick, auch das lyrische Ich fasst "das hier" kaum, und fast bleibt ihm die Sprache weg, gäbe es nicht die nützliche Undeutlichkeit der Umgangssprache, oder das kleine Wörtchen ‘aber’, womit der nachdenklich gewordene Ja-Sager sein Unbehagen andeutet. Aus der Distanz der Jahrzehnte, angesichts des Endes der DDR und der Prozesse um die "Schüsse" an der Mauer, wird dieses ‘aber’ in seiner
Ambivalenz noch auffälliger. Obwohl als Geste des Widersprechens mehr oder weniger vehement eingebracht, soll es das Einverständnis mit der geglaubten Notwendigkeit des Bauwerks doch nicht übertönen. Widerstand ist zwecklos, Einspruch dagegen angebracht. Doch in welcher Sprache? In der Hölderlins? Das immerhin über drei Zeilen gehende Hölderlin-Zitat wirkt wie ein Mahnmal der Sprachnot angesichts der rätselhaften ‘Grenze’. Die ins Existentielle weisende Metapher der Entfremdung und Vereinsamung ("Die Mauern....") wird zwar mit gegenwartspolitischem Sinn aufgeladen ("Die Mauer"), erscheint jedoch als lediglich geborgte Sprache. Das Herbeizitierte schrumpft zur Geste des Einspruchs ohne das Widerspruchspotential des Gedichtes zu vermehren.
Der zitierende Zugriff auf Hölderlin ist auffällig: Nicht nur werden ausgewählte Schlüsselwörter einmontiert, um mit deren symbolischer Ladung dem eigenen Text Vielschichtigkeit zuzufügen; nein, es wird
zitiert, zeilenlang und wenn nötig in Kursiv. Ist das eine Form von Montage-Technik, wird hier der souveräne Umgang mit dem ‘Erbe’ demonstriert, oder drückt sich so das Bemühen um unverstellte Klassiker-Nähe aus? Das hat bestimmt alles eine Rolle gespielt. Aber ich glaube, dass sich hier auch noch ein Element DDR-spezifischer Denk- und Schreibformen durchgesetzt hat: Das Klassiker-Zitat, dem im Diskurs der sozialistischen Gesellschaft eine besondere Weihe zukam. Zitieren ist darin zuerst eine Form der Versicherung der Zugehörigkeit, dass man die Autoritäten respektiert und sich hinter das unverbrüchlich Geltende stellt. Doch auch derjenige, der etwas einzuwenden hat, zitiert die Autoritäten und wappnet sich auf diese Weise, bevor er zu seinen andersartigen Schlussfolgerungen gelangt. Das Klassikerzitat ist eine DDR-spezifische Tarnkappe für den Ja-Sage ebenso wie für den Aber-Sager. Volker Brauns Lyrik kennzeichnet sowohl die Dialektik des Ja-Aber-Sagens als auch die Kunst des Zitierens.

Am 1.1.1799 schreibt Hölderlin an den Bruder: "Aber die Besten unter den Deutschen meinen meist noch immer, wenn nur erst die Welt hübsch symmetrisch wäre, so wäre alles geschehen."
Und Volker Braun schreibt

Zwar, so geht der Gedankengang, ist Hölderlin einer der ‘Unsrigen’, aber er ist uns auch eine Mahnung, dass jenseits von Produktivität und Planerfüllung noch ein ‘Soll’ zu erfüllen ist: Herrschen nicht auch im real existierenden Sozialismus noch Kälte und Fremde zwischen den Menschen? Ist nicht über der Verpflichtung auf die gemeinsame Aufgabe der Blick getrübt für die Vielfalt der individuellen Bedürfnisse? Wo, bei aller technologischer Zweckrationalität, findet die Subjektivität des Indviduums ihren angemessenen Ort? Irgendetwas fehlt "uns" noch zum gelungenen Menschsein, etwas drückt und lastet auf der Brust der "Werktätigen" und lässt das Herz nicht frei schlagen. Den Fragezeichen der zweiten Strophe folgt zwar keine Antwort, wohl aber die Aufforderung, Hölderlins "Hoffnung" auf Harmonie in der Vielfalt, auf das "was uns guttut", in die Tat umzusetzen.

