Aus der Finsternis ins Rampenlicht -
der lange Weg eines Hölderlin-Gedichtes
Im Folgenden geht es um die Geschichte eine Gedichtes, das mich immer wieder beschäftigt hat, nicht zuletzt wegen dessen bemerkenswerter Geschichte. Gleichzeitig nehme ich das Gedicht zum Anlass, über andere zu reflektieren, welche auf dem Weg liegen, den dieses hinter sich hat. Der Weg setzt ein mit den ersten spärlichen Reaktionen und endet in der DDR der zu Ende gehenden Honecker-Ära.
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Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
I.
Diese Strophen erschienen zuerst im ‘Taschenbuch für das Jahr 1805’ zusammen mit acht anderen Gedichten Hölderlins unter dem Titel ‘Nachtgesänge’.
Charakteristisch für das Gedicht ist der unvermittelt bleibende Gegensatz, sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Der harmonischen geschlossenen Form und Bilderwelt der ersten Strophe steht die Zerrissenheit der zweiten Strophe gegenüber, die Zeilenlängen sind unregelmäßig, die Zeilen stehen mit der Satzgrammatik im Konflikt. Gegenüber der sich selbst genügenden Natur in der ersten Strophe ist das lyrische Ich in der zweiten Strophe rein beobachtend. Es hat an dieser Harmonie keinen Anteil außer dem des Anschauens. Die elegische Selbstreflexion in der zweiten Hälfte des Gedichtes drückt das Gefühl äußerster Vereinsamung aus, die Dinge sind zu Zeichen erstarrt, die nichts bedeuten, nur Kälte und Starre ausstrahlen. Das lyrische Ich weiß nicht, wie es zur Welt steht, es ist auf sich selbst zurückgeworfen und verloren in seiner grundlosen Subjektivität. (1)
Das Gedicht versucht nicht, die Trennung von Welt und Ich in einer höheren Idee aufzuheben, vielmehr wird die existentielle Heimat- und Ratlosigkeit des Menschen als Daseinsbefund offen gelassen. Darin steht das Gedicht außerhalb der ästhetischen Norm seiner Zeit: Es zeigt nicht jene Autonomie der Kunst gegenüber einer schlechten Wirklichkeit, von der aus dem Künstler die Versöhnung von Ideal und Leben im Reiche des ästhetischen Schein gelingt. Der Verfasser solcher Zeilen bleibt vielmehr im schmerzlich Empfundenen stecken, befreit sich nicht aus dessen Unmittelbarkeit und legt somit den Verdacht unzureichender ästhetischer Schaffenskraft, wenn nicht gar, wie wir sehen werden, nachlassender Geisteskraft, nahe.
Schon die wenigen Reaktionen auf die Veröffentlichung der ‘Nachtgesänge’ zeigen Irritation. Dem einen Rezensenten scheinen sie "Laute eines gestörten einst schönen Bundes zwischen Geist und Herz. Daher auch die Sprache schwerfällig, dunkel, oft ganz unverständlich und der Rhythmus eben so rauh." Der andere möchte dem "seltenen Sterblichen, der die neun Gedichte von Hölderlin zu verstehen sich mit Recht rühmen kann" einen stattlichen Preis aussetzen lassen, und würde "selbst den Verfasser nicht von der Mitbewerbung ausschließen"(2). Auch den Verehrern Hölderlins zeigte sich kein glücklicherer Ausweg, als Hölderlins Wahnsinn selbst für das Ungereimte dieser Verse verantwortlich zu machen. Als es 1846 in den von Christoph Theodor Schwab herausgegebenen ‘Sämtlichen Werken’ wieder auftauchte, gehörte es zu den Gedichten ‘Aus der Zeit des Irrsinns’.(3) Und dabei sollte es auch lange bleiben.
In der zwei Jahre später folgenden Monographie von Alexander Jung wird dann auch von dieser Setzung ausgegangen.
"In einfachen, fast nur skizzenhaft, fast kinderspielartig, aber doch malerisch hingeworfenen Zügen veranschaulicht uns der Dichter das Gesagte in den vorliegenden beiden Strophen. So könnte dieses Gedicht als das Erzeugniß eines völlig gesunden wunderbar fein und so zu sagen das Dingliche wie sein eigenes Gemüthsleben empfindenden Zustandes betrachtet werden." (4)
Der Interpret vermag seine Betroffenheit angesichts der Hölderlinschen Verse und der darin sich ausprechenden Seelenstimmung nicht zu verleugnen, und fast ist es ihm, als wäre der Dichter gar nicht verrückt gewesen. Aber wie anders ließe sich die zwar ergreifende, aber doch ungestaltete Anschaulichkeit jener Verse erklären, als durch das schicksalhafte Auseinanderfallen von Schaffensdrang und Geisteskraft?
Auch Wilhelm Dilthey, fast genau ein Jahrhundert nach dem ersten Erscheinen der ‘Nachtgesänge’, empfindet noch den unglücklichen Widerspruch zwischen einer lyrischen Sprache, deren bildliche Intensität durchaus neue Qualitäten aufweist, und einem aus dem Gleichgewicht geratenen Formungswillen.
"Unreguliert gehen Gefühl und Phantasie ihre exzentrische Bahn, in sich gekehrt brütet der Dichter über dem Schicksal", anstatt "große allgemeine Ideale ...im heiteren Lichte des Idealismus der Freiheit" leuchten zu lassen.
"Seine Sprache geht in ihrer bildlichen Stärke bis zu Seltsamen und Exzentrischen. Es ist darin eine eigene Mischung von krankhaften Zügen mit dem Gefühl des lyrischen Genies für einen neuen Stil. Ein paar Zeilen haben sich erhalten, die wohl Bruchstücke eines größeren Ganzen waren, eine flüchtige Niederschrift mit manchen Inkorrektheiten; sie mögen doch diese Richtung Hölderlins zu einer neuen lyrischen Sprache vergegenwärtigen."
Vier Jahre später ist in Dr. med Wilhelm Langes ‘Hölderlin - Eine Pathographie’ zum selben Gedicht zu lesen:
"Das Kranke an diesen Versen kann wohl nur von solchen, die täglich mit Katatonischen umzugehen haben, gleichsam gefühlsmaßig erfaßt werden. Das Ganze steht da als ein imposanter Ausdruck der Vereinsamung; seine Umgebung erschien dem Kranken fremd und rückte in eine unheimliche, unfaßbare Ferne. Die Unfähigkeit zur Abstraktion ließ den Kranken am unmittelbaren sinnlichen Eindruck haften.." (6)
Immer wieder, bis weit ins 20. Jahrhundert, spielt nun das biographische Faktum der Verrücktheit in die Rezeption dieses Gedichtes hinein. Dem auf das Idealische ausgehenden ästhetischen Bewusstsein ist der Text durch seine Offenheit und damit Ungestaltheit fremd, den romantischen Verehrern ist er - seiner Ausstrahlung zum Trotz - verrückt, weil der Verfasser verrückt ist. Immer mehr drängt sich die Kunde vom Wahnsinnigen im Turm zwischen Text und Leser und drückt der Lektüre ihre Zeichen auf. Diese haften dem Gedicht an als Stigma des ästhetischen Misslingens oder als pathologisches Syndrom.
