E.T.A. Hoffmann

Erzählerrede und Perspektive

„Die Erfahrung der Diskontinuität der sicher geglaubten äußeren und inneren Welt führt zu Bewußtseinsirritationen der H.schen Protagonisten. Die wahre Wirklichkeit wird zum Rätsel, indem die Erzählerrede die Krise von Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis nicht in der sicheren Distanz zu dem ausdrückt, von dem die Rede ist, sondern durch extensiven Gebrauch modalisierender Verfahren den Leser selbst in ihren Bann zieht ... Besonders eindrucksvoll ist die ... Passage im Goldenen Topf, die schildert, wie Lindhorst Anselmus verläßt, nachdem er ihm ein Mittel gegen das „Äpfelweib“ ausgehändigt hat. Artistisch raffiniert konzentriert H. hier die unterschiedlichen, über sein gesamtes Werk verstreuten Mittel der Modalisierung: die mögliche Wahrnehmungstäuschung durch die äußeren Umstände (Dämmerung), die Als-ob-Formel und das Modalverb, die Zeitadverbien, die den Punkt der Metamorphose umkreisen, und ihn gerade dort als unbestimmbaren herausarbeiten, den Sprung von der figürlichen Ebene in die des Gegenständlich-Tatsächlichen.“ (Gerhard R. Kaiser: E.T.A. Hoffmann, Metzler 1988 S. 151)

Analyseauftrag für die folgende Textstelle aus der Vierten Vigilie:

  1. Arbeiten Sie die inneren und äußeren Welten heraus. Welche Wirklichkeits-Ebenen könnten festgestellt werden?
  2. Mit welchen sprachlichen und erzähltechnischen Mitteln gelingt es dem Erzähler, den Leser über das Entschwinden des Archivarius im Unklaren zu lassen.
  3. Ordnen Sie Ihre Ergebnisse aus 1 und 2 in die Poetik E.T.A. Hoffmanns ein.
„Sowie der Archivarius Lindhorst den Namen Heerbrand nannte, war es dem Studenten Anselmus erst wieder, als stehe er wirklich mit beiden Füßen auf der Erde und er wäre wirklich der Student Anselmus und der vor ihm stehende Mann der Archivarius Lindhorst. Der gleichgültige Ton, in dem dieser sprach, hatte im grellen Kontrast mit den wunderbaren Erscheinungen, die er wie ein wahrhafter Nekromant hervorrief, etwas Grauenhaftes, das durch den stechenden Blick der funkelnden Augen, die aus den knöchernen Höhlen des magern, runzlichten Gesichts wie aus einem Gehäuse hervorstrahlten, noch erhöht wurde, und den Studenten ergriff mit Macht dasselbe unheimliche Gefühl, welches sich seiner schon auf dem Kaffeehause bemeisterte, als der Archivarius so viel Abenteuerliches erzählte. Nur mit Mühe faßte er sich, und als der Archivarius nochmals fragte: »Nun, warum sind Sie denn nicht zu mir gekommen?« da erhielt er es über sich, alles zu erzählen, was ihm an der Haustür begegnet. »Lieber Herr Anselmus«, sagte der Archivarius, als der Student seine Erzählung geendet, »lieber Herr Anselmus, ich kenne wohl das Äpfelweib, von der Sie zu sprechen belieben; es ist eine fatale Kreatur, die mir allerhand Possen spielt, und daß sie sich hat bronzieren lassen, um als Türklopfer die mir angenehmen Besuche zu verscheuchen, das ist in der Tat sehr arg und nicht zu leiden. Wollten Sie doch, werter Herr Anselmus, wenn Sie morgen um zwölf Uhr zu mir kommen und wieder etwas von dem Angrinsen und Anschnarren vermerken, ihr gefälligst was weniges von diesem Liquor auf die Nase tröpfeln, dann wird sich sogleich alles geben. Und nun Adieu! lieber Herr Anselmus, ich gehe etwas rasch, deshalb will ich Ihnen nicht zumuten, mit mir nach der Stadt zurückzukehren. – Adieu! auf Wiedersehen, morgen um zwölf Uhr.« – Der Archivarius hatte dem Studenten Anselmus ein kleines Fläschchen mit einem goldgelben Liquor gegeben, und nun schritt er rasch von dannen, so, daß er in der tiefen Dämmerung, die unterdessen eingebrochen, mehr in das Tal hinabzuschweben als zu gehen schien. Schon war er in der Nähe des Koselschen Gartens, da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein Paar große Flügel in den Lüften flatterten, und es dem Studenten Anselmus, der verwunderungsvoll dem Archivarius nachsah, vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittige aus zum raschen Fluge. – Wie der Student nun so in die Dämmerung hineinstarrte, da erhob sich mit krächzendem Geschrei ein weißgrauer Geier hoch in die Lüfte, und er merkte nun wohl, daß das weiße Geflatter, was er noch immer für den davonschreitenden Archivarius gehalten, schon eben der Geier gewesen sein müsse, unerachtet er nicht begreifen konnte, wo denn der Archivarius mit einemmal hingeschwunden. »Er kann aber auch selbst in Person davongeflogen sein, der Herr Archivarius Lindhorst«, sprach der Student Anselmus zu sich selbst, »denn ich sehe und fühle nun wohl, daß alle die fremden Gestalten aus einer fernen wundervollen Welt, die ich sonst nur in ganz besondern merkwürdigen Träumen schaute, jetzt in mein waches reges Leben geschritten sind und ihr Spiel mit mir treiben. – Dem sei aber, wie ihm wolle! Du lebst und glühst in meiner Brust, holde, liebliche Serpentina, nur du kannst die unendliche Sehnsucht stillen, die mein Innerstes zerreißt. – Ach, wann werde ich in dein holdseliges Auge blicken – liebe, liebe Serpentina!« – So rief der Student Anselmus ganz laut. – »Das ist ein schnöder, unchristlicher Name«, murmelte eine Baßstimme neben ihm, die einem heimkehrenden Spaziergänger gehörte. Der Student Anselmus, zu rechter Zeit erinnert, wo er war, eilte raschen Schrittes von dannen, indem er bei sich selbst dachte: »Wäre es nicht ein rechtes Unglück, wenn mir jetzt der Konrektor Paulmann oder der Registrator Heerbrand begegnete?« – Aber er begegnete keinem von beiden.“

Zitiert nach Bibliothek Gutenberg.

  

Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz Themen-gerecht sein sollte.
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