Schon in den Lyrik-Debatten der 60er Jahre wurde darum gestritten, inwieweit der Schriftsteller sein Schreiben noch unmittelbar in den Dienst des Klassenkampfes zu stellen hat. In den 70er Jahren vertritt die Generation der nachgeborenen Dichter immer entschiedener die Ansicht, dass ihre Aufgabe im Aufweis des Noch-Nicht-Realisierten zu bestehen hat. Das Vergessene und Verdrängte gelte es gerade dann wieder in Erfahrung zu bringen, wenn es hinter dem geordneten Gang des sozialistischen Alltags aus dem Blick zu geraten drohe. Auch dies sei ein Gebot des Realismus: Wirklichkeit ist erst dann erkannt, wenn sie auch in ihren defizitären Zuständen wahrgenommen wird; sie soll nicht repräsentiert werden, wie sie aus den Programmen ersteht, sondern im Bewusstsein ihrer Mängel auf das in ihr Mögliche hin befragt werden. In den Lyrik-Diskussionen tauchen nun Kategorien auf, die die alten zusehends verdrängen: Statt Parteilichkeit wird ‘Zeitgenossenschaft’ gefordert, statt von realistischer Widerspiegelung ist nun von der ‘Unmittelbarkeit’ des lyrischen Weltbezugs und von gereifter ‘Subjektivität’ die Rede (9). Dies entsprach im übrigen voll und ganz der kulturpolitischen Diskussion um den Stellenwert des ‘subjektiven Faktors’ in der modernen Industriegesellschaft: Sie ist zusehends auf die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Individuumsangewiesen.(10)

Ein Lyriker, der in dieser Diskussion immer engagiert mitgesprochen hat, ist Heinz Czechowski. Er soll uns im folgenden beschäftigen, denn wie kaum ein anderer hat er seinen Hölderlin gut studiert und
absichtsvoll mit dessen Zunge gesprochen.

Unmittelbare Welt-Anschauung demonstriert die erste Strophe, sie entwirft liebe- und humorvoll das Bild einer morgendlich-dörflichen Idylle. Doch die Bedingung des Idyllischen ist ihre Geschichtlosigkeit, in ihr steht die Zeit still. Das lyrische Ich weiß, dass diese Landschaft Ungesagtes enthält und mit einer plötzlichen Gebärde holt er die Geschichte zurück, zur Erinnerungen an Krieg und zerstörte Städte wird aufgefordert, mit dem Hölderlin-Zitat wird der historische Nullpunkt dieses Landes markiert. Der Name Dresden fällt ein, durch diese Stadt fließt die Elbe.
Und weiter geht die ‘Flußfahrt’: Sie führt durch das Land, durch die Geschichte und erreicht schließlich in der dritten Strophe die zentrale Fragestellung: Findet sich noch eine Sprache, die dem, was sich ereignet, gerecht werden kann, und mehr: Vermögen Gedichte noch zu wirklichen Ereignissen zu werden? Die Möglichkeit des Dichtens und die Existenz des Dichtenden stehen damit in Zweifel. Ist der Dichterberuf immer noch eine berufene Existenz? Hier stoßen wir wieder auf Hölderlin. Das Zitat aus ‘Hälfte des Lebens’ steht nicht allein im Gedicht, es ist vielmehr Teil eines Zitat-Ensembles. Dieses schafft einen Sinnhorizont, vor dessen Hintergrund die poetische Fragestellung schärfere Konturen erhält: Hölderlin steht als Symbolfigur für jenen hohen Dichtungsanspruch, dem der Wille zum "Größeren" zum Grund seines Scheiterns wurde. Daran muss sich jeder Dichter, auch der moderne messen und so beschwört das lyrische Ich die Wahlverwandschaft mit dem bedingungslosen Idealisten Hölderlin ("uns"), um zugleich auch die Differenz auszuloten: "Hier nicht ist der Winkel von Hardt" und was bleibet, stiften die Dichter auch heute nicht. So ist die Frage, was den Dichtern noch bleibt: Anschauung oder Reflexion, Bild oder These? Das lyrische Ich entschließt sich, "im Bilde zu bleiben" und weiß doch genau, dass ihm das nie genügen kann. Diese Position darf im guten Schillerschen Sinne ‘sentimentalisch’ genannt werden. Dem entspricht als Grundton der ‘elegische’, Hiermit endet ein anderes Czechowski-Gedicht, ‘Gelegentlich Hölderlin’ betitelt: Abgeschoben in die prosaische Klammer hallt das Bild vollendeter Harmonie noch sachte nach. In einem weiteren Gedicht bleibt es dem Betrachter gleichsam unerlöst im Halse stecken.