Ein dritter, gänzlich anderer Weg des Verstehens tut sich erst den jungen Intellektuellen des expressionistischen Jahrzehnts auf: Wahnsinn als Sphäre künstlerischer, ja sogar menschlicher Freiheit. Diesen lautstarken und unglücklichen Aufrührern gegen die Welt der Väter und Philister sind Gedicht und Verfasser heilig, weil sie der geistlosen Sphäre des Bürgerlichen ent-rückt sind.
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(1) Zu diesem Gedicht gibt es natürlich eine Vielzahl von verdienstvollen Interpretationen, zwei davon seien genannt:
Ludwig Strauss: Friedrich Hölderlin: "Hälfte des Lebens". In: Interpretationen. Hrsg.v.J.Schillemeit Bd.1 Fischer Verlag Frankfurt/Main 1965; Jochen Schmidt: Sobria ebrietas. Hölderlins "Hälfte des Lebens". In: Hölderlin Jahrbuch 1982-1983, Tübingen 1983; eine Sammlung von Interpretationen, unter methodischen Aspekten zusammengestellt, findet man bei Carsten Schlingmann (Hrsg.): Methoden der Interpretation, Reclam Stuttgart 1985.
(2) Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beißner Bd. 7,4 Stuttgart 1951 S.22/3
(3) In dieser Ausgabe lautet die erste Zeile des Gedichtes noch "Mit gelben Blumen..." statt "Mit gelben Birnen...". Erst Norbert v.Hellingrath stellt 1916 den alten Wortlaut wieder her.
(4) Alexander Jung: Friedrich Hölderlin und seine Werke, Stuttgart und Tübingen 1848 S. 274
(5) Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung (1905), Göttingen 1957 S.289/90
(6) Wilhelm Lange: Hölderlin - Eine Pathographie, Stuttgart 1909 S. 120/1
Für Gottfried Benn, der es als Beteiligter wohl wissen darf, beginnt die expressionistische Lyrik in Deutschland mit dem Erscheinen von Alfred Lichtensteins Gedicht ‘Dämmerung’ und Jakob van Hoddis' ‘Weltende’ im Jahr 1911.(1) Für ihn waren es auch die Jahre des ‘Sturms’ und der ‘Aktion’, deren Erscheinen er jeden Monat mit Ungeduld erwartete (2). In Herwarth Waldens Zeitschrift ‘AKTION’ und im Jahre 1911 wird Hölderlins ‘Hälfte des Lebens’ abgedruckt. Mit dieser literaturhistorisch vielleicht marginalen Koinzidenz beginnt die Wiederentdeckung Hölderlins, nun im Lichte eines veränderten Lebensgefühls und einer neuen Ästhetik.(3) Ein Vorschein dieser Auferstehung findet sich in folgendem Gedicht des 17-jährigen Georg Heym:
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Georg Heym: An Hölderlin
Und du starbst auch, du Sohn des Frühlings?
Du, dessen Leben war wie lauter
Strahlende Flammen in Nachtgewölben,
Aus denen die Menschen stets vergeblich
Nach Ausweg und Befreiung suchen?
Du starbst. Denn diese griffen töricht
Nach deiner reinen Flamme aus
Und löschten sie, denn immer ward
Das Große diesem Tier verhaßt.
Dir senkte die Moira
unendliches Leid auf den zarterschwingenden
Geist herab,
Da hüllte der Gott seinem frommen Sohn
Dunkle Binden um das gemarterte Haupt.
(1905)
Ebenfalls in Herwart Waldens AKTION erscheint 1914 ein Aufsatz über die ‘Ethik des Geisteskranken’. Aber nicht um irgendwelche Geisteskranken geht es dem Autor, Wieland Herzfelde, sondern um jene, "die uns seelisch, ethisch entrückt sind, wie Hölderlin, Nietzsche." Dem Geisteskranken "schlägt die Einbildungskraft Brücken von einer Unmöglichkeit nach der anderen; zahllose Stege baut sie ihm, er wählt, wie`s ihm beliebt... Wieviel ärmer sind wir! Für uns gibt es nur die eine nüchterne, langweilige, unverrückbare, zwingende Wirklichkeit. Dem Künstler gelingt es zuweilen, sich aus den Fesseln des realen Seins zu befreien, doch bald schleppt ihn der Häscher der Notwendigkeit, der Bruder des Philistertums, die phantasielose, seelenfremde Logik wieder zurück in die Armut der nackten Tatsächlichkeit." (4)
Der Wahnsinnige befindet sich im Zustand der seelisch-geistigen Schwerelosigkeit. Das Reich der Notwendigkeit zwingt ihm nicht seine seelenlose Logik auf, es vermag nur seinen Körper zu knechten. Seine Seinsweise negiert die bürgerlichen Tugenden, und seine befreite Phantasie ermöglicht ihm jene rauschhaften Glückserfahrungen, nach denen der heutige Künstler sich vergeblich sehnt. So ist der Geisteskranke der wahre Anti-Bürger und leider auch dessen bevorzugtes Opfer. Das hat er mit dem Künstler gemeinsam. Insofern dessen Schaffen sich nicht mehr auf die symbolischen Gestaltung von anerkannt Allgemeinem richtet, sondern besessen aus der Unmittelbarkeit seiner je eigenen Befindlichkeit schöpft, muss seine Existenz gesellschaftlich fragwürdig werden. Vor dem Hintergrund dieser Idee vom Künstler, dessen Leben und Werk sich schicksalshaft tragisch gegen die Welt stemmen, gewinnt Hölderlin als Identifikationsfigur ein scharfes Profil. Seine Lebensproblematik ist dem expressionistischen Dichter nachvollziehbar, sein gesellschaftliches Außenseitertum macht er sich zu eigen. Und wo findet sein Leiden an der Deformiertheit des modernen Menschen, wo findet die Erfahrung von Heimat- und Grundlosigkeit prägnanter sprachliche Gestalt als in den 14 Zeilen unseres Hölderlin-Gedichtes? Dem Expressionisten ist das Ungereimte, Dissonante dieser zwei Strophen gerade nicht Ausdruck eines poetischen Scheiterns, sondern präzise Wiedergabe seiner Wirklichkeitserfahrung. Insbesondere Georg Heym und Georg Trakl schöpfen aus dem Metaphernvorrat dieses Gedichtes, es wird ihnen zum Steinbruch, aus dem sie die prägnantesten Bilder heraussprengen, um sie in ihre poetische Sprache einzubauen. Zwei Beispiele:
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Georg Heym: Die Bäume knarren...
