Friedrich Ani: Wie Licht schmeckt

Roman, Reihe Hanser, 2002/2009, 220 Seiten

Lukas hat sich zu seinem 14. Geburtstag gewünscht, drei Tage lang ungehindert (unbehindert!) durch die Stadt streifen zu dürfen. Seine Eltern sind nicht einverstanden, der Vater ist ein Taxi-Fahrer, der wenig mit seinem Sohn spricht, die Mutter ist sehr ängstlich und psychisch krank, irgendetwas zwischen Depression und Borderline. Der Großvater ist Kellner in einem einfachen Lokal (Kap. 6), überhaupt lebt die Familie in bescheidenen Verhältnissen in München.

Da nun seine Eltern nicht einverstanden sind, verlässt Lukas an seinem Geburtstag heimlich die Wohnung, ausgestattet mit einem Buch von Samuel Beckett (Warten auf Godot), dessen Werke ihn irgendwie ansprechen, auch wenn er nicht viel zu verstehen scheint.
Es ist Mitte August, mitten in den Schulferien also.

Auf einer Rolltreppe, die er in verkehrter Richtung läuft, verhakt er sich mit dem Blindenstock eines Mädchens und purzelt die Treppe herunter (Kap. 3-5). Das Mädchen heißt Sonja, ist 17, selbstbewusst, sieht gut aus und beeindruckt ihn so, dass er sie in dem Café aufsucht, wo sie stundenweise als Bedienung arbeitet (Kap. 8). Die Tatsache, dass dies trotz Blindheit zu gehen scheint, beschäftigt Lukas sehr.

Sonja und ihre Freundin nehmen Lukas dann mit ins Freibad, wo er fast ertrinkt und ausgerechnet von Sonja gerettet wird. Das beschäftigt und verwirrt ihn natürlich noch mehr, vor allem, da er sich nicht an den genauen Hergang erinnern kann. (Kap. 11)

Lukas verbringt die Nacht im Freien, bei dem Versuch, mit geschlossenen Augen durch die Stadt zu gehen, fällt er in einer U-Bahn-Station die Treppen hinunter und trägt einige Schrammen im Gesicht davon. (Kap. 12)

In diesem Zustand taucht er bei Sonja zuhause auf. Deren Mutter ist etwas befremdet, verlässt dann aber die Wohnung lässt die beiden allein. Es kommt zum ersten Kuss (Kap. 14) und schließlich sogar zu einer Art Liebesakt (Kap. 15). Immer ist Sonja die aktive, er selbst macht einen eher hilflosen und verstörten Eindruck. Es ist ihm - wie auch dem Leser - einfach nicht klar, was diese Sonja ausgerechnet an ihm, dem rothaarigen, störrischen und maulfaulen Halbwüchsigen findet.

Endlich aber scheint sich ein längeres und aufschlussreicheres Gespräch zu entspinnen, in dem er erfährt, worin seine Attraktivität für Sonja bestanden hat: Der Geruch. Lukas ist verliebt und verwirrt und seine Gedanken kreisen um die Frage, ob sie jetzt ein Paar sind. Was würden die anderen denken, seine Klassenkameradinnen und Kameraden? (Kap. 16)

Ab hier wird nichts mehr verraten, sondern zum Selberlesen aufgefordert!

Kurz-Kommentar: Die Geschichte wird von Lukas selbst erzählt, in seiner Sprache, mit seinen immer wieder sehr originellen Vergleichen und Formulierungen. Der Leser ist sehr dicht an seiner Art, die Dinge zu erleben dran, er teilt mit ihm die Ratlosigkeit und auch Widerspenstigkeit.
Schön ist diese Ratlosigkeit mit der Sicherheit und dem Selbstbewusstsein der Behinderten Sonja kontrastiert, Friedrich Ani konstruiert hier absichtsvoll eine Umkehrung der Verhältnisse: Der Sehende ist auf die Blinde angewiesen, sie erschließt ihm eine weitere Sinnenwelt, als er bisher besaß. Dass dies ohne Verkitschung möglich ist, liegt an der konsequent umgesetzten Ich-Perspektive. Dass das Blindsein dennoch keine höhere Lebensform ist, sondern ein nicht geringes Lebensproblem, wird schließlich doch noch in den Ausführungen von Sonjas Mutter deutlich: "Sie hat Angst, manchmal panische Angst vor allem, was kommt .." (S. 199).
Man kann den Roman als einen Initiationsroman lesen, es ist nicht der 14. Geburtstag, der Lukas weiterbringt, auch nicht das dreitägige Herumstreunen in der Stadt, sondern die Begegnung mit Sonja, die ihn zwingt, seine bisherige Weltsicht zu hinterfragen und schließlich umzustülpen. Sie dreht ihn sozusagen um, ohne sich selbst zu verändern.

Eine schöne Geschichte. Sie könnte im Zusammenhang mit einem anderen Jugendroman gelesen werden, der vom Blindsein handelt: Jaap ter Haar (1922-98): Behalt das Leben lieb (1973). Er erzählt von einem Fahrradunfall, bei dem der 13-jährige Beer erblindet; mit diesem neuen Lebenszustand muss er jetzt zurechtkommen, in jeder Hinsicht, und nicht nur er, sondern seine Familie, seine Freunde, seine Schule. Vergleiche bieten sich, was die Art und Weise der Themenpräsentation angeht, oder auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Perspektiven. Insbesondere die Frage, ob es für Blinde eigene Schulen geben soll oder nicht, könnte in Zeiten europaweiter "Inklusion" sehr wichtig sein.


Sekundärliteratur: Besprechungen, Unterrichtsvorschläge, Links:

  • Der Deutsche Taschenbuch Verlag (dtv) bietet ein kostenloses "Unterrichtsmodell (pdf) für die Klassen 8-10 zum Download an, erarbeitet von Steffen Ulrich Keim.
  • In der Reihe in:Deutsch ist ein ganzes Heft dem Roman "Wie Licht schmeckt" von Friedrich Ani gewidmet, dort für Klassen 7/8.
    "In dieser Ausgabe von ":in Deutsch" finden Sie alle Arbeitsmaterialien, die Sie für die Behandlung dieser Lektüre im Unterricht einer siebten oder achten Klasse benötigen. Die Arbeitsblätter werden ergänzt durch zwei Farbfolien zum Handlungsgang bzw. zum Phänomen der Synästhesie."
  • Friedrich Ani in der Wikipedia

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