* * *

Im Herbst 1976 findet in Köln in einer großen Halle vor 4000 meist jungen Menschen ein Konzert des Liedermachers Wolf Biermann statt. Biermann wird nach dem Auftritt von der DDR ausgebürgert und nicht mehr zurückgelassen. Mit dieser Ausbürgerung, die auf viele DDR-Intellektuelle wie ein Schock wirkte und zahlreiche mehr oder weniger freiwillige Ausreisen zur Folge hatte, endete die liberale Kulturpolitik der erst fünf Jahre jungen Honecker-Ära. Es beginnt das, was wir heute als die Endphase des real existierenden Sozialismus bezeichnen dürfen. Auf diesem Konzert, zwischen den Liedern, trägt Biermann der tausendköpfigen Zuhörerschaft Hölderlins ‘Hälfte des Lebens’ vor. Das Fernsehen war dabei und (mit mir) einige Millionen Zuschauer. Welchem Gedicht war je ein solches Schicksal beschieden?


IV.

Abschließend noch einmal zum Anfang und endlich zu jenen Fragen, die zünftigerweise an einen literarischen Text gestellt werden: In welchem entstehungsgeschichtlichen Kontext steht Hölderlins Gedicht? Welchen Platz im Gesamtwerk nimmt es ein? Wie ist es entstanden und was waren des Dichters Gedanken?
‘Hälfte des Lebens’, das vielzitierte und fleißig kommentierte Gedicht, das oft genug repräsentativ für Leben und Werk Hölderlins herangezogen wurde, steht im Gesamtwerk eher als Ausnahme da.
Zuerst einmal ist es eines der kürzesten und zugänglichsten: Dem Leser erschließt sich recht schnell ein Sinn, der ihn angeht. Kaum sind Verstehenshindernisse zu überwinden, die historische Distanz klafft nicht wie ein gähnender Abgrund, über den behelfsmäßige Stege oder kunstvolle Brücken gebaut werden müssten. Ein mythologischer Wissensapparat muss nicht bemüht werden. Des Weiteren: Es passt nicht recht in Hölderlins eigene Vorstellung vom ‘Dichterberuf’. Seinem ästhetischen und philosophischen Anspruch lag die Vermittlung des Gegensätzlichen am Herzen, sein Trachten ging auf die Harmonie des ‘Einigentgegengesetzten’, die Vereinigung des Nordens mit dem griechischen Himmel, der alten Götter mit dem Gott des Christentums, der Kunst mit der Natur, der Wirklichkeit mit dem Ideal, des goldenen Zeitalters mit der bleiernen Zeit..., all dies sollte in der Idee der Schönheit eins werden (1). Die Schlussworte des Eremiten Hyperion drücken es so aus: "Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder."

Auch in den ‘Nachtgesängen’, jenem Ensemble von neun Gedichten, als deren Teil ‘Hälfte des Lebens’ 1804 veröffentlicht wurde, bildet es eine Ausnahme. Die Gedichte der ‘Nachtgesänge’ sind thematisch um die Antithesen Tag/Nacht, Nacht/Licht, Blindheit/Augenlicht, Sommer/Winter gebildet und verweisen - mitunter im mytholgischen Gewande - auf Möglichkeiten, wie die Zeit der Nacht durchgestanden, wie ihre Not überwunden werden kann: Z.B durch die "Wahrsagung" von Herakles' Rückkehr (’Chiron’); durch das "Gedächtnis", das die Erinnerung der einstigen Harmonie lebendig hält (’Tränen’), durch die Berufung und den Gesang des Dichters (’Blödigkeit’); durch die alles erneuernde Kraft des Stromgeistes (’Ganymed’) und schließlich durch das "groß Schicksal", das sich "an übrigem Ort" bereithält (’Winkel von Hardt’).
Mehrmals wird in den ‘Nachtgesängen’ die Frage nach der Existenz, dem Ort und dem Wirken des erlösenden Prinzips aufgeworfen:
Wo bist du ...Licht? (’Chiron’); Wo bist du ? (’An die Hoffnung’); Was schläfts du, Bergsohn...? (’Ganymed’); Was seid ihr? (’Lebensalter’).