Die Bäume knarren, wirrbetäubt,
Sie wissen nicht, was sie auseinandertreibt,
Ihre haarlosen Schöpfe.
Und die Raben, über den Wäldern gesträubt,
Streifen in das Verschneite weit,
Eine klagende Herde.
Die Blumen starben in der goldenen Zeit
Und Winter jagt uns über dunkle Erde.
1911
Das zweite Gedicht stammt von Georg Trakl aus dem Jahre 1913:
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Landschaft (2. Fassung)
Septemberabend; traurig tönen die dunklen Rufe der Hirten
Durch das dämmernde Dorf; Feuer sprüht in der Schmiede.
Gewaltig bäumt sich ein schwarzes Pferd; die hyazinthenen
Locken der Magd
Haschen nach der Inbrunst seiner purpurnen Nüstern.
Leise erstarrt am Saum des Waldes der Schrei der Hirschkuh
Und die gelben Blumen des Herbstes
Neigen sich sprachlos über das blaue Antlitz des Teichs.
In roter Flamme verbrannte ein Baum; aufflattern mit
dunklen Gesichtern die Fledermäuse.
Die jungen Dichter des expressionistischen Jahrzehntes liebten die sanften Töne und leisen Farben nicht. Sie übertönten ihr Unglück oft genug mit grellen Posen und provokanten Thesen. Für sie war eine Welt am Zerbrechen und dies noch vor dem politischen Zusammenbruch des Kaiserreiches, ihnen waren die Saturiertheit und Selbstzufriedenheit der Väter- und Gründergeneration verdächtig - die Scherben und Trümmer zerfallender Weltbilder aber real. Die literarischen Techniken, mit denen sie experimentierten, die Wirklichkeitsfragmente, die sie sich auswählten, reflektieren diesen Weltverfall. Und mit diesen Dichtern, die den Nonsens propagierten (DaDa) und den Bürger verschreckten, zu Rauschmitteln griffen (Benn) und daran starben (Trakl), den Krieg als das große Purgatorium herbeisehnten (Heym) und darin umkamen (Stramm), mit Dichtern, die den Wahnsinn feierten (Herzfelde), fürchteten und im Irrenhaus endeten (v.Hoddis), nimmt deutlich sichtbar und laut vernehmbar Gestalt an, was heute die ‘Moderne’ genannt wird. Und in dieser erst gewinnt Hölderlins Werk seine wirkungsgeschichtliche Mächtigkeit. Damit gelangen wir zu einem dritten Element Hölderlinscher Wirkung: Nicht nur als wahnsinniger Welt-Aussteiger oder Anti-Philister, und nicht nur als Lieferant von prägnanten Sprachbildern ragt er ins 20. Jahrhundert hinein, sondern auch als Vorarbeiter für literarische Techniken, die jetzt erst Sinn machten.
Norbert v. Hellingrath prägte 1910 den Begriff der ‘harten Fügung’ zur Kennzeichnung des Hölderlinschen Spätstiles mit seinen Inversionen und offenen syntaktischen Formen, seinen sich zunehmend vereinzelnden Satzteilen und "gewichtigen Worten", die sich der Satzsyntax entgegenstellen (6).
Werfen wir noch einmal einen Blick auf unser Gedicht und betrachten seine Syntax: Schon der erste Satz bezieht seine innere Spannung aus der Nachstellung des Subjektes ("das Land"); dann folgt unvermittelt die Anrufung der "holden Schwäne", die jetzt zum Subjekt des neuen Teilsatzes werden. Obzwar dieser mit der Konjunktion ‘und’ eingeleitet wird, ist die Wortstellung invertiert wie die eines subordinierten Nebensatzes. In der zweiten Strophe ist der Sprachfluss mehrfach gestaut, und der dazwischengedrängte Temporalsatz schiebt die Objekte weiter hinaus. Schließlich werden zwei satzlogisch nicht aufeinander angewiesene Hauptsätze aneinandergereiht, der zweite wiederum invertiert und damit in Gegenstellung zum vorausgehenden gebracht ("Die Mauern.../...die Fahnen"). Experimentiert man ein bisschen mit diesen beiden Gliedsätzen und isoliert sie noch stärker voneinander, etwa so:
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Die Mauern stehn sprachlos und kalt.
Im Winde klirren die Fahnen.
Auch Th.W.Adorno hat das Ureigene in der späten Lyrik Hölderlins auf einen technischen Begriff gebracht: ‘Parataxis’.
"Hölderlin kennt Formen, die in erweitertem Sinn, insgesamt parataktisch heißen dürften. Die bekannteste unter ihnen ist ‘Hälfte des Lebens’. Auf eine an Hegel gemahnende Weise sind Vermittlungen des vulgären Typs, ein Mittleres außerhalb der Momente, die es verbinden soll, als äußerlich und unwesentlich eliminiert...; nicht zuletzt das verleiht Hölderlins später Dichtung ihr Antiklassizistisches, gegen Harmonie sich Sträubendes.(...) Jede der beiden Strophen der ‘Hälfte des Lebens’ bedarf ... in sich ihres Gegenteils. Auch darin erweist Inhalt und Form bestimmbar sich als eines; die inhaltliche Antithese von sinnhafter Liebe und Geschlagensein bricht, um Ausdruck zu werden, ebenso die Strophe auseinander, wie umgekehrt die parataktische Form den Schnitt zwischen die Hälften des Lebens selbst erst vollzieht." (7)
Parataxe ist zunächst einmal die Nebenordnung von Satzgliedern oder Sätzen im Gegensatz zur Unterordnung oder Hypotaxe. Parataktische Gefüge sind Reihungen oder Aufzählungen, sie breiten sich in der Horizontalen aus, im Nach- und Nebeneinander. Parataktische Gefüge werden mehr von der Kraft der Assoziation als vom Gesetz der Logik beherrscht. Das Spektrum reicht von der ‘disparaten Parataxe’, dem Zusammenzwingen des nicht-Zusammengehörenden bis zur satzlogischen Verknüpfung identischer Satzglieder vermittels Konjunktionen wie ‘und’,’oder’,’aber’.
Th.W.Adorno jedoch bezieht seinen Begriff ‘Parataxis’ nicht allein auf Syntax und Struktur eines Gedichtes, er zielt damit geradewegs auf das Incommensurable in Hölderlins Spätwerk: Zwar scheinen die großen, mehrfach untergliederten Satzperioden zu dominieren, unvergleichlich wird dessen Werk jedoch, wo es durch "kunstvolle Störungen" (a.a.o.S.471) der traditionellen Logik der Synthese ausweicht.
Hölderlin selbst hat darüber reflektiert:
"Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziel der Zweck folgt, ist dem Dichter gewiß nur höchst selten brauchbar." (8)
Doch wenden wir uns noch einmal dem Mikrokosmos der Hölderlinschen Satzsyntax zu. 1951 führte die ‘Weltwoche’ bei deutschen Dichtern eine Umfrage nach ihren drei Lieblingsgedichten durch. Auch Gottfried Benn wurde gefragt, und fast hätte er ‘Hälfte des Lebens’ zu seinen Lieblingsgedichten gezählt, störte ihn darin nicht das kleine Wörtchen ‘und’ in der fünften Reihe der ersten Strophe, denn
"(von Trunkenheit und Küssen ist in den vorhergehende Reihen nicht die Rede, sondern von Birnen und Rosen und allerdings von einem See). Nun sagt der Dichter "ihr holden Schwäne", er findet also wohl Schwäne im allgemeinen hold, dann holt er aus der speziellen aktuellen Situation mit Hilfe von "und" die trunkenen Schwäne heran, keinZweifel, er sieht sie im Augenblick überzeugend trunken, aber dann ist die allgemeine Schwänebezeichnung "hold" nicht gesehen, sondern konventionell. ... Mancher wird sagen, man dürfe Heiligtümer der Lyrik nicht so betrachten, ich meine, man darf. Sie bleiben Heiligtümer." (9)
In der Tat, welch respektlos unsensible Herangehensweise, könnte man spontan sagen. Ist Benn hier mehr kühl sezierender Arzt als einfühlender Dichter?
In seinem 1951 gehaltenen Vortrag über ‘Probleme der Lyrik’ bringt er den Begriff des ‘Artistischen’ wieder zu Ehren, damit den Stil- und Formwillen bezeichnend, welcher der spontanen lyrischen Inspiration gegenübertritt. Letztere mag das schöpferische Ereignis auslösen, aber erst die intellektuelle Gestaltungskraft schafft das gelungene Gedicht. Das formale, das geistige Prinzip
"nimmt diese Verse sofort in die Hand, legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie, sucht nach pathologischen Stellen... raffiniert und skeptisch." (10)
Und so finden wir unser Gedicht im Laboratorium des reflektierten Dichter-Kritikers wieder, nicht mehr im heimlich-unheimlichen Dunkel inspirierter Kongenialität, sondern im kalten Lampenschein des analysierenden Intellekts. Benn nimmt die Anwesenheit der koordinierenden Konjunktion ‘und’ im Zentrum der ersten Strophe beim Wort und als Aufforderung, die Kriterien der Satzlogik anzuwenden:
Welche identischen Satzglieder werden hier aufeinander bezogen? Wo sind sie zuvor eingeführt worden? Und er ist doppelt unzufrieden:
Dieses ‘und’ erscheint ihm weder satzlogisch motiviert, noch poetisch gerechtfertigt! Durch dieses ‘und’ bleibt in der poetischen Textur ein unbereinigter Rest grammatikalischen Zwangs zurück, welcher der dichterischen Vision Tiefe nimmt, den Anschein von Synthese erweckt und die Bruchkanten des Textes zu glätten versucht.
"Es darf nichts zufällig sein in einem Gedicht", postuliert er in seinem Vortrag von 1951, der Lyriker muss sein Gedicht "abdichten gegen Einbrüche, Störungsmöglichkeiten" (a.a.o.S.347).
Unser Ausgangspunkt war das expressionistische Jahrzehnte. Nun befinden wir uns in einem fortgeschrittenen Stadium der Moderne, in welcher zum einen der Anspruch intellektueller Präzision herrscht (’Artistik’), zum anderen die Idee kausaler Zwänge abgelehnt wird (’diktatorische Phantasie’) und zum dritten die dichterische Rede sich noch kompromissloser gegen die Sprache des Alltags und der Medien abzudichten versucht (’Sprachmagie’). Dieser Weg führt schließlich in die Spätphase der hermetischen Dichtung , zur Lyrik von Paul Celan, Günter Eich oder Johannes Bobrowski, die sich alle auf ihre je eigene Weise zum Hölderlinschen Werk gestellt haben. (11)
Doch zum Abschluss noch eine Dichterstimme, die weder kritisch scharf und theoretisierend noch hermetisch verrätselt ist, sondern ganz persönlich und warm: Marie Luise Kaschnitz schreibt 1959 für die Artikelserie ‘Mein Gedicht’ über ‘Hälfte des Lebens’: In jeder Phase ihres Lebens habe sie es auf andere Weise gelesen und empfunden, zuerst sehr konkret als Veranschaulichung der Jahreszeiten, dann als schmerzliche Klage über das Altern und den Verlust der Jugend, und schließlich als furchterregende Schilderung des jedem Menschen bekannten "Seelenzustandes der inneren Verödung und Kälte", als "bestürzende Verdichtung menschlicher Seelenangst, dass das Gedicht mir heute zuweilen nur noch erträglich ist, wenn ich es ritornellartig lese, also die Jahreszeiten wieder wörtlich nehme, in ihrem ewigen Wechsel, ihrem Kommen und Gehen." (12)
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(1) Gottfried Benn: Probleme der Lyrik, in G.Benn: Das Hauptwerk Limes Verlag Wiesbaden und München 1980 Bd.2 S.321
(2) G.Benn: Rede auf Else Lasker-Schüler, a.a.o.S.356
(3) Zur Rolle des George-Kreises bei der Wiederentdeckung Hölderlins siehe Gunter Martens: Hölderlin-Rezeption in der Nachfolge Nietzsches - Stationen der Aneignung eines Dichters, in: Hölderlin Jahrbuch 1982-1983, Tübingen 1983 S.61 ff
(4) W.Herzfelde: Die Ethik der Geisteskranken, AKTION, 1914, Spalte 300/301;
(5) Siehe Kurt Bartsch: Die Hölderlin-Rezeption im deutschen Expressionismus, Frankfurt 1974; nach seiner Zählung gebraucht Trakl das Wort ‘sprachlos’ insgesamt zwölfmal, das Motiv der kalten, kahlen oder schwarzen ‘Mauern’ wird fünfmal variiert, S.99/105
(6) Norbert v. Hellingrath: Hölderlin-Vermächtnis, München 1936 S.25 des Weiteren Karl Vietor: Die Lyrik Hölderlins, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a.M. 1921, Darmstadt 1970; Hannes Maeder: Hölderlin und das Wort, in: Trivium 2/1944; Hans Peter Jäger: Hölderlin - Novalis. Zürich 1949
(7) T.W.Adorno: Parataxis (1963), Gesammelte Schriften, Frankfurt Bd.11 S.473
(8) Hölderlin, Werke und Briefe, hrsg. von Fr.Beißner und J.Schmidt, Insel Verlag Frankfurt 1969 Bd.2 S.602
(9) Gottfried Benns Antwort auf die Umfrage nach seinen drei Lieblingsgedichten wurde am 2.1.1953 in der ‘Weltwoche’ veröffentlicht. Siehe auch Gottfried Benn: Geliebte Gedichte, Gesammelte Werke Bd. 7. S.1782/3
(10) G.Benn: Probleme der Lyrik, in: G.B.: Das Haupwerk a.a.o.S.330
(11) Auch in Johannes Bobrowskis 1961 entstandenem Gedicht "Hölderlin in Tübingen" wird auf ‘Hälfte des Lebens’ Bezug genommen. Eine erschöpfende Interpretation findet sich bei Bernd Leistner: Johannes Bobrowski, Studien und Interpretationen, Rütten & Loenig Berlin 1981
(12) M.L.Kaschnitz: Mein Gedicht, in: Zwischen Immer und Nie, Essays 1971
III.