Dem folgt die Aufforderung an die erlösenden Kräfte, endlich helfend zu erscheinen; aber der bangen Frage "Weh mir, wo..." in unserem Gedicht schimmert keine Hoffnung, sie steht unbeantwortet im Raum wie die Mauern im Winde, starr und kalt.

Im Jahre 1910 wird Hölderlins Hymne ‘Wie wenn am Feiertage ...’ zum ersten Male veröffentlicht, die Herausgeber sind Stefan George und Karl Wolfkehl. Dass diese im Jahre 1800 begonnene Hymne unvollendet ist und nach der siebten Strophe in Prosa-Entwürfen und vorläufig notierten Wörtern stecken bleibt, wurde allerdings erst durch Friedrich Beißners Stuttgarter Ausgabe (1943) endgültig einsehbar. In den nachgelassenen Bruchstücken dieser Hymne finden sich aber schon die wichtigsten Bausteine zu dem Gedicht ‘Hälfte des Lebens’, und zwar etwa in dieser Anordnung:

Die unvollendete Hymne ‘Wie wenn am Feiertage’ spricht vom Dichter und seinem Werk. Dem Dichter gebührt es, so heißt es in der letzten vollständigen Strophe, mit entblößtem Haupte unter Gottes Gewittern zu stehen, damit er den göttlichen Geist im himmlischen Feuer empfange, um ihn "dem Volk ins Lied gehüllt" zu reichen. Aber der Dichter muss "reinen Herzens,/Wie Kinder" sein, soll ihn des Vaters Strahl nicht versengen. Hier bricht die Hymne mit den Worten "Doch weh mir! wenn von ..." ab, und hier öffnet sich auch ein Weg, der in die tieferen Schichten unseres kleinen Gedichtes führt. Peter Szondi hat sich in seinen ‘Hölderlin-Studien’ kenntnisreich und einfühlsam mit der Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils beschäftigt. Seinen Ausführungen folge ich nun: Soll der Gesang glücken, muss der Dichter - so hieß es - dem Göttlichen reinen Herzens gegenübertreten. Ist er aber mit sich nicht im Reinen, ist er im Banne eines Leidens, so kann das Hymnische nicht gelingen, weil das persönliche Leid sich gleichsam elegisch dazwischendrängt. Suchte er dennoch die Nähe der Himmlischen, so müsste er als "falscher Priester" der Verstoßung ins Dunkel gewärtig sein. Dies aber ist gerade Hölderlins tiefstes Unglück. Er selbst sieht sich zu sehr ins eigene Leid gebannt, um frei und schuldlos das Lob der Himmlischen zu singen, und die Hymne muss unvollendet bleiben.
Welcher Art ist dieses persönliche Leid? so beginnt die im selben Jahr verfasste Ode ‘Lebenslauf’. Die Liebe ist das Schicksal des Menschen, sie beglückt und beschwert ihn, sie erhebt ihn und wirft ihn immer von neuem zu Boden. Sie zeichnet den Menschen aus und trennt ihn schmerzlicherweise von den ‘schicksallosen’ Himmlischen. Dieser Topos ist zunächst einmal konventionell, doch Hölderlin war noch auf eine ganz eigene Weise vom Schicksal geworfen. Ebenfalls 1800 entstand eine Elegie, die später mit dem Titel ‘Menons Klagen um Diotima’ veröffentlicht wurde. Darin findet sich folgende, bewegend schöne Strophe: Dies ist die vierte von neun Strophen. Wir erkennen in ihr eine nun schon vertraute Motivik und Thematik wieder und von hier aus erhellt sich auch der biographische Hintergrund: Diotima war nicht nur der Name der Heldin in Hölderlins Roman ‘Hyperion’, sondern auch der Name, den er seiner Geliebten, der Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard gab. Von ihr - in deren Haushalt er die subalterne Funktion des Hauslehrers einnahm - hatte er sich 1798 gezwungenermaßen trennen müssen, sie trafen sich aber weiterhin heimlich, auch wurden Briefe und Botschaften gewechselt. Geschlagen mit dieser Wunde, ans eigene Leid gebunden, kann der Dichter den selbstlosen Preis der Götter wahrlich nicht singen. Um sich aus dem Elegischen zu befreien und zum Hymnischen zu gelangen, galt es zuerst, sich aus dem Banne der persönlichen Krise zu befreien. So ist das aus dem Zusammenbruch der ‘Feiertagshymne’ erwachsene Gedicht ‘Hälfte des Lebens’ Ergebnis eines poetischen Scheitern und Ausdruck einertiefgreifenden persönlichen Krise; es ist aber nicht nur ein Gedicht der Lebenskrise, sondern auch ein Gedicht über die Gefährdung der dichterischen Berufung. Ausgeworfen aus dem Garten der Natur - wie der Eremit Hyperion zu Anfang seines Lebensberichtes - steht der von Wehmut getroffene Dichter da wie ein Fremdling, die Natur verschließt ihre Arme und er versteht sie nicht. "O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt, und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein misßratener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß..."