Ende der 60er Jahre war Hölderlins Name in der Bundesrepublik in vieler Munde. Die außerordentlich starke und weitgestreute Rezeption nährte sich hauptsächlich aus drei Quellen: Hölderlins 200. Geburtstag 1970, Piere Bertaux` Thesen über den ‘Jakobiner’ Hölderlin und die Diskussion um die Anti-Psychiatrie, nach der Wahnsinn, insbesondere Schizophrenie, als höhere Form der Wirklichkeitsbewältigung verstanden werden konnte. (1) Plötzlich stand Hölderlin inmitten vieler Fronten: zwischen den Hermeneutikern und den materialistischen Historikern, zwischen den Streitern um das richtige Editionsprinzip, zwischen einer alten und einer neuen Hölderlin-Gesellschaft, zwischen der Psychiatrie und der Anti-Psychiatrie. (2)
In der DDR gestaltete sich die Rezeption weniger heftig: Hölderlin war von Anbeginn Teil des nationalen kulturellen Erbes, d.h. er wurde denjenigen Dichtern zugerechnet, deren Utopie einer befreiten Menschheit auf die sozialistische Zukunft vorauszudeuten vermochte.
"In unserer Deutschen Demokratischen Republik wird der visionäre Traum des jakobinischen Dichters durch die wissenschaftlich begründete, revolutionäre Tat vollzogen: Friedrich Hölderlin und Karl Marx als Produkt der Dialektik der Geschichte." (3)
Die gelungensten Werke des Dichters vermittelten demnach "Ahndungen" einer noch zu erringenden Harmonie. Die Literaturgeschichtsschreibung richtete ihr Augenmerk vor allem auf den Hölderlin der ‘vaterländischen Gesänge’ und dessen kompromisslose Anstrengungen, auf sein ‘Volk’ dichtend und dadurch bildend einzuwirken. Da jedoch der utopische Gehalt seiner Dichtung zu wirklichkeitsfern und unkonkret war, und auch seine Persönlichkeit zu weltabgewandt, um sich einen festen Sitz im Leben zu erobern, musste er scheitern. Was also für die Nationalliteratur als Erbgut bleibt, ist "das hohe Pathos revolutionärer Bestrebungen", während das tragische Schicksal auf das "Schuldkonto einer unhumanen Klassengesellschaft" geht. (4)
Wo nun ist bei dieser prophetischen, der Schönheit und Menschheitsemanzipation geweihten Hölderlin-Gestalt der Ort eines Gedichtes wie des unsrigen? Wie fügen sich Verse, deren schroffe Dissonanz bar jeden utopischen Gehaltes scheinen, in das Werk des heroischen Sehers?
"Aus einer lyrischen Nachlese (1805) ragt ein kleines Gedicht hervor", heißt es in den ‘Erläuterungen zur Deutschen Literatur’ 1957, "es gehört zu den schönsten und ergreifendsten der deutschen Dichtung: ‘Hälfte des Lebens’ betitelte es der bereits von der geistigen Umnachtung heimgesuchte Dichter ... Diese wenigen Zeilen mögen andeuten, was der Mensch und Dichter Hölderlin war und was er ... durch die widernatürliche Hemmung seiner Entwicklung nicht sein konnte." (5)
Ist es hier noch der Wahnsinn, der das Gedicht zeichnet, so sind es zwanzig Jahre später die "zerstörerischen Kräfte einer gesellschaftlichen Umwelt", deren Misere ihn überwältigte:
"Der Schmerz Hölderlins ist die Widerspiegelung der nationalen Rückständigkeit..." (a.a.O. 8.Auflage 1977, S.61)
Wie so oft in der DDR rezipierten die Schriftsteller, vor allem aus der nachwachsenden Generation, das ‘klassische Erbe’ auf ihre Weise. Sie interessierten sich mehr für den Gescheiterten, den von allen guten Geistern Verlassenen und von vielen - nicht zuletzt Goethe und Schiller - Missverstandenen. Mit dem Hölderlin im Grenzbereich von Vernunft und Wahnsinn beschäftigen sich z.B. Gerhard Wolfs Erzählung ‘Der arme Hölderlin’ (1972) und Stefan Hermlins Hörspielcollage ‘Scardanelli’ (1970). Hier ist Hölderlin einer, der einen vergeblichen Kampf führte gegen die seelische Vereinsamung, gegen die Entfremdung in der arbeitsteiligen Welt. Auch in der Lyrik wird Hölderlin auf vielfältige Weise und aus den unterschiedlichsten Motiven herbeizitiert, selten als ‘Erbstück’ und immer öfter als Beunruhigungsfaktor, als Anti-Dotum gegen post-revolutionäre Selbstgefälligkeit. Zum Beispiel in Wolf Biermanns ‘Hölderlin-Lied’:
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In diesem Lande leben wir
wie Fremdlinge im eigenen Haus
Die eigene Sprache, wie sie uns
entgegenschlägt, verstehn wir nicht
noch verstehn, was wir sagen
die unsere Sprache sprechen
In diesem Lande leben wir wie Fremdlinge
...
In diesem Lande leben wir
wie Fremdlinge im eigenen Haus
Ausgebrannt sind die Öfen der Revolution
früherer Feuer Asche liegt uns auf den Lippen
kälter, immer kältere Kälten sinken in uns
Über uns ist hereingebrochen
solcher Friede! (6)
Zitiert wird auch in Volker Brauns ‘Die Mauer’ betitelten Gedicht aus dem Jahre 1965:
-
Die Mauer
1.
Zwischen den seltsamen Städten, die den gleichen
Namen haben, zwischen vielem Beton
Eisen, Draht, Rauch, den Schüssen
Der Motoren: in des seltsamen Lands
Wundermal steht aus all dem
Ein Bau, zwischen den Wundern
Auffallend, im erstaunlichen Land
Ausland. Gewöhnt
An hängende Brücken und Stahltürme
Und was noch an die Grenze geht
Von Material und Maschinen, faßt
Der Blick doch nicht
Das hier.
Zwischen all den Rätseln: das ist
Fast ihre Lösung. Schrecklich
Hält sie, steinerne Grenze
Auf, was keine Grenze
Kennt: den Krieg. Und sie hält
Im friedlichen Land, denn es muß stark sein
Nicht arm, die abhaun zu den Wölfen
Die Lämmer. Vor den Kopf
Stößt sie, das gehn soll wohin es will, nicht
In die Massengräber, das
Volk der Denker.
Aber das mich so hält, das halbe
Land, das sich geändert hat mit mir, jetzt
Ist es sichrer, aber
Ändre ichs noch? Von dem Panzer
Gedeckt, freut sichs
Seiner Ruhe, fast ruhig? Schwer
Aus den Gewehren fallen die Schüsse:
Auf die, die es anders besser
Halten könnte. Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
... (7)
Ambivalenz noch auffälliger. Obwohl als Geste des Widersprechens mehr oder weniger vehement eingebracht, soll es das Einverständnis mit der geglaubten Notwendigkeit des Bauwerks doch nicht übertönen. Widerstand ist zwecklos, Einspruch dagegen angebracht. Doch in welcher Sprache? In der Hölderlins? Das immerhin über drei Zeilen gehende Hölderlin-Zitat wirkt wie ein Mahnmal der Sprachnot angesichts der rätselhaften ‘Grenze’. Die ins Existentielle weisende Metapher der Entfremdung und Vereinsamung ("Die Mauern....") wird zwar mit gegenwartspolitischem Sinn aufgeladen ("Die Mauer"), erscheint jedoch als lediglich geborgte Sprache. Das Herbeizitierte schrumpft zur Geste des Einspruchs ohne das Widerspruchspotential des Gedichtes zu vermehren.
Der zitierende Zugriff auf Hölderlin ist auffällig: Nicht nur werden ausgewählte Schlüsselwörter einmontiert, um mit deren symbolischer Ladung dem eigenen Text Vielschichtigkeit zuzufügen; nein, es wird
zitiert, zeilenlang und wenn nötig in Kursiv. Ist das eine Form von Montage-Technik, wird hier der souveräne Umgang mit dem ‘Erbe’ demonstriert, oder drückt sich so das Bemühen um unverstellte Klassiker-Nähe aus? Das hat bestimmt alles eine Rolle gespielt. Aber ich glaube, dass sich hier auch noch ein Element DDR-spezifischer Denk- und Schreibformen durchgesetzt hat: Das Klassiker-Zitat, dem im Diskurs der sozialistischen Gesellschaft eine besondere Weihe zukam. Zitieren ist darin zuerst eine Form der Versicherung der Zugehörigkeit, dass man die Autoritäten respektiert und sich hinter das unverbrüchlich Geltende stellt. Doch auch derjenige, der etwas einzuwenden hat, zitiert die Autoritäten und wappnet sich auf diese Weise, bevor er zu seinen andersartigen Schlussfolgerungen gelangt. Das Klassikerzitat ist eine DDR-spezifische Tarnkappe für den Ja-Sage ebenso wie für den Aber-Sager. Volker Brauns Lyrik kennzeichnet sowohl die Dialektik des Ja-Aber-Sagens als auch die Kunst des Zitierens.
Am 1.1.1799 schreibt Hölderlin an den Bruder: "Aber die Besten unter den Deutschen meinen meist noch immer, wenn nur erst die Welt hübsch symmetrisch wäre, so wäre alles geschehen."
Und Volker Braun schreibt
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An Friedrich Hölderlin
Dein Eigentum auch, Bodenloser
Dein Asyl, das du bebautest
Mit schattigen Bäumen und Wein
Ist volkseigen!
Und deine Hoffnung, gesiedelt
Gegen die symmetrische Welt!
Aber die Früchte, wer soll sie
Die Fässer aussaufen, nehmen
dieses dröhnende Feld?
Die eisernen Reifen, wie
Fallen sie von meiner Brust
Wenn sie sich weitet?
Nicht träge
Sind wir geboren, Mann, dein Gott in Stahl gehüllt
Geht unter den Werktätigen:
Bis doch zu eingeborenem Brauch
Wird, was uns guttut, und
Brust an Brust weitet sich so, dass sie aufsprengt diese eiserne
Scheu voreinander! (8)
Schon in den Lyrik-Debatten der 60er Jahre wurde darum gestritten, inwieweit der Schriftsteller sein Schreiben noch unmittelbar in den Dienst des Klassenkampfes zu stellen hat. In den 70er Jahren vertritt die Generation der nachgeborenen Dichter immer entschiedener die Ansicht, dass ihre Aufgabe im Aufweis des Noch-Nicht-Realisierten zu bestehen hat. Das Vergessene und Verdrängte gelte es gerade dann wieder in Erfahrung zu bringen, wenn es hinter dem geordneten Gang des sozialistischen Alltags aus dem Blick zu geraten drohe. Auch dies sei ein Gebot des Realismus: Wirklichkeit ist erst dann erkannt, wenn sie auch in ihren defizitären Zuständen wahrgenommen wird; sie soll nicht repräsentiert werden, wie sie aus den Programmen ersteht, sondern im Bewusstsein ihrer Mängel auf das in ihr Mögliche hin befragt werden. In den Lyrik-Diskussionen tauchen nun Kategorien auf, die die alten zusehends verdrängen: Statt Parteilichkeit wird ‘Zeitgenossenschaft’ gefordert, statt von realistischer Widerspiegelung ist nun von der ‘Unmittelbarkeit’ des lyrischen Weltbezugs und von gereifter ‘Subjektivität’ die Rede (9). Dies entsprach im übrigen voll und ganz der kulturpolitischen Diskussion um den Stellenwert des ‘subjektiven Faktors’ in der modernen Industriegesellschaft: Sie ist zusehends auf die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Individuumsangewiesen.(10)
Ein Lyriker, der in dieser Diskussion immer engagiert mitgesprochen hat, ist Heinz Czechowski. Er soll uns im folgenden beschäftigen, denn wie kaum ein anderer hat er seinen Hölderlin gut studiert und
absichtsvoll mit dessen Zunge gesprochen.
-
Flußfahrt
1
Frühnebel. Die Dörfer
Eingegrenzt vom Fluß und den Bergen.
Gutgestimmte Hähne
Wechseln den Morgengruß.
Uferzonen,
Besetzt von wiederkäuendem Vieh,
Treiben dahin. Die Sonne,
Ein randloses Licht,
Erscheint dem Tag:
Brandsätze falln
Da ist die Welt gegenwärtig
In sächsisch-böhmischen Dörfern.
2
Jetzt sprich deine Sprache, Land.
Verschweig nichts
Mit postkartenreifen Idyllen.
Geschrieben wird nicht
Der Gruß aus dem Nichts:
Stehn sprachlos und kalt
Noch die Städte,
Zensieren
Zerbrochene Brücken
Noch die Geschichte?
3
Nach einer anderen Sprache
Verlangen
Die nichtgeschriebenen Sätze:
Zu beiden Seiten des Flusses
Nehmen Autokolonnen
Mit tödlichem Blei
Das Grün unter Beschuß
Und die Sprache -
Jetzt ist sie ein Schlager:
Nimm den Sonnenschein
In dein Herz hinein,
(Und das Gedicht,
Gedankenlos fast,
Ist eine Arabeske,
An den Rand der Geschichte
Gezeichnet.)
4
Größers wolltest auch du! -
Ein Echo,
Zurückgeworfen
Von Felsen.
Hier nicht
Ist der Winkel von Hardt,
Wenn auch der Wald
Hinuntersinket und sinnt
Über den Fußtritt des Schicksals.
5
Uns bleibt,
Im Bilde zu bleiben,
Unsere Losung.
Auch wenn`s die Gedanken
Zu Grunde zieht
Wie überfrachtete Kähne. (11)
Und weiter geht die ‘Flußfahrt’: Sie führt durch das Land, durch die Geschichte und erreicht schließlich in der dritten Strophe die zentrale Fragestellung: Findet sich noch eine Sprache, die dem, was sich ereignet, gerecht werden kann, und mehr: Vermögen Gedichte noch zu wirklichen Ereignissen zu werden? Die Möglichkeit des Dichtens und die Existenz des Dichtenden stehen damit in Zweifel. Ist der Dichterberuf immer noch eine berufene Existenz? Hier stoßen wir wieder auf Hölderlin. Das Zitat aus ‘Hälfte des Lebens’ steht nicht allein im Gedicht, es ist vielmehr Teil eines Zitat-Ensembles. Dieses schafft einen Sinnhorizont, vor dessen Hintergrund die poetische Fragestellung schärfere Konturen erhält: Hölderlin steht als Symbolfigur für jenen hohen Dichtungsanspruch, dem der Wille zum "Größeren" zum Grund seines Scheiterns wurde. Daran muss sich jeder Dichter, auch der moderne messen und so beschwört das lyrische Ich die Wahlverwandschaft mit dem bedingungslosen Idealisten Hölderlin ("uns"), um zugleich auch die Differenz auszuloten: "Hier nicht ist der Winkel von Hardt" und was bleibet, stiften die Dichter auch heute nicht. So ist die Frage, was den Dichtern noch bleibt: Anschauung oder Reflexion, Bild oder These? Das lyrische Ich entschließt sich, "im Bilde zu bleiben" und weiß doch genau, dass ihm das nie genügen kann. Diese Position darf im guten Schillerschen Sinne ‘sentimentalisch’ genannt werden. Dem entspricht als Grundton der ‘elegische’,
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So ist alles ein Tasten.
Auch das Begreifen
ist flüchtig (mit Rosen
Hänget das Land in den See). (12)
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OSTRAU
Fahrten mit dir, Dorfnamen,
Die kein Echo hervorrufen.
Friedhöfe mit dem Geruch
Von Buchsbaum und Oleander.
Geöffnete Grüfte, Knochen
Auf dem Komposthaufen.
Der Gingobaum stammt aus China, er steht
Wo der Hund begraben liegt
Des letzten Barons von Veltheim:
Ästhetenklage
Um die verschwundene Barockbibliothek,
Als in Anhalt
Der Ackerknecht
Bauer geworden.
Nur die Schwäne
Gleiten noch immer
Mit verschlossenen Schnäbeln
Den Burggraben entlang
Und provozieren vergeblich
Ein Hölderlinzitat. (13)
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(1) Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution, Suhrkamp Frankfurt 1969; Gregory Bateson u.a.: Schizophrenie und Familie, Frankfurt 1969
(2) Zu erwähnen ist hier z.B. der Streit um die ‘Frankfurter’ Hölderlin-Ausgabe von Dieter Sattler, der Hölderlin-Roman von Peter Härtling oder das Theaterstück ‘Hölderlin’ von Peter Weis.
(3) Alexander Abusch: Hölderlins poetischer Traum einer neuen Menschengemeinschaft, Weimarer Beiträge 7/1970; vgl. hierzu auch Walter Dietze: Der Vollendung Ahndungen..., Weimarer Beiträge 9/1970
(4) H.D.Dahnke in: Textsammlung zur deutschen Literaturgeschichte, Volk und Wissen, Berlin 1975 S.126; siehe auch: Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 7 Volk und Wissen Berlin 1978 S.338ff
(5) Erläuterungen zur Deutschen Literatur: Klassik und Romantik, Berlin 1957 S.33
(6) Wolf Biermann: Das Hölderlin-Lied, in: Für meine Genossen, Berlin (W) 1972 S. 18/19
(7) Volker Braun: Gedichte, Reclam Leipzig 1976 S.45-47
(8) Volker Braun a.a.O. S.91/92
(9) Christel und Walfried Hartinger: Unterwegs in die Erfahrung, in: Klaus Walter (Hrsg.): Ansichten - Aufsätze zur Literatur in der DDR, Halle 1976 - Siehe auch: Lyrik-Diskussion in Leipzig: Zeitgenossenschaft und lyrische Subjektivität, Weimarer Beiträge 10/1977
(10) Hans Kaufmann: Literatur in der dynamischen Gesellschaft, in: Eva und Hans Kaufmann: Erwartung und Angebot, Berlin 1976 S.20ff
(11) Heinz Czechowski: Schafe und Sterne, Halle 1974 S.139/40. Zitiert wird aus den Gedichten ‘Hälfte des Lebens’,’Lebenslauf’, ‘Winkel von Hardt’ und ‘Andenken’.
(12) in: Neue Deutsche Literatur, 6/1973 S.56/7
(13) in: Neue Deutsche Literatur, 8/1973 S.87/8
IV.
Abschließend noch einmal zum Anfang und endlich zu jenen Fragen, die zünftigerweise an einen literarischen Text gestellt werden: In welchem entstehungsgeschichtlichen Kontext steht Hölderlins Gedicht? Welchen Platz im Gesamtwerk nimmt es ein? Wie ist es entstanden und was waren des Dichters Gedanken?
‘Hälfte des Lebens’, das vielzitierte und fleißig kommentierte Gedicht, das oft genug repräsentativ für Leben und Werk Hölderlins herangezogen wurde, steht im Gesamtwerk eher als Ausnahme da.
Zuerst einmal ist es eines der kürzesten und zugänglichsten: Dem Leser erschließt sich recht schnell ein Sinn, der ihn angeht. Kaum sind Verstehenshindernisse zu überwinden, die historische Distanz klafft nicht wie ein gähnender Abgrund, über den behelfsmäßige Stege oder kunstvolle Brücken gebaut werden müssten. Ein mythologischer Wissensapparat muss nicht bemüht werden. Des Weiteren: Es passt nicht recht in Hölderlins eigene Vorstellung vom ‘Dichterberuf’. Seinem ästhetischen und philosophischen Anspruch lag die Vermittlung des Gegensätzlichen am Herzen, sein Trachten ging auf die Harmonie des ‘Einigentgegengesetzten’, die Vereinigung des Nordens mit dem griechischen Himmel, der alten Götter mit dem Gott des Christentums, der Kunst mit der Natur, der Wirklichkeit mit dem Ideal, des goldenen Zeitalters mit der bleiernen Zeit..., all dies sollte in der Idee der Schönheit eins werden (1). Die Schlussworte des Eremiten Hyperion drücken es so aus: "Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder."
Auch in den ‘Nachtgesängen’, jenem Ensemble von neun Gedichten, als deren Teil ‘Hälfte des Lebens’ 1804 veröffentlicht wurde, bildet es eine Ausnahme. Die Gedichte der ‘Nachtgesänge’ sind thematisch um die Antithesen Tag/Nacht, Nacht/Licht, Blindheit/Augenlicht, Sommer/Winter gebildet und verweisen - mitunter im mytholgischen Gewande - auf Möglichkeiten, wie die Zeit der Nacht durchgestanden, wie ihre Not überwunden werden kann: Z.B durch die "Wahrsagung" von Herakles' Rückkehr (’Chiron’); durch das "Gedächtnis", das die Erinnerung der einstigen Harmonie lebendig hält (’Tränen’), durch die Berufung und den Gesang des Dichters (’Blödigkeit’); durch die alles erneuernde Kraft des Stromgeistes (’Ganymed’) und schließlich durch das "groß Schicksal", das sich "an übrigem Ort" bereithält (’Winkel von Hardt’).
Mehrmals wird in den ‘Nachtgesängen’ die Frage nach der Existenz, dem Ort und dem Wirken des erlösenden Prinzips aufgeworfen:
Wo bist du ...Licht? (’Chiron’); Wo bist du ? (’An die Hoffnung’); Was schläfts du, Bergsohn...? (’Ganymed’); Was seid ihr? (’Lebensalter’).
Dem folgt die Aufforderung an die erlösenden Kräfte, endlich helfend zu erscheinen; aber der bangen Frage "Weh mir, wo..." in unserem Gedicht schimmert keine Hoffnung, sie steht unbeantwortet im Raum wie die Mauern im Winde, starr und kalt.
Im Jahre 1910 wird Hölderlins Hymne ‘Wie wenn am Feiertage ...’ zum ersten Male veröffentlicht, die Herausgeber sind Stefan George und Karl Wolfkehl. Dass diese im Jahre 1800 begonnene Hymne unvollendet ist und nach der siebten Strophe in Prosa-Entwürfen und vorläufig notierten Wörtern stecken bleibt, wurde allerdings erst durch Friedrich Beißners Stuttgarter Ausgabe (1943) endgültig einsehbar. In den nachgelassenen Bruchstücken dieser Hymne finden sich aber schon die wichtigsten Bausteine zu dem Gedicht ‘Hälfte des Lebens’, und zwar etwa in dieser Anordnung:
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Doch weh mir! wenn von
Die Rose Die Schwäne Der Hirsch
Und trunken von
Küssen taucht ihr
das Haupt ins hei-
lignüchterne kühle
Gewässer
Holde Schwester
Wo nehm ich, wenn es Winter ist
die Blumen, ...
Welcher Art ist dieses persönliche Leid?
-
"Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
All uns nieder.."
-
Aber wir, zufrieden gesellt, wie die liebenden Schwäne,
Wenn sie ruhen am See, oder, auf Wellen gewiegt,
Niedersehen in die Wasser, wo silberne Wolken sich spiegeln,
Und ätherisches Blau unter den Schiffenden wallt,
So auf Erden wandelten wir. Und drohte der Nord auch,
Er, der Liebenden Feind, klagenbereitend, und fiel
Von den Ästen das Laub, und flog im Winde der Regen,
Ruhig lächelten wir, fühlten den eigenen Gott
Unter trautem Gespräch; in Einem Seelengesange,
Ganz in Frieden mit uns kindlich und freudig allein.
Aber das Haus ist öde mir nun, und sie haben mein Auge
Mir genommen, auch mich hab ich verloren mit ihr.
Darum irr ich umher, und wohl, wie die Schatten, so muss ich
Leben, und sinnlos dünkt lange das Übrige mir.
Manches lässt darauf schließen, dass Hölderlin seinem kleinen Gedicht selbst nicht viel Bedeutung beigemessen hat. In einem Brief an den Herausgeber Friedrich Wilmans kündigt Hölderlin im Dezember 1803 "einige Nachtgesänge" an und schließt daran die Bemerkungen:
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"Es ist eine Freude, sich dem Leser zu opfern, und sich mit ihm in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben. Übrigens sind Liebeslieder immer müder Flug, denn so weit sind wir noch immer, trotz der Verschiedenheit der Stoffe; ein anderes ist das hohe und reine Frohlocken vaterländischer Gesänge." (3)
Dies sind nun philologisch und biographisch zweifellos interessante Zusammenhänge, die das Herz des Hölderlin-Verehrers sanft erregen. Interessant ist jedoch auch etwas ganz anderes, worauf ich abschließend hinweisen möchte: All dies ist für die Wirkungsgeschichte des Gedichtes weitgehend ohne Belang! Wirkungsmächtig d.h. Sinn-gebend für die Lektüre dieses Textes sind nicht so sehr die ursprüngliche Intention des Autors oder der originäre Entstehungszusammenhang des Werkes, sondern zuallererst die sprachliche Gestalt, seine Textur und deren Sinn-Angebote, oder, wie es im rezeptionstheoretischen Idiom lautet: seine strukturelle Offenheit. Hierfür ist die Geschichte des Gedichtes, wie ich sie zu erzählen versucht habe, beispielhaft: Seine Wiederkehr verdankte sich einer gänzlich veränderten Wirklichkeitserfahrung. Seine neuen Leser lauschen ihm nicht seine ursprüngliche Botschaft ab, sondern laden ihm den Sinn auf, der in ihrer ganz anderen Wirklichkeit erst Sinn macht. Hölderlins Zeitgenossen fanden sich in dem Gewebe dieses Textes nicht wieder, das 20. Jhdt dagegen findet immer neue, leidvolle Anlässe, Hölderlins Gedicht interpretierend, dichtend oder zitierend weiterzuschreiben. Und so enthält es doch eine, wenn auch ferne Utopie: dass es eines Tages, im Anders- oder Nirgendwo, keine Betroffenheit mehr hinterlässt, weil wir uns in dieser Metaphorik des existentiellen Verlorenseins nicht mehr begegnen.
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(1)"Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus", Hölderlin, Werke und Briefe Bd.2 S.647/8
(2) Peter Szondi: ‘Der andere Pfeil’, Schriften 1, Frankfurt 1987 S.289 - 314.
(3) Hölderlin, Werke und Briefe, a.a.O. Bd.2 S.949
- P.S.: Dieser Aufsatz wurde 1993 für das Germanistische Jahrbuch für Nordeuropa, Estland, Lettland und Litauen "Der Ginkgo Baum" (12. Folge Helsinki 1993) verfasst und dort veröffentlicht. Das Ende der DDR lag noch nicht weit zurück, was den langen Abschnitt zur DDR-Lyrik erklärbar macht.
Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz Themen-gerecht sein sollte.