Manches lässt darauf schließen, dass Hölderlin seinem kleinen Gedicht selbst nicht viel Bedeutung beigemessen hat. In einem Brief an den Herausgeber Friedrich Wilmans kündigt Hölderlin im Dezember 1803 "einige Nachtgesänge" an und schließt daran die Bemerkungen:

Der im Zusammenhang der Nachtgesänge dunkel erscheinende Begriff ‘Liebeslieder’ hellt sich auf, wenn man bedenkt, dass ‘Nacht’, ‘Verlassenheit’ und ‘Einsamkeit’ Lieblingsmotive der zu diesem Zeitpunkt schon voll im Schwange seienden Romantik waren. Trotz der "Verschiedenheit der Stoffe" haben Hölderlins Nachtgesänge mit Liebesliedern und romantischen Stimmungen die persönliche, subjektive Sphäre gemeinsam. Fünf der ‘Nachtgesänge’ sind Ich-Gedichte, in ‘Hälfte des Lebens’ wird dieses Ich nicht einmal in ein mythologisches Gewand gekleidet, wodurch die Identifizierung des lyrische Ich mit der Seelenstimmung des Verfassers besonders nahegelegt wird. Es ist daher einleuchtend, wenn Hölderlin die Melancholie und Subjektivität solcher ‘Lieder’ dem "hohen und reinen Frohlocken" hymnischer ‘Gesänge’ gegenüberstellt. Ist das erstere ein Zugeständnis an den schlichten Publikumsgeschmack, so wirkt im letzteren der wahre Dichtungsanspruch. Im einen opfert sich der Dichter dem Leser, im anderen vollbringt er das noch viel größere Opfer: Er löscht seine Subjektivität aus, um seiner höheren Berufung als Sprachrohr des Göttlichen willen.

Dies sind nun philologisch und biographisch zweifellos interessante Zusammenhänge, die das Herz des Hölderlin-Verehrers sanft erregen. Interessant ist jedoch auch etwas ganz anderes, worauf ich abschließend hinweisen möchte: All dies ist für die Wirkungsgeschichte des Gedichtes weitgehend ohne Belang! Wirkungsmächtig d.h. Sinn-gebend für die Lektüre dieses Textes sind nicht so sehr die ursprüngliche Intention des Autors oder der originäre Entstehungszusammenhang des Werkes, sondern zuallererst die sprachliche Gestalt, seine Textur und deren Sinn-Angebote, oder, wie es im rezeptionstheoretischen Idiom lautet: seine strukturelle Offenheit. Hierfür ist die Geschichte des Gedichtes, wie ich sie zu erzählen versucht habe, beispielhaft: Seine Wiederkehr verdankte sich einer gänzlich veränderten Wirklichkeitserfahrung. Seine neuen Leser lauschen ihm nicht seine ursprüngliche Botschaft ab, sondern laden ihm den Sinn auf, der in ihrer ganz anderen Wirklichkeit erst Sinn macht. Hölderlins Zeitgenossen fanden sich in dem Gewebe dieses Textes nicht wieder, das 20. Jhdt dagegen findet immer neue, leidvolle Anlässe, Hölderlins Gedicht interpretierend, dichtend oder zitierend weiterzuschreiben. Und so enthält es doch eine, wenn auch ferne Utopie: dass es eines Tages, im Anders- oder Nirgendwo, keine Betroffenheit mehr hinterlässt, weil wir uns in dieser Metaphorik des existentiellen Verlorenseins nicht mehr begegnen